Am Samstag um 13 Uhr 32 Kiewer Zeit postete der ukrainische Außenminister Andrij Sybiha auf der Plattform X ein ungewöhnliches Foto. In einem Saal der ukrainischen Präsidialverwaltung sitzen fünf Herren auf einer troddeligen Sofagarnitur und starren auf ein Handy: Bundeskanzler Friedrich Merz, der polnische Ministerpräsident Donald Tusk, die Präsidenten Frankreichs und der Ukraine, Emmanuel Macron und Wolodymyr Selenskyj, sowie der britische Premier Keir Starmer.
Der Text des Posts: Die fünf „Leader“ hatten soeben „ein fruchtbares Gespräch mit @POTUS“. Alle Verbündeten seien jetzt bereit zu einer „bedingungslosen“ Waffenruhe zwischen der Ukraine und Russland „für mindestens 30 Tage“. Beginn: „schon am Montag“.
Zwei Details machen das Foto zu einer diplomatischen Rarität: Der Code @POTUS steht für nichts Geringeres als „President of the United States“ . Und wenn es in Kiew 13 Uhr ist, schlägt es in Washington gerade erst sechs. Die fünf Herren hatten Donald Trump also gewissermaßen im Pyjama rausgeklingelt.
Die Szene ist der Höhepunkt eines diplomatischen Kosakenritts, in dem die Ukraine und ihre europäischen Verbündeten es am Wochenende geschafft haben, in der Abwehr Russlands zumindest für einen kurzen Augenblick Einigkeit mit Amerika herzustellen.
Die Europäer nutzten die Gelegenheit
Das war auch dringend nötig gewesen. Seit seinem Amtsantritt hatte Trump nämlich immer wieder den Eindruck erweckt, er wolle sich von Europa und der Ukraine abwenden, um in einem einseitigen „Deal“ mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sein Wahlversprechen eines schnellen Friedens in der Ukraine zumindest dem Anschein nach einzulösen.
Seine Methoden waren brachial: Statt beide Seiten unter Druck zu setzen, wie sein Berater Keith Kellogg es anfangs vorgesehen hatte, drangsalierte er nur die schwächere – die Ukraine. Den Europäern bedeutete er, um diesen Krieg auf ihrer Seite des Atlantiks müssten sie sich fortan selbst kümmern. An Putin dagegen richtete Trump Avancen bis hin zu der Idee, Amerika könne die völkerrechtswidrige Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim anerkennen.

Selenskyj und seine europäischen Verbündeten waren alarmiert. Amerikas finanzielle und militärische Hilfe, vor allem aber auch das Schutzversprechen der Atommacht USA, waren immer die Basis des Beistandes für die gemeinsame Ukrainehilfe gewesen. Ohne Amerika sah man sich vor allem in Deutschland, das anders als Frankreich und Großbritannien keine Atommacht ist, dem akuten Risiko nuklearer Erpressung aus Moskau ausgesetzt.
In den letzten Wochen aber waren plötzlich neue Töne aus Amerika gekommen. Putin hatte Trumps Avancen abprallen lassen, und der amerikanische Präsident zeigte seinen Ärger. Er sagte, Putin führe ihn womöglich an der Nase herum, und deutete an, wenn sich da nichts ändere, werde er Russland strafen.
Das schien die Gelegenheit zu sein, auf die Selenskyj und die Europäer gewartet haben. Sie fuhren nun zweigleisig. Selenskyj griff einen Vorschlag auf, den Amerika selbst schon Anfang März gemacht hatte, der aber dann von Russland abgelehnt und in Vergessenheit geraten war: eine Waffenruhe für dreißig Tage, um Friedensverhandlungen vorzubereiten.
Macron und Starmer versuchten zugleich, Trumps Forderung nach mehr europäischem Engagement nachzukommen. Sie begannen, eine „Koalition der Willigen“ zu sammeln, die Amerika entlasten und vielleicht auch Truppen zum Schutz eines künftigen Friedens stellen könnte. Russland, so der zweite Teil des Plans, sollte durch die Drohung mit Sanktionen zur Kooperation bewegt werden.
Merz fühlte beim US-Präsidenten vor
Deutschland war wegen des Interregnums in Berlin zunächst nicht im Spiel. Der scheidende Bundeskanzler Olaf Scholz stand ohnehin im Verdacht, Putin gegenüber zu weich zu sein. Sein designierter Nachfolger Merz nutzte zwar erst einmal keine Appeasement-Rhetorik, aber auch er scheute sich vor seinem Amtsantritt, Deutschland ohne Rückhalt aus Amerika sehr zu exponieren.
Als Merz dann am Dienstag, dem 7. Mai, Kanzler wurde, begann sich die Lage Schlag auf Schlag zu verändern. Mit Macron, Starmer und Tusk, den wichtigsten europäischen Verbündeten, hatte er schon vorher Kontakt aufgenommen, mit allen dreien versteht er sich gut. Am Tag nach seiner Vereidigung, dem Mittwoch, besuchte er dann in einem Zug sowohl Frankreich als auch Polen, die neben Deutschland gewichtigsten Verbündeten der Ukraine in der EU. Gemeinsam schmiedete man den Plan, so schnell wie möglich zusammen nach Kiew zu reisen und dort an der Seite Selenskyjs die doppelte Botschaft von Waffenruhe und Sanktionen an Russland zu senden.

