Mit Respekt ins Kanzleramt, mit Respect wieder raus

5

Als Kanzler abgewählt, kein sozialdemokratisches Jahrzehnt in Sicht – und dann sollte Olaf Scholz auch noch etwas sagen zur Po­litik seines mutmaßlichen Nachfolgers. Was er halte von den Sondervermögensplänen von Friedrich Merz, wurde er Anfang März in Brüssel vor dem Euro­päischen Rat von Journalisten gefragt. Scholz schaute ernst in die Kameras. Und fand dann ziemlich nette Worte.

Er sei „sehr froh“ darüber, dass nun ein Konsens zu wachsen scheine, dass mehr Geld ausgegeben werden müsse für die Ankurbelung der Wirtschaft und die Verteidigung. Und dass das nicht auf Kosten des Zusammenhalts gehen dürfe. Schließlich habe er seine Ampelkoalition beendet, weil es nicht möglich gewesen sei, diesen Konsens im Hinblick auf die Unterstützung der Ukraine herzustellen, sagte der Nochbundeskanzler. Und da sei es ja um viel weniger Geld gegangen als jetzt. Dann hängte Scholz noch einen typischen Scholz-Satz dran: „Wir brauchen genau das, was wir jetzt gerade tun.“ Und: „Das gefällt mir.“

Moment, Olaf Scholz lobt Friedrich Merz? Hatte der Sozialdemokrat nicht noch kurze Zeit zuvor auf dem Weg zur Bundestagswahl Merz vorgeworfen, den Wählern nicht die ganze Wahrheit zu sagen und sich der AfD zuzuwenden? Wer hat denn hier jetzt eine Wende voll­zogen? Scholz, weil er sich nach einem überhitzten Wahlkampf wieder gefangen hat? Oder Merz, weil er jetzt die Politik macht, für die seinem Vorgänger schlicht die Zeit fehlte? Macht am Ende Merz Scholz’sche Politik, nur mit anderen – und deutlich mehr – Mitteln?

In der Reihe der Kurzzeitkanzler

Scholz gehört zwar nun der Reihe der Kurzzeitkanzler an, nach den CDU-Po­litikern Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger. Aber die drei Jahre der Ampelkoalition, deren gelbes Licht am Ende erlosch, waren sehr ereignisreich. Was hat diese Zeit geprägt, wie hat sie vielleicht sogar das ganze Land verändert? Was wird also überdauern und auch ei­nen Einfluss haben auf die neue Merz-Zeit? Schließlich: Warum ist die Sache schiefgegangen?

Beschreibungen der Kanzlerschaft von Scholz lassen sich gut mit dem 24., besser noch mit dem 27. Februar 2022 beginnen. Den beiden Tagen, an denen der russische Präsident Wladimir Putin den großen Angriff auf die Ukraine startete und anschließend der noch nicht einmal ein Vierteljahr im Amt befind­liche deutsche Kanzler darauf reagierte.

Scholz hatte nach Beginn des Überfalls sofort intensive Gespräche im engsten Kreis darüber geführt, was das größte Land der Europäischen Union nun zu tun habe, und er hatte für den 27. Februar eine Sondersitzung des Bundestages anberaumen lassen. Der Plenarsaal war voll, die Verunsicherung unter den Par­lamentariern so groß wie in der Bevöl­kerung. Was würde passieren? Wann wäre Kiew erobert? Wie schnell würden die russischen Truppen weiter nach Westen vorstoßen? Wann wäre die NATO-Grenze erreicht? Wie viel Gefahr drohte Deutschland? Diese Fragen bewegten die Republik.

100 Milliarden, eine einst atemberaubende Summe

Es war der Moment, an dem Olaf Scholz sein großes Versprechen einzulösen schien. Wer bei ihm Führung bestelle, bekomme sie auch, pflegte er zu sagen. Nun, da ein verunsichertes Land, eine verunsicherte Koalition auf Führung im Angesicht des Krieges wartete, kündigte der sozialdemokratische Bundeskanzler an einem Sonntag an, dass Deutschland fest an der Seite der Ukraine stehen und diese in ihrem Kampf gegen den Aggressor auch mit Waffenliefe­rungen unterstützen werde.

