Wollen, sollen, müssen Syrer nun gehen?

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Am Morgen des 8. Dezembers verkündeten islamistische Kämpfer der „Hay’at Tahrir al-Scham“ ein freies Syrien, das nun Vertriebene aus aller Welt erwarte. In ganz Deutschland feierten daraufhin Tausende Syrer den Sturz des jahrzehntelangen Machthabers Baschar al-Assad. Sie versammelten sich auf den Straßen, jubelten mit syrischen Flaggen in ihren Händen. All das war auf Videos in den sozialen Netzwerken zu sehen.

Doch zu lesen gab es dort noch mehr. Alice Weidel etwa schrieb nur wenige Stunden später auf der Plattform X, bei Menschen, die das „freie Syrien“ feiern, liege augenscheinlich kein Fluchtgrund mehr vor. Sie sollten „umgehend“ nach Syrien zurückkehren. Jens Spahn forderte einen Tag später in einem Interview mit NTV Charterflüge für Rückkehrer und ein Startgeld von tausend Euro. Marco Buschmann forderte am Dienstag auf X eine „internationale Syrien-Konferenz“ für Rückkehrer.

Kurz nach dem Sturz Assads in Syrien wurde in Deutschland also über ein Thema debattiert, das den Wahlkampf im kommenden Jahr ähnlich prägen dürfte wie bereits viele Wahlkämpfe zuvor: Migration. Nun aber mit diesen Fragen: Sollen Syrer in ihr Herkunftsland zurückkehren? Müssen Syrer das sogar tun? Und welche von ihnen dürfen, oder vielmehr, sollen bleiben?

Nach der Euphorie kommt die Angst

Nahla Osman war von der Geschwindigkeit der Debatte überrascht: „Ich stelle mir die Frage, warum Politiker so leichtsinnig mit der Verantwortung umgehen, die sie haben.“ Osman ist die Vorsitzende des Verbands deutsch-syrischer Hilfsvereine. Ihre Eltern verließen Syrien bereits vor 58 Jahren. Sie selbst wurde in Deutschland geboren. Osman erzählt, wie sie die vergangenen Tage erlebte. Sie hatte bereits Tage zuvor aufgehört, gut zu schlafen, und jeden Schritt der Kämpfer in Syrien verfolgt. Nachdem die zweite Stadt übernommen war, war ihr klar: Das Regime wird fallen. Nur wann, war ungewiss. „Sonntag früh kam die größte Erleichterung in meinem Leben“, sagt sie.

Wie Tausende Syrer ging auch Osman an diesem Tag auf die Straße. Feierte. Mit Muslimen, Christen, Arabern, Kurden, Drusen und Aleviten. So erzählt sie es. Manche von ihnen hätten zu ihr gesagt: „Mach dein Büro zu, wir gehen alle wieder zurück.“ Zurück nach Syrien. Bei vielen gebe es diese Hoffnung, sagt Osman. Viele von ihnen hätten ihre Verwandten seit mehr als 14 Jahren nicht mehr gesehen.

Doch Osman erzählt am Dienstagmorgen auch von einer ersten Ernüchterung: „Die Euphorie ist leider weg. Verblasst. Ich bin ein sehr, sehr großer Optimist. Aber seit heute Morgen habe ich sehr große Angst.“ Angst vor einem Bürgerkrieg. Niemand wisse, wie es nun weitergeht.

Asylanträge werden nach unten sortiert

Diese Ungewissheit betrifft in Deutschland knapp eine Million Menschen mit syrischer Herkunft. Die meisten von ihnen flohen 2015 vor dem Assad-Regime. Osman sagt, ihr Telefon klingele nun ununterbrochen, weil Syrer be­fürchten, ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren. Dazu beigetragen hatte auch die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge: Asylanträge von Syrern werden vorerst nicht mehr be­arbeitet, da die Lage unklar sei. Entsprechende Anträge werden im Stapel nun nach unten sortiert, andere Asylentscheidungen vorgezogen. Auch, was mit den bereits erteilten Genehmigungen passieren wird, sei derzeit noch unklar, erklärte eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums am Montag.

Insgesamt haben rund 160.000 Menschen aus Syrien die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Sie tauchen in der Zahl von fast einer Million in Deutschland lebenden Syrer nicht mehr auf. Diese leben unter drei verschiedenen Schutzstatus: Rund 5000 von ihnen sind Asylberechtigte. Sie werden in Syrien individuell politisch verfolgt und haben daher Schutz erhalten.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Etwa 321.000 erhalten Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention, weil sie aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, Nationalität, Religion, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe verfolgt werden.

Kommt weder Asyl noch der Schutz auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention infrage, kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den sogenannten subsidiären Schutz gewähren. Das ist immer dann der Fall, wenn bei einer Rückkehr in das Herkunftsland ein „ernsthafter Schaden“ drohen würde, etwa durch Folter, Todesstrafe oder die Bedrohung durch einen bewaffneten Konflikt. Auf rund 329.000 Syrer in Deutschland trifft das zu.

Zwei mögliche Szenarien

Doch was bedeutet es für diese Menschen, sollte sich die politische Lage in Syrien eindeutig stabilisieren? Aus rechtlicher Perspektive betreffe das zunächst einmal alle in Deutschland lebenden Syrer gleichermaßen, erklärt Daniel Thym, Professor für Völkerrecht an der Universität Konstanz. Es sind zwei mögliche Szenarien, die Thym erklärt.

