Der Kirchenreformplan eines Freundes von Machiavelli

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Auf Krisen der römischen Kirche reagieren Kritiker nicht erst heute mit dem Ruf nach einer Reform „an Haupt und Gliedern“. Schon im fünfzehnten Jahrhundert gebrauchte Nikolaus von Kues die Formel, als der intellektuelle Kardinal auf Bitten seines Freundes Papst Pius II. (1458 bis 1464), des Humanisten mit dem bürger­lichen Namen Enea Silvio Piccolomini, einen Fahrplan zur allgemeinen Kirchenreform verfasste. Die Krise des päpst­lichen Rom war allumfassend: Das Projekt einer ebenso theologischen wie geopolitischen Wiedervereinigung der westlichen und der orthodoxen Christenheit war soeben vollständig gescheitert. Es hätte eine gemeinsame ost-westliche Verteidigung Konstantinopels wider das weitere Vorrücken des Osmanischen Reichs nach Europa motivieren sollen. Doch die auf dem „Unionskonzil“ von Ferrara/Florenz (1438/39) vom byzantinischen Kaiser zunächst akzeptierten Dekrete samt Aner­kennung des päpstlichen Primats waren daheim von den Patriarchen der Ostkirche von Byzanz bis Moskau abgelehnt worden. Und mangels substanzieller militärischer Unterstützung der Westmächte fiel im Jahre 1453 das „zweite Rom“ unter dem Ansturm der Truppen von Sultan Mehmed II., „dem Eroberer“.

Im Westen riskierte der Papst unterdessen, zum Spielball der konkurrierenden Monarchien Frankreich und Spanien zu werden. Über die Besetzung von Kardinalsposten und Bischofssitzen in Italien entschieden vornehmlich die Konflikte zwischen verfeindeten Adelsclans. Gegen diese Verweltlichung müsse sich die Una sancta unbedingt geistlich, also innerlich erneuern, lautete das Postulat des Cusanus. Die Kirche, als mystischer Leib Christi, sollte „christusförmig“ reformiert werden. Die „Augen“ ihres institutionellen Corpus seien verdunkelt, sämtliche kirchlichen Leitungsorgane und Kom­munikationskanäle waren von Klientel­interessen blockiert oder durch politische Kor­ruption verstopft, also galt es, die Kirche Christi durch Abschaffung aller Pfründe und Sonderprivilegien rigoros zu säubern, „in capite et in membris“.

Der deutsche Kardinal forderte Transparenz, Durchlässigkeit und Responsi­vität auf allen Ebenen der Hierarchie, vor allem die Abschaffung aller Sondergenehmigungen. Pius II. hat nichts von seinen Vorschlägen umgesetzt. Papst Piccolomini träumte weiterhin vom neuen Kreuzzug des Westens wider die Türken. Vergeblich.

Kein Reforminteresse bei Clemens VII.

Ein Jahrhundert später war die Krise des Papsttums keinesfalls überwunden. Vor aller Augen hatte der Sacco di Roma 1527 die fortwährende Abhängigkeit des römischen Pontifex von den christlichen Großmächten Europas demonstriert, als sich im spanisch-französischen Krieg, der auf italienischem Boden geführt wurde, die Landsknechte Kaiser Karls V. ein Jahr lang in Rom für ausgebliebene Sold­zahlungen schadlos hielten. Vergeblich drängte der Kaiser Papst Clemens VII. (1523 bis 1534) dazu, ein allgemeines Konzil einzuberufen, um die gespaltene Christenheit zu einen. Nördlich der Alpen hatte die protestantische Reformation zum Bruch des christlichen Europas geführt: Gut ein Drittel des Abendlandes trennte sich von Rom. Doch der Medici-Papst Clemens zeigte an einer Kirchen­reform kein Interesse, politisch manövrierte er hin und her zwischen einem Bündnis mit Frankreich und der Allianz mit Spanien. Erst im Jahre 1545 sollte dann sein Nachfolger Paul III. (1534 bis 1549), ein Papst der Farnese-Familie, ein Konzil einberufen; es tagte im kaiserlichen Trient (also nicht im Kirchenstaat) und musste mehrfach unterbrochen werden.

