Indien und Pakistan: Die Wurzeln des Kaschmirkonflikts

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Nur wenige Tage vor dem Terrorangriff auf indische Touristen im April in Kaschmir hielt der pakistanische Militärchef Syed Asim Munir eine Rede vor Diaspora-Pakistanern in Islamabad. Darin bezeichnete er Kaschmir als „unsere Hauptschlagader“. Er rief seine Zuhörer auf, ihren Kindern Pakistans Geschichte zu erzählen, „damit sie nicht vergessen, dass unsere Vorväter glaubten, dass wir in allen Aspekten des Lebens anders sind als Hindus“.

Damit bezog er sich auf die Zwei-Nationen-Theorie des Staatsgründers Muhammad Ali Jinnah, mit der dieser den Anspruch auf einen eigenen Staat für die Muslime Britisch-Indiens formulierte. Das schließt den Anspruch auf den derzeit von Indien verwalteten Teil Kaschmirs ein, in dem eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung muslimisch ist.

Tief mit Pakistans Identität verknüpft

Pakistan werde „die Kaschmirer in ihrem heldenhaften Kampf gegen die indische Besatzung niemals im Stich lassen“, sagte Militärchef Munir. Seine Worte lassen erkennen, wie eng der jahrzehntealte Konflikt um die Kaschmirregion, der seit den indischen Luftangriffen vom Mittwoch erneut eskaliert, bis heute mit der Identität des pakistanischen Staates verknüpft ist – und offenbar auch mit dem Selbstverständnis des amtierenden Militärchefs.

In Indien wiederum ist der Blick auf Kaschmir durch den religiös gefärbten Hindu-Nationalismus beeinflusst, der sich unter der Regierung Narendra Modis zur vorherrschenden Ideologie entwickelt hat. Im Jahr 2019 ließ Modi die autonomen Sonderrechte streichen, die die indische Verfassung dem von Neu Delhi kontrollierte Teil Kaschmirs bis dahin garantiert hatte. Er erfüllte damit ein langjähriges Versprechen der Hindunationalisten.

Der lokale Widerstand gegen diese Entscheidung wurde mit Verhaftungen und Strafverfahren unterdrückt. Die muslimische Bevölkerung fürchtet, dass nun zahlreiche Hindus angesiedelt werden könnten. Neu Delhi sprach zuletzt von einer „Normalisierung“ in Kaschmir, die durch die demonstrative Förderung des Tourismus unterstrichen wurde.

Auch deshalb stand Modi unter Druck, den Terrorangriff in Pahalgam als ein von außen verübtes Verbrechen darzustellen und entsprechend hart gegen Pakistan vorzugehen. Zugleich wurden nach der Tat Tausende Kaschmirer vorübergehend festgenommen – ein Hinweis auf die Entfremdung zwischen Teilen der Bevölkerung und dem Staat. Ein Teil der muslimischen Bevölkerung wünscht sich mehr Unabhängigkeit oder den Anschluss an Pakistan. Die Unzufriedenheit befeuert seit den späten Achtzigerjahren eine militante Widerstandsbewegung, die mit Anschlägen und Angriffen auf indische Sicherheitskräfte von sich reden machte.

Kaschmirs hinduistischer Maharadscha wollte nicht zu Pakistan

Historisch lässt sich der Konflikt auf die Zeit der Dekolonisierung des indischen Subkontinents zurückverfolgen. Die britische Kolonialmacht hatte sich für die Zweistaatenlösung entschieden, die vom damaligen Anführer der Muslimliga und späteren Gründervater Pakistans, Jinnah, verfolgt worden war. Die verschiedenen Fürstentümer innerhalb der ehemaligen Kolonie durften entscheiden, ob sie zum muslimischen Pakistan oder dem säkularen Indien mit seiner Hindu-Mehrheit gehören wollten.

In der mehrheitlich von Muslimen bewohnten Himalaya-Region Kaschmir herrschte damals ein hinduistischer Maharadscha, der einen eigenen unabhängigen Staat anstrebte und diesen zunächst auch bekam. Als dann aber pakistanische Kämpfer in den Staat eindrangen, um dessen Anschluss an Pakistan zu erzwingen, erklärte der Maharadscha den Anschluss an die Indische Union, um sich Indiens militärische Unterstützung zu sichern. Die Folge war der erste indisch-pakistanische Krieg, der mit der Teilung Kaschmirs entlang einer Waffenstillstandslinie endete, die heute als Line of Control bezeichnet wird.

Beide Länder sehen aber weiter das gesamte Kaschmir als Teil ihres rechtmäßigen Territoriums an. Im Jahr 1965 brach erneut ein Krieg um das Gebiet aus, der aber nicht zu territorialen Veränderungen führte. Im Jahr 1999 folgte ein weiterer militärischer Konflikt in der Hochgebirgsregion Kargil mit hunderten Toten auf beiden Seiten. Er galt als besonders gefährlich, weil beide Länder zu diesem Zeitpunkt bereits Atommächte waren.

Pakistans Geheimdienst und die Terrorgruppen

Neben den regulären Streitkräften gibt es in Pakistan mehrere islamistische Gruppen, die sich den Anschluss Kaschmirs an Pakistan auf die Fahne geschrieben haben und dieses Ziel seit den Neunzigerjahren mit terroristischen Methoden verfolgen. Der pakistanische Geheimdienst ISI hat zu diesen Gruppen in der Vergangenheit Verbindungen gepflegt, sie teilweise finanziert und ausgebildet.

Die Gruppen Jaish-e-Mohammad (Armee Mohammeds) und Lashkar-e-Taiba (Armee der Reinen) hatten etliche verheerende Anschläge in Indien und im indisch verwalteten Teil Kaschmirs verübt. Terrorangriffe auf indische Soldaten in Kaschmir 2016 und 2019 beantwortete Indien mit Vergeltungsschlägen auf Pakistan. Der damalige pakistanische Armeechef Qamar Javed Bajwa schwor zwar ebenfalls, „die Kaschmiris niemals allein zu lassen“. Ihm wurde aber das Bestreben nachgesagt, den Konflikt möglichst einzufrieren, um Pakistan wirtschaftlich zu entwickeln und politisch zu stabilieren. Nach den indischen Luftangriffen 2019 trug er durch die unmittelbare Freilassung eines abgeschossenen indischen Piloten dazu bei, eine Eskalation zu vermeiden.

Sein Nachfolger Munir steht nun vor der Frage, wie der Kaschmirkonflikt sein politisches Erbe prägen soll. Im Unterschied zu Bajwa steht er innenpolitisch massiv unter Druck. Das Ansehen des Militärs ist auf einen historischen Tiefstand gesunken, seit der beliebteste Politiker des Landes, der frühere Ministerpräsident Imran Khan, in Haft sitzt. Khan und Munir sind in persönlicher Feindschaft verbunden. Von jeher wird Pakistan vom Militär beherrscht.

Doch die Manipulation der jüngsten Parlamentswahl 2024 hat dessen Ruf weiter beschädigt. Auch die Sicherheitslage im Land ist so schlecht wie lange nicht. Die Zahl der Terroranschläge durch belutschische Separatischen und Islamisten ist gestiegen. Vor diesem Hintergrund könnte Munir versucht sein, sich mit dem Kaschmirkonflikt zu profilieren.