Im ersten Szenario kommt es abermals zum Bürgerkrieg. Viele Syrer behielten dann weiterhin ihren Schutzstatus in Deutschland. Im zweiten Szenario etabliert sich eine halbwegs stabile Regierung. In diesem Fall werde individuell geprüft, wer weiterhin Schutzbedarf hat, etwa weil er einer religiösen Minderheit angehört oder in Syrien von ex­tremer Armut betroffen sein könnte. Je nach Grund könnten sich trotzdem die Rechte, die mit einem Status einhergehen, verändern. Im Fall von „krasser Armut“ etwa hätten die Menschen zwar ein Bleiberecht, aber keinen Anspruch auf Familiennachzug.

Thym sagt aber auch: Es könnte Jahre dauern, bis Entscheidungen wie diese getroffen werden können. Dem BAMF fehle es schlichtweg an Kapazitäten: Im vergangenen Jahr habe das Ministerium 200.000 Anträge geprüft und sei bereits am Limit gewesen. Nun muss es vielleicht alle bereits erteilten Bescheide abermals prüfen, also fast eine Million. Außerdem können Betroffene klagen, sollte ihnen der Schutzstatus aberkannt werden. Eine Abschiebung dürfte dann erst nach der Entscheidung eines Gerichts stattfinden. „Nur wenn die Situation in Syrien eindeutig ist, gehen die Überprüfungen schnell“, sagt Thym.

„Flüchtlingsschutz ist ein Aufenthalt auf Zeit“

In den Worten des innenpolitischen Sprechers der CDU, Alexander Throm, klingt dieses Szenario so: „Wenn der Fluchtgrund wegfällt, gibt es auch keinen Schutz mehr.“ Bereits am Sonntag hatte sich Throm in die Debatte eingemischt, sie teils angestoßen, wie große Teile der CDU. Throm findet das Tempo aber nicht zu schnell. „Selbstverständlich muss darüber nachgedacht werden, welche Konsequenzen die neue Situation für die syrischen Staatsangehörigen in Deutschland hat“, sagt er. Flüchtlingsschutz sei befristet und ein Aufenthalt auf Zeit.

Bereits am Mittwoch, drei Tage nach dem Sturz Assads, teilte die CDU mit, einen Vier-Punkte-Katalog für Abschiebungen erarbeitet zu haben. Darin fordert sie unter anderem die vorrangige Abschiebung derjenigen, die nicht zu den „gut integrierten“ gehören, und die von Spahn ins Spiel gebrachte Prämie für syrische Flüchtlinge, die freiwillig zurückkehren.

Alexander Throm sagt, es gehe darum, die Sachlage in Syrien neu zu bewerten. Thron sagt aber auch: „Ob sie freiwillig in ihr Heimatland zurückreisen wollen, entscheiden jedoch zunächst einmal die Syrerinnen und Syrer.“ Mit dem Wahlkampf habe die Debatte nichts zu tun. „Die Situation in Syrien hat stattgefunden, unabhängig vom Wahlkampf in Deutschland.“

6000 syrische Ärzte arbeiten in Deutschland

Von den „gut integrierten Syrern“ ist in den vergangenen Tagen immer wieder die Rede. Throm sagt, hier stelle sich die Frage, ob Aufenthaltsrechte einer Widerrufsprüfung unterzogen werden, erst gar nicht: „Wer hier als wertvolle Fachkraft arbeitet, kann ganz selbstverständlich bleiben.“ Für diese Menschen sehe das Gesetz Aufenthaltsrechte außerhalb des Flüchtlingsschutzes vor.

Eine Zahl wird in diesem Zusammenhang immer wieder genannt: 6000 syrische Ärzte arbeiten in Deutschland. Doch nicht nur im Gesundheitsbereich sind Syrer tätig. Sie arbeiten auch in anderen Branchen, die vom Fachkräftemangel betroffen sind. In der Logistik, der Produktion, dem Handel. Insgesamt machen Syrer nach Angaben des Instituts für Ar­beitsmarkt und Berufsforschung 0,6 Pro­zent der sozialversicherungspflichtig Be­schäf­tigten in Deutschland aus.

Am 8. Dezember: Syrer feiern am Oranienplatz in Berlin.
Am 8. Dezember: Syrer feiern am Oranienplatz in Berlin.Reuters

Dabei sei etwa die Hälfte von ihnen auf Fachkraftniveau beschäftigt, manche von ihnen sogar darüber. 44 Prozent arbeiten in Helferjobs. Etwa als Paketzusteller oder Reinigungskräfte.

Aus den Zahlen ergibt sich zunächst: Eine Rückkehr von Syrern wäre gesamtwirtschaftlich zwar keinesfalls bedrohlich, aber in den genannten Branchen durchaus spürbar. Krankenhäuser etwa sind besonders in ländlichen Regionen meist schlecht besetzt. Und der Fachkräftemangel in der Pflege ist seit Jahren ein großes Problem, und auch hier arbeiten viele Syrer. Auch die Gewerkschaft Verdi warnt daher vor Rückführungen. Sie wären gegen die Interessen der Arbeitswelt in Teilen Deutschlands.

„Befremdet, beschämt und angewidert“

Lamya Kaddor, die innenpolitische Sprecherin der Grünen, findet es „etwas anmaßend“, zu beschließen, wer nun „gut integriert“ ist. Die Schnelligkeit der Debatte habe sie befremdet, beschämt und „ein wenig angewidert“. Sie sagt: Wenn es das Erste ist, was uns einfällt, dann ist das schon ziemlich zynisch.“

Kaddor ist selbst die Tochter syrischer Einwanderer. Sie hat Verwandte in Syrien und kann die Freude der Menschen auf den deutschen Straßen nachvollziehen: „Die meisten Syrer kennen kein Syrien vor der Assad-Dynastie. Die Geschichte dieser Diktatur ist verwoben in jede einzelne Biographie dieser Menschen.“

Kaddor kritisiert die Forderungen der Union. Sie sagt, das