Im Vorfeld waren diverse Reformvorschläge diskutiert worden, der bekannteste stammte von Gasparo Contarini, einem venezianischen Patrizier und Kardinal. Sein „Consilium de emendanda Ecclesiae“ von 1537 ging in eine ähnliche Richtung wie der Vorschlag einer Reformatio generalis, den Nikolaus Cusanus ein Jahrhundert zuvor gemacht hatte. Auch Contarinis Projekt zielte darauf, die in den höheren Etagen der Kirchenhierarchie verbreitete Akkumulation von Ämtern und Pfründen zu unterbinden. Bis dato waren diese abhängig von den Interessen des jeweiligen Pontifex, der mit solcher Ämterver­gabe nicht zuletzt eigene Verwandte oder Verbündete begünstigen, belohnen und an sich binden konnte. Doch diesen Weg einer Reform der kirchlichen Berufungspraxis sollte das Tridentinische Konzil nicht einschlagen. Er hätte die Macht des Papstes in der Personalpolitik emp­findlich beeinträchtigt.

An den Wänden der Piccolomini-Bibliothek im Dom von Siena wird das Leben von Papst Pius II. erzählt. Hier malte Pinturicchio die Erhebung Enea Silvios zum Kardinal.
An den Wänden der Piccolomini-Bibliothek im Dom von Siena wird das Leben von Papst Pius II. erzählt. Hier malte Pinturicchio die Erhebung Enea Silvios zum Kardinal.Wikimedia Commons / CC BY 3.0

Stattdessen widmete sich das Konzil vornehmlich der dogmatischen Definition des rechten Glaubens, einer Vereinheitlichung der kirchlichen Doktrin, der Standards für die Priesterausbildung und der Sakramentendisziplin der Gläubigen. Damit formatierte das Tridentinum jene Normen katholischer Rechtgläubigkeit und kirchlicher Praxis, welche die katholische Identität für die nächsten Jahrhunderte strukturierten.

Ein Fund in einem Handschriftenantiquariat

Gab es auch Reformvorschläge, die weniger auf spirituelle Erneuerung zielten oder auf konfessionelle Gesinnung, sondern das institutionelle Design der Papstmonarchie betrafen? Ein bislang unbekannter Text mit dem Vorschlag einer konstitutionellen Reform aus den Vier­zigerjahren des fünfzehnten Jahrhunderts wurde unlängst in einem italienischen Handschriftenantiquariat entdeckt, vermutlich die erste moderne, zudem von einem Nichtkleriker verfasste Kirchengeschichte. Donato Giannottis Schrift „Della Republica Ecclesiastica“ ist 2023 im Verlag Einaudi von ihrem Finder, dem amerikanischen Renaissance-Historiker William J. Connell, in einer exzellenten kritischen Edition veröffentlicht worden.

Donato Giannotti (1492 bis 1573) war in der politischen Ideengeschichte vornehmlich als junger Freund Niccolò Machiavellis bekannt, der eine Geschichte der venezianischen Republik verfasste, gedruckt 1540. Wie Machiavelli vor ihm war Giannotti in der Republik Florenz Sekretär des Rats der Zehn gewesen, unter anderem verantwortlich für die Organi­sation der Bürgermilizen; nach der Krise der Republik lebte er überwiegend im Exil. Dort entstand auch sein zweites „republikanisches“ Buch „Della Repubblica Fiorentina“, in dem Giannotti für Gleich­gesinnte die erhoffte republikanische Erneuerung seiner Heimatstadt skizzierte, die ihn 1530 verbannt hatte. Veröffentlicht wurde diese Programmschrift freilich erst gut zweihundert Jahre später. John Pocock widmete in „The Macchiavellian Moment“ (1975), seiner klassischen Darstellung der florentinischen Ursprünge der westlichen „republikanischen Tra­di­tion“, ein Kapitel auch Donato Gian­notti.