Das war die eigentliche Sensation, weil Deutschland sich bislang mit Waffenlieferungen an Kriegsparteien zurückgehalten hatte. Aber damit bei Weitem nicht genug: Scholz versprach, die damals noch für einen kurzen Atemstillstand sorgende Summe von 100 Milliarden Euro für die militärische Ertüchtigung Deutschlands aufwenden zu wollen. Mit einer Zeitenwende, die stattfinde, begründete er das.

Der Begriff wird für die größte Leistung des Bundeskanzlers Olaf Scholz stehen. Es war nicht nur eine Zeitenwende, weil der Krieg mit viel größerer Wucht als um die Jahrhundertwende auf dem Balkan nach Europa zurückgekehrt war. Es war eine Zeitenwende in der deutschen Politik.

Der Bundeskanzler macht sich daran, die Versäumnisse der zurückliegenden Jahre, in dem die christdemokratische Kanzlerin Angela Merkel hieß und ihr Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz, zu korrigieren. Zwar hatte jener Finanzminister Scholz für einen Aufwuchs des Verteidigungshaushalts gesorgt. Doch leisteten seine Genossen hartnäckigen Widerstand ge­gen große Schritte, und auch Merkel verkämpfte sich keineswegs, um die Wehrfähigkeit des Landes im erforderlichen Maß zu erhöhen. Nun also sollte die Wende kommen.

Oppositionsführer Merz blieb Scholz nicht gewogen

Anfangs applaudierte sogar die Opposition, namentlich deren Anführer Friedrich Merz, der Scholz damals schon nach dem Amt trachtete, aber nicht erwarten konnte, dass er es so früh bekommen würde. Der Vorsitzende der CDU und der Unionsfraktion sorgte dafür, dass seine Partei und die CSU die Stimmen beisteuerten, die die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP brauchte, um die Zweidrittelmehrheit für die Verfassungsänderung zu bekommen, die für den 100-Milliarden-Schuldentopf erforderlich war. Es sah so aus, als hätte Olaf Scholz gleich zu Beginn seiner Kanzlerschaft jenen großen Moment, den seine sozialdemokratischen Vorgänger Brandt, Schmidt und Schröder mit der Ostpolitik, dem NATO-Doppelbeschluss und der Agenda 2010 hatten.

So schwer die politische Erschütterung durch Putins Krieg war, so konnte Olaf Scholz doch mit seinem Start zufrieden sein. Denn die Konzentration auf das Thema Ukraine lenkte zugleich von seiner ersten schweren Niederlage genau zu diesem Zeitpunkt ab. Als Scholz im Dezember 2021 zum Kanzler gewählt wurde, war die Corona-Pandemie noch sehr präsent. Das erste große Vorhaben der Koalition – oder eines Teils von ihr – war die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht. Scholz zögerte zwar zunächst, sich öffentlich hinter den entsprechenden parlamentarischen Vorstoß zu stellen. Schließlich tat er es aber doch. Noch wenige Tage vor Putins Überfall auf die Ukraine hatte er sich auf einem G-7-Gipfel in einer Pressekonferenz für eine Corona-Impfpflicht ausgesprochen. Er tat das in der Hoffnung und Annahme, es werde eine Mehrheit dafür geben, und auch die Opposition werde dabei mit­helfen.

Das sollte sich als Irrtum erweisen. Bei der Abstimmung über eine Impfpflicht im Bundestag am 7. April fielen alle fünf Vorschläge, die zustimmend wie ablehnend eine Impfpflicht zum Gegenstand hatten, durch. Vor allem aus der FDP, also aus der Koalition heraus, wurde der Widerstand geführt. Allen voran vom Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Ku­bicki.

Die gefährliche Schwachstelle der Ampel

Scholz konnte früh erkennen, an welcher Stelle sein Bündnis die gefährlichste Schwachstelle hat. Sie sollte sich zweieinhalb Jahre später als Bruchstelle erweisen. Die Union wandte sich ebenfalls ge­gen eine Impfpflicht. Auch hier konnte der Kanzler sehen, dass die Zustimmung von CDU und CSU zum Sondervermögen für die Bundeswehr nicht der grundsätz­lichen Kooperationsbereitschaft, sondern dem konkreten Fall geschuldet war. Vielmehr meinte Friedrich Merz es immer ernst mit der Oppositionsrolle.