Abermals einen Tag später, am Donnerstagabend, telefonierte Merz dann zum ersten Mal mit Trump, denn ohne Amerika wollte er Putin gegenüber nicht aus der Deckung. Das Gespräch lief aus deutscher Sicht gut. Trump und Merz kommen beide aus der Unternehmenswelt, der Kanzler hat lange für die amerikanische Fondsgesellschaft Blackrock gearbeitet. Sie fanden einen gemeinsamen Ton, sie fanden gemeinsame Bekannte, und sie sprachen von Bad Dürkheim, wo einige von Trumps Ahnen herstammen und wo Merz als Soldat gedient hat.
Merz hatte das Gefühl: Da geht etwas. Er erzählte Trump über die geplante Reise und die doppelte Botschaft von Waffenruhe und Sanktionen – und hörte vom US-Präsidenten eine positive Reaktion heraus, so etwas wie: Macht mal, und notfalls könnt ihr euch auf mich berufen. Der Eindruck entstand, Trump sei bereit, seine erfolglose Charmeoffensive gegen Putin zu beenden und endlich die Verbündeten zu unterstützen.
Tags darauf kam dann von Trump die Bestätigung. „Die USA rufen zu einer im Idealfall dreißigtägigen bedingungslosen Waffenruhe auf“, postete er am Freitag. „Wenn die Waffenruhe gebrochen wird, werden die USA und ihre Partner neue Sanktionen verhängen.“
Schalte auch mit einer Koalition der Willigen
Trump bestätigte damit den doppelten Ansatz, den Merz ihm vorgelegt hatte, und er fügte noch eine wichtige Zusage hinzu: Amerika, schrieb er, bleibe „zusammen mit den Europäern“ den Bemühungen um einen „dauerhaften“ Frieden in der Ukraine „verpflichtet“. Das las sich wie eine direkte Antwort auf die deutsche Sorge, in der Konfrontation mit Russland von Amerika genauso im Stich gelassen zu werden wie schon 2021 im Kampf gegen die afghanischen Taliban.

Am selben Abend noch starteten Macron, Merz, Starmer und Tusk im ukrainischen Nachtzug von Polen aus nach Kiew. Macron tischte im Salonwagen Rotwein und Foie gras auf, und kurz vor Mitternacht veröffentlichten sie vom Zug aus eine gemeinsame Erklärung. Sie enthielt die zwei Kernpunkte, auf die man sich vorher geeinigt hatte. Erstens: „Gemeinsam mit den USA fordern wir Russland auf, einen vollständigen und bedingungslosen dreißigtägigen Waffenstillstand zuzustimmen.“ Zweitens: „Solange Russland einem dauerhaften Waffenstillstand nicht zustimmt, werden wir den Druck auf Russlands Kriegsmaschine weiter erhöhen.“
Nach der Ankunft in Kiew am Samstagmorgen wurde der Kreis der Verbündeten dann noch einmal erweitert. Per Videoschalte wurde die „Koalition der Willigen“ zusammengetrommelt, die Gruppe der mehr als zwanzig Staaten von Neuseeland bis Island, die Macron und Starmer vorher geformt hatte, ergänzt durch die Spitzen von NATO und EU. Die Verbindung brach zwar mehrmals zusammen, aber am Ende erging die Botschaft: Alle sind im Boot.
Dann aber, Samstags am späten Vormittag, kamen noch einmal Zweifel auf: Kann man Trump vertrauen? Warum hat er in seinem Post geschrieben, er werde uns nur „im Idealfall“ unterstützen? Wird er uns hängen lassen?
Die Idee des französischen Präsidenten
Es war der Moment Emmanuel Macrons. Der französische Präsident hat eine entwaffnende Art, mit einer Miene begeisterter Freundlichkeit selbst auf x-beliebige Menschen zuzugehen, und offenbar hatte er bei früheren Besuchen damit auch Trumps Geschmack getroffen. Jetzt hatte er eine Idee: Warum rufen wir nicht einfach an? Er zog sein Handy heraus und wählte „Donald Trump“.
Der Präsident ging ran. Erst sprachen die beiden kurz zu zweit, dann wurden alle anderen dazugeholt und setzten sich auf Selenskyjs betagtes Sofa. Macron klingelte noch mal durch, und wieder nahm Trump an. Die vier Europäer stellten ihm die Erklärung vor, die sie im Zug finalisiert hatten, und sie erzählten ihm von der Videokoalition, die sie versammelt hatten. Das Signal an Trump sollte sein: Wir sind bereit, Lasten zu tragen, genau wie du das erwartet hast. Aber bitte hilf uns.
Trump ging darauf ein. Am Telefon klang er zwar noch verschlafen, aber die Superlative der Begeisterung, mit denen er seine Rhetorik manchmal so gerne aufpeppt, hatte er schon zu dieser nachtschlafenden Stunde parat: großartig, super, Glückwunsch. Phantastisch, dass du das geschafft hast, Emmanuel.
Danach sind die vier zusammen mit Selenskyj mit ihrem Doppelsignal vor die Presse getreten: Waffenruhe ab diesem Montag oder neue Sanktionen. Und dank des letzten Telefonats konnte Merz noch eine dritte Botschaft hinzufügen: Man habe Trump noch einmal „persönlich informiert“ und sei jetzt dankbar, dass er „voll und ganz unsere Initiative unterstützt“.
So jedenfalls klang es nach außen. Nach innen wissen die Europäer aber, dass „voll und ganz“ sehr flüchtige Zustände sein können, wo es um Donald Trump geht. Keiner erwartet, dass es reibungslos weitergeht mit einem so launischen Verbündeten wie ihm und einem so gerissenen Gegner wie Putin. Und ob nach 16 EU-Sanktionspaketen wirklich noch Konsens für substanzielle Verschärfungen gefunden werden kann, steht in den Sternen. Frankreich will beim Gas nicht zu hart zupacken, Merz will aus Sorge um die Attraktivität des Finanzplatzes Europa das eingefrorene russische Staatsvermögen nicht konfiszieren. Ein fertiges Paket gibt es noch lange nicht, und bevor es geschnürt ist, braucht Putin nicht viel zu fürchten.