Dass Giannotti freilich nach der Geschichte Venedigs und seiner Analyse des politischen Systems von Florenz noch ei­ne dritte „republikanische“ Geschichte über die „geistliche und weltliche“ Re­gierungsform der katholischen Kirche abfasste, samt dem Vorschlag zur zeitge­nössischen Reform der Papstmonarchie, war vor William Connells Entdeckung des Originaltextes völlig unbekannt. Die Schrift „Della Republica Ecclesiastica“ entstand in Rom, am Hof eines ande­ren prominenten Florentiner Exilanten: Kardinal Niccolò Ridolfi (1501 bis 1550), wie Giannotti überzeugter Anhänger der republikanischen Staatsform und damit Geg­ner der Medici-Monarchie, hatte Gian­notti als Hausintellektuellen bei sich aufgenommen und schätzte offenbar seine unabhängige Expertise. Giannottis Manuskript steht somit im Kontext der Reformdiskussionen im Vorfeld des Konzils von Trient. Der Florentiner Kardinal Ridolfi gehörte wie sein venezianischer Kollege Contarini und der Brite Reginald Pole zu den Reformbefürwortern – ganz im Gegensatz zu Kardinal Gian Pietro Carafa, einem Doktrinär, der auch unter katholischen Kardinälen überall gefährliche Abweichler und Kryptoprotestanten vermutete. (1555 sollte dann aus­gerechnet dieser Inquisitor als Paul IV. zum Papst gewählt werden.)

Theoretiker der Gewaltenteilung

Giannottis Konsequenzen aus der Kirchengeschichte zielen nicht auf eine „spirituelle“ Therapie der katholischen Hierarchie wie die der meisten „tridentinischen“ Reformkardinäle; auch sein Interesse an der Kirchengeschichte gilt nicht Kontro­versen in der katholischen Theologie (er hakt die Abfolge dogmatischer Streitfälle und Häresien nur gewissermaßen pflichtschuldigst ab, ebenso wie die entsprechenden Beschlüsse vergangener Konzilien). Als früher Theoretiker der Gewaltenteilung in (welt­lichen) Republiken befürwortet Giannotti auch im letzten Kapitel seiner „Republica Ecclesiastica“ (XVIII: „Come emendare la Chiesa Romana“) eine Art mixed government, das an die Stelle der unkon­trollierten Monokratie des Bischofs von Rom treten soll.

Dieses Porträt von Kardinal Niccolò Ridolfi (1501 bis 1550) malte Pier Simone Vannetti erst 1723.
Dieses Porträt von Kardinal Niccolò Ridolfi (1501 bis 1550) malte Pier Simone Vannetti erst 1723.Wikimedia Commons

Entscheidend für ei­ne erfolgreiche Kirchenreform war nach Giannottis Konzept eine Neuverteilung der Machtkompetenzen: Nicht mehr der Papst solle künftig die Auswahl der Ortsbischöfe vornehmen, diese sollten vielmehr (wie in der Alten Kirche) vom Volk und Klerus gewählt werden; auch sollten sie ihre Ernennung nicht mehr vom römischen Pontifex erhalten, sondern vom versammelten Kardinalskonsistorium.

Die Kardinäle als leitende Funktionäre der Regierung von Kirche und Kirchenstaat und Wahlmänner im Konklave sollten künftig nicht mehr allein vom Papst ernannt werden, vielmehr solle sich das Kardinalskollegium durch Kooptation ergänzen – in offener Versammlung, mit Diskussion und Abstimmung. Damit wäre das Kardinalskonsistorium (analog zum Senat in der römischen Republik) zum obersten Organ kirchlicher Deliberation und Entscheidung geworden – auch über Verwendung und Aufteilung aller kirch­lichen Einnahmen und Besitztümer.