Bevor letztlich diese beiden Webfehler der politischen Welt des Olaf Scholz zum frühzeitigen Ende seiner Am­pelkoalition führten, begannen für ihn nach der viel gelobten Rede zur Zeitenwende die Mühen der Ebene. Der Krieg überlagerte alles. Scholz suchte die Balance zwischen der Lieferung immer schwererer Waffen an die Ukraine und der Langsamkeit, die viele Parteifreunde ebenso erwarteten wie viele Deutsche. Bis zum Schluss konnte er sich nicht durchringen, der Ukraine den Sieg und Russland die Niederlage zu wünschen. Sein Kompromiss hieß: Putin darf nicht gewinnen.

Bei den Waffen war er jedenfalls zögerlicher als beim Gas. Trotz der Entscheidung des Kremls, Berlin den Hahn zuzudrehen, gelang es der Ampel in einem enormen Kraftakt, den Deutschen einen Winter in gewohnt beheizten Wohnungen zu gewährleisten. Der von den Grünen kommende Wirtschaftsminister Robert Habeck spielte dabei eine wichtige Rolle.

An anderer Stelle wurden Habeck und sein Ministerium jedoch zum großen Pro­blem für Scholz. Der Minister hatte den Energiewendelobbyisten Patrick Graichen zum Staatssekretär in seinem Haus gemacht und ihn ein Gebäudeenergie­gesetz schreiben lassen. Nicht zuletzt weil der Entwurf für dieses Gesetz in einem sehr frühen Stadium in die Boulevardpresse gelangte, breitete sich schnell Panik aus, dass durch „Habecks Heizungs-Hammer“, wie das Gesetz bisweilen genannt wurde, im großen Stil funktionie­ren­de Öl- und Gasheizungen aus den deutschen Kellern gerissen und gegen Wärmepumpen ausgetauscht werden müssten.

Alle Beschwichtigungsversuche und Änderungen am Gesetzesplan verhinderten nicht den Eindruck, dass Scholz mit Ökoideologen das Land auf den Kopf stellen wollte – oder diese zumindest nicht bremsen konnte.

Sturmreif geschossen vom Bundesverfassungsgericht

Endgültig sturmreif geschossen wurde die Ampelkoalition dann im November 2023 durch das Bundesverfassungsgericht. Oder durch Friedrich Merz und die Unionsfraktion. Oder letztlich durch sich selbst. Karlsruhe hatte auf Antrag der Unionsfraktion geprüft, ob die Nutzung von nicht gebrauchten Corona-Kreditermächtigungen für andere Zwecke zulässig war.

Die Antwort des Gerichts war ein Nein, das den Boden unter dem Kanzleramt und der gesamten Koalition er­zittern ließ. Im Haushalt der Ampel klaffte auf einmal ein gigantisches Milliardenloch. Im Streit darüber, wie dieses zu stopfen sei, versicherte Merz, dass die Union jedenfalls an der Schuldenbremse festhalten wolle. Bekanntlich kam es zum großen Ärger von Scholz später anders. Doch das nur als Fußnote. Im Streit übers Geld setzte Scholz seinen Finanzminister Christian Lindner vor die Kabinettstür. Die Ampel zerbrach. Bis zur vorzeitigen Bundestagswahl sollte es nur etwas mehr als drei Monate dauern.

Auch andere Kanzler hatten Krisen. Was sie aber auch hatten: gute Beliebtheitswerte. Olaf Scholz war ein in der Bevölkerung geschätzter Finanzminister, ebenso Kanzlerkandidat. Auch zu Beginn seiner Kanzlerschaft sahen die Beliebtheitswerte noch gut aus. Doch irgendwann konnte Scholz dem Negativimage seiner Koalition nichts mehr entgegensetzen.

International lief es ebenfalls durchwachsen. Das Fischbrötchen wurde zum Symbol für das mindestens komplizierte Verhältnis zwischen Scholz und Emmanuel Macron. Der Kanzler hatte den französischen Präsidenten mit seiner Frau Brigitte im Oktober 2023 nach Hamburg eingeladen, gereicht wurde Bismarck­hering mit viel Zwiebel.

