Man sollte das, was sich am Dienstagabend in Südkorea abgespielt hat, nicht als Schwäche einer Demokratie auffassen, sondern als Zeichen ihrer Stärke: Innerhalb weniger Stunden hat es das Parlament geschafft, den Präsidenten in die Schranken zu weisen; der Verfassung wurde Genüge getan. Tausende Bürger gingen auf die Straße. Die Medien haben sich nicht einschüchtern lassen, als Präsident Yoon Suk-yeol sie unter Militäraufsicht stellen ließ.
Südkorea, dessen bittere Vergangenheit als Militärdiktatur gerade einmal zwei Generationen zurückliegt, hat die Freiheit (fürs Erste) verteidigt. Das ist mehr, als man derzeit von manch anderer westlich geprägter Gesellschaft sagen kann. In Europa und den USA hat zwar in jüngster Zeit niemand versucht, das Kriegsrecht zu verhängen, aber vor der autoritären Versuchung sind dort immer weniger Politiker und Wähler gefeit.
Keine existenzielle Bedrohung erkennbar
Obwohl politische Konflikte in Südkorea üblicherweise nicht mit Samthandschuhen ausgetragen werden, muss man in Yoons Putschversuch gegen die Verfassung vielleicht nicht allzu viel Grundsätzliches hineinlesen. Im Augenblick sieht es mehr danach aus, als sei der Präsident nicht mit den Machtverhältnissen im Parlament zurechtgekommen. Nicht jeder Politiker ist charakterlich so gefestigt, dass er mit Gegenwind souverän umgehen kann.
Genau das spricht allerdings dagegen, dass Yoon im Amt bleibt. Eine unmittelbare existenzielle Bedrohung für den südkoreanischen Staat, die sein Vorgehen irgendwie hätte rechtfertigen können, ist nicht zu erkennen. Im Übrigen lehrt die Geschichte, dass Demokratien auch mit schwierigen Lagen gut fertig werden können. Südkorea ist schon allein deshalb eine gefestigtere und wohlhabendere Gesellschaft als der kommunistische Norden.
Fragen stellen sich an die amerikanische Politik. Biden hat Yoon umschmeichelt und Südkorea zu einem Hauptverbündeten in seinem globalen Bündnis der Demokraten gegen autoritäre Regime gemacht. Südkorea ist zusammen mit Japan ein wichtiger Partner Amerikas zur Eindämmung Chinas. In Südkorea hat sich Biden nicht geirrt, in Yoon aber schon.