Adolf Hitler wollte Europa unterwerfen, am Ende ging sein “Tausendjähriges Reich” nach zwölf Jahren unter. Historiker Oliver Hilmes erklärt, wie die Menschen den Sommer 1945 erlebten.
Sechs Jahre lang hatte Deutschland Leid und Zerstörung über die Welt gebracht, dann endete am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa: Die deutsche Wehrmacht kapitulierte bedingungslos vor den Alliierten. Das Ende von Krieg und Diktatur war zugleich ein Neubeginn der Freiheit im Sommer 1945, wie der Historiker Oliver Hilmes betont.
Wie erlebten die Menschen das Ende des Zweiten Weltkriegs? Wie verhielten sich die noch lebenden Nazi-Verbrecher? Und welche Lehren für die Krisen der Gegenwart können wir aus dem Jahr 1945 ziehen? Diese Fragen beantwortet Oliver Hilmes, Autor des Buches “Ein Ende und ein Anfang. Wie der Sommer 45 die Welt veränderte”, im Gespräch.
t-online: Herr Hilmes, am 8. Mai 1945 verkündete US-Präsident Harry S. Truman, dass über Europa die “Banner der Freiheit” wehen würden: Die deutsche Wehrmacht kapitulierte an diesem Tag bedingungslos. Welches Spektrum an Gefühlen spielte sich an diesem Tag ab?
Oliver Hilmes: Es herrschte die ganze Bandbreite an Emotionen. Freude und Erleichterung, Furcht und Schock waren sicherlich die dominierenden Gefühle. Nichts war mehr, wie es gewesen ist: Das verbrecherische “Dritte Reich” der Nationalsozialisten war untergegangen, aber nun verbreitete sich Ungewissheit, was kommen würde. An vielen Orten herrschte allerdings ausgelassene Hochstimmung, so etwa in New York, in London und in Paris, wo die Menschen den Sieg feierten. Aber auch im Konzentrationslager Theresienstadt – wie an anderen Orten nationalsozialistischen Terrors – zunächst Ungläubigkeit, dann Freude.
Die Rote Armee befreite das Konzentrationslager Theresienstadt just an diesem 8. Mai 1945.
Dort erlebten die dreiundzwanzigjährige Margot Bendheim und ihr elf Jahre älterer Freund Adolf Friedländer die Ankunft der sowjetischen Soldaten. Heute ist sie besser als Margot Friedländer bekannt. Das Paar ging am Abend des 8. Mai zur Lagerpforte, sie hätten sie ohne Weiteres überschreiten können, denn die Bewacher waren weg. Aber sie standen endlose Minuten davor und zögerten. Die Befreiung war für Margot Bendheim ein unvergesslicher Augenblick.
Oliver Hilmes, Jahrgang 1971, ist promovierter Historiker und Kurator für die Stiftung Berliner Philharmoniker. Hilmes hat zahlreiche Bücher verfasst, darunter “Herrin des Hügels. Das Leben der Cosima Wagner“, sein Bestseller “Berlin 1936. Sechzehn Tage im August“ wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Kürzlich veröffentlichte Hilmes sein neues Buch “Ein Ende und ein Anfang. Wie der Sommer 45 die Welt veränderte“.
In Ihrem Buch “Ein Ende und ein Anfang” über den Sommer 1945 spüren Sie zahlreichen Menschen und ihren Erlebnissen in dieser Zeit nach. Welches Ziel verfolgen Sie mit diesem Ansatz?
Bücher, die den Weg hin zur deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 beschreiben, gibt es viele. Aber ich wollte ein Buch machen, das sich mit der Zeit nach der Kapitulation beschäftigt. Deswegen beginne ich am 8. Mai 1945 und ende am 2. September 1945.
An diesem Tag kapitulierte im fernen Asien Japan, das nach der deutschen Niederlage weitergekämpft hatte.
So ist es. Ich wollte die Geschichte eines Sommers der Freiheit und des Friedens schreiben, auch wenn im Pazifikraum noch gekämpft wurde. Wichtig war es mir dabei, dass die Protagonisten meines Buches größere Zusammenhänge oder größere Geschichten aus jeweils anderen Blickwinkeln erzählen. Die grundsätzliche Frage besteht darin, wie nach dem Ende der Schreckensherrschaft des nationalsozialistischen Terrorregimes – das Verderben über die halbe Welt und Abermillionen Menschen gebracht hatte – ein Neuanfang aussehen konnte? Für diese Frage gibt es ebenso viele Antworten, wie es Menschen gegeben hat. In meinem Buch lasse ich ihre Stimmen zu Wort kommen.
Die Berliner Hausfrau Else Tietze, damals Anfang 70, hat in der Geschichte keine Spuren hinterlassen. Bis auf ein einziges Dokument, denn sie hat im Frühjahr und im Sommer 1945 Tagebuch geschrieben. Warum? Tietze sorgte sich um zwei ihrer Kinder, wusste nicht, ob sie noch lebten. Niemals zuvor hatte Else Tietze Tagebuch geschrieben, nun begann sie damit, weil ihre Kinder nachlesen sollten, was sie erlebt hatte. Wie Tietze ging es vielen Familien, die sich die Frage stellten: Wer hat am Ende überhaupt überlebt? Else Tietzes Tagebuch ist ungeheuer spannend, denn sie hat aus ihrer Perspektive einer “einfachen” Frau ihre alltäglichen Beobachtungen, Ängste und Hoffnungen notiert. Teilweise ist es geradezu erschütternd. Wie so viele der Geschichten aus dieser Zeit. Besonders das Schicksal von Gustav Senftleben ist dramatisch.