Das deutsch-französische Problem

Jenseits aller kulinarischen und persönlichen Verschiedenheiten gab es auch enormen Dissens in der Sache. Die deutsch-französische Freundschaft drohte zwischenzeitlich am Ukrainekrieg zu zerbrechen. Paris und Berlin stritten über Bodentruppen und die deutsche Verweigerung, Taurus-Marschflugkörper nach Kiew zu liefern. Das belastete ganz Eu­ropa. Auch mit den polnischen Nachbarn lief es nicht gut. Zur Europäischen Union und ihren politischen Anführern hatte Scholz ein lauwarmes Verhältnis. Gut verstand er sich eigentlich nur mit Joe Biden, als der noch amerikanischer Präsident war.

Das Belebende, Emotionale fehlte auch vielen in der SPD. Sie merkten es vielleicht selbst erst so richtig, als Boris Pistorius im Januar 2023 die bundespolitische Bühne betrat. Pistorius wurde in den Augen der Bevölkerung schnell zum Star der Sozialdemokraten, aber diese Rolle war für ihn in der Partei nicht vorgesehen. Scholz bremste ihn aus, in der Fraktion setzte sich niemand ein für sein Wehrdienstmodell. Die SPD kam aus dem Umfragekeller nicht heraus.

Einmal noch war die Begeisterung für Scholz in der SPD groß: eben in dem Moment, in dem er Christian Lindner aus der Regierung warf. Ein Befreiungsschlag – auf den aber gleich die bange Frage folgte: Mit wem sollen wir denn die Wahl gewinnen? Es folgten Wochen der Ungewissheit, die Scholz zusätzlich schwächten. Tapfer zog er durch den Wahlkampf, der von Attentaten erschüttert wurde, die Migranten begingen. Scholz versprach, dass er solche Taten nicht akzeptieren werde. Doch seine Worte, auch die Warnungen vor einer mit der AfD zusammenarbeitenden CDU, verhallten weitestgehend.

Mit „Respect“ raus aus dem Kanzleramt

Am 23. Februar, dem Wahltag, fasste Scholz nüchtern zusammen: Beim letzten Mal war das Ergebnis besser. Der SPD blieb nicht viel Zeit zum Trauern, schließlich muss sie wieder in der Regierung ran, diesmal aber als Juniorpartner, und ohne Scholz. Was Lars Klingbeil, der durch die Niederlage von Scholz weiter in der SPD aufstieg, kurz danach sagte, hat Scholz vielleicht auch gedacht: Ich musste meine Meinung im Laufe der Verhandlungen mit der Union nicht ändern. Die CDU sei es stattdessen, die sich an die Realität anpassen und ihr Schuldenverbrechen kippen muss. Scholz vertrat bis zum Ende die Meinung, in der Sache richtig gehandelt zu haben, vielleicht mit Defiziten in der Kommunikation. Insofern fiel es ihm wohl nicht schwer, die Politik, die Union und SPD nach der Wahl aufs Gleis setzten, zu loben. So ist Olaf Scholz eben auch: an der Sache orientiert.

Man meinte sogar, an Scholz eine neue Form der Entspanntheit feststellen zu können, als der Wahlkampf endlich vorbei war. Er empfing die Spitzenleute von CDU, CSU und SPD im Kanzleramt. Scholz und Merz konnten dabei in angenehmer Atmosphäre miteinander reden, hieß es von beiden Seiten. Scholz durfte Klingbeil noch ein paar Ratschläge während der Koalitionsverhandlungen geben. Dann standen plötzlich Umzugskartons in den Büros des Kanzleramts.

Am Montagabend wird der Stabsmusikkorps der Bundeswehr bei Fackelschein drei Lieder spielen, die sich Olaf Scholz für den Großen Zapfenstreich gewünscht hat. Der Song „Respect“ ist darunter, im Original von Otis Redding, berühmt geworden durch Aretha Franklin. Mit dem Schlagwort „Respekt“ gewann Scholz die Bundestagswahl 2021. Dann ein Auszug aus dem „2. Brandenbur­gischen Konzert“ von Johann Sebastian Bach. Scholz wohnt in Potsdam und ist Brandenburger Bundestagsabgeordneter. Und schließlich noch ein Song von den Beatles. In „In my life“ geht es um die Rückschau auf ein Leben, und die Erkenntnis: Die Erinnerung ist schön, die Liebe aber ist schöner. Am Dienstag­vormittag wird der neue Bundeskanzler gewählt. Am Nachmittag übergibt der alte Bundeskanzler ihm die Amtsgeschäfte.