Der GAU an Tag eins

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Das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegeben: Obwohl sich drei Parteien auf einen Koalitionsvertrag und ein Bundeskabinett geeinigt haben und über die notwendige Mehrheit im Bundestag verfügen, fällt der Mann, der Bundeskanzler werden soll, bei der Wahl durch. Mindestens 18 Abgeordnete der Koalitionsparteien stimmten nicht für Merz.

Sie beschädigten damit nicht nur ihn in denkbar schwerster Weise, sondern auch alle in den Führungsetagen von CDU, CSU und SPD, die für die schwarz-rote Koalition eingetreten waren. Die Langzeitwirkung der Weigerung, den Beschlüssen der Parteispitzen – und im Fall der SPD auch einer breiten Mehrheit der Mitglieder – zu folgen, ist noch gar nicht absehbar.

Weil Merz noch ein Feindbild ist? Oder Denkzettel für Klingbeil?

Da die Wahl des Bundeskanzlers geheim ist, weiß man nicht und wird man wahrscheinlich auch nie wissen, wer nicht für Merz votierte. Auch über die Motive kann man derzeit nur spekulieren. Manche in den Reihen der SPD konnten sich vielleicht immer noch nicht von dem Feindbild lösen, das die Partei im Wahlkampf mit Inbrunst von einem Mann zeichnete, der angeblich das „Tor zur Hölle“ öffnete. Manche könnten Klingbeil einen Denkzettel dafür verpasst haben wollen, dass er Heil und Esken ausbootete.

Auch in den Reihen der CDU gibt es Abgeordnete, die gerne ins Kabinett gerückt wären. Und vielleicht hatte auch der eine oder andere noch eine Rechnung mit Merz oder Klingbeil offen.

So können dann schon knapp zwanzig Stimmen zusammenkommen, die für den designierten Kanzler und seinen Vizekanzler den Unterschied zwischen Triumph und Desaster ausmachen. Möglicherweise wollten manche der Abweichler auch nicht, dass Merz durchfällt, sondern „nur“, dass er nicht die volle Stimmenzahl erhält. Doch nahmen auch sie in Kauf, dass für diese Koalition schon an Tag eins der politische Gau, der größte anzunehmende Unfall, eintrat.

Nicht verstanden, was auf dem Spiel steht

Sollte man nach einem solchen Schock schnellstmöglich zum zweiten Wahlgang übergehen oder den Genossen und Parteifreunden noch einmal sehr ausführlich klar machen, was auf dem Spiel steht? Man kann es nicht fassen, dass manche das immer noch nicht verstanden hatten.

Die zweite Chance, der „historischen Verantwortung“ gerecht zu werden, die auf diesem Bündnis nach eigener Aussage lastet, darf jedenfalls nicht so unverantwortlich vertan werden wie im ersten Wahlgang. Deutschland braucht dringend eine handlungsfähige Regierung, das meinen sogar Oppositionspolitiker. Die von Union und SPD gestellte müsste, auch wenn Merz im zweiten Wahlgang gewählt wird, schwer angeschlagen und mit der Hypothek der unzuverlässigen Mehrheit belastet ans Werk gehen. Alle anderen Wege aus dieser Krise aber würden noch tiefer ins politische Elend führen, nicht nur CDU, CSU und SPD, sondern das ganze Land.