Der Doge als Vorbild

Offenkundig stand hier das Modell der venezianischen Serenissima Pate, die Gian­notti gut kannte. Entscheidendes Machtzentrum dieser Seerepublik war der „Senat“ der venezianischen Ratsherrn – und ähnlich wie der Doge als Staatsoberhaupt in Venedig sollte in Rom ein repu­blikanisch legitimierter und kontrollierter Papst nur noch eine zeremonielle Rolle behalten: er allein verkörperte dann den kirchlichen Gesamtauftrag, wäre aber kein Alleinherrscher mehr; den Kardinälen im Konsistorium gebührte die letzte Entscheidungsgewalt.

Und das kirchliche Lehramt? Von dogmatischen Kompetenzen Roms ist in Gian­nottis Entwurf nicht die Rede. Sie scheinen den republikanischen Verfassungsingenieur auch kaum beschäftigt zu haben.

War Giannottis Plädoyer für ein repu­blikanisches Papstamt ein reines Gedankenexperiment? Hatte es Verwirklichungschancen? Im Schlusswort setzt der Florentiner Verfassungsdenker alle seine Hoffnungen auf den Auftraggeber seines Gutachtens. Sollten „Ihre allerdurchlauchtigste Hoheit“, Kardinal Ridolfi, durch Gottes Gnade jene höchste Stufe in der Kirche erreichen, dann – des sei der Autor fast gewiss – werde dieser Pontifex sich nicht um eigene Macht und persön­lichen Reichtum scheren. „Auf dass die anderen vermögen, wird dieser sich nicht um die eigene Macht kümmern“, kurz: aus christlicher Nächstenliebe werde dieser Papst selbst seine Universalvollmacht einschränken. War das bloß Schmeichelei Gian­nottis an den Mäzen seines Forschungsauftrags?

So unwahrscheinlich es uns vorkommt, und Herausgeber William Connell verhehlt sein Erstaunen nicht: Kardinal Nicola Ridolfi, der im Konklave auch von seinem getreuen Intellektuellen Giannotti begleitet wurde, hatte tatsächlich gute Chancen, zum Papst gewählt zu werden. Vor dem Konklave von 1549 gehörte er zur Gruppe der Befürworter einer Kirchenreform, wie Contarini und Pole; ja, aufgrund einer (entfernten) Verwandtschaft mit den Medici erschien dieser Exilflorentiner aus der Sicht Frankreichs durchaus als akzeptabler Kandidat. Nach dem Tod Pauls III. im November 1549 klagte dann der Doktrinär Carafa Pole als aussichtsreichsten „spirituellen“ Kan­didaten des Reformlagers offen der Häresie an, wodurch er dessen Wahl zum Papst definitiv blockierte. Damit wurde nun Kardinal Ridolfi auf einmal ein aussichts­reicher Papabile: weder vonseiten Frankreichs noch von Karl V. gab es prinzipielle Einwände wider den Flo­rentiner. Bis Mitte Januar 1550 stiegen seine Chancen; doch dann erkrankte der Kardinal plötzlich, mit starken Schmerzen in der Brust. Noch am 25. Januar 1550 galt seine Wahl als höchstwahrscheinlich – doch am 31. Januar starb Ridolfi, bevor er ins Konklave zurückkehren konnte.

Der Chirurg, der Ridolfis Autopsie vornahm, identifizierte als Todesursache Vergiftungen in Eingeweiden und Leber. Wurde der Florentiner Kardinal etwa vergiftet, weil er Republikaner war? Und von wem? Fakt oder Fiktion? Jedenfalls hatten die Reformideen, die Giannotti seinem Kardinal auf den Leib geschrieben hatte, keinerlei Chancen mehr, vom Throne Petri verkündet und (vielleicht) umgesetzt zu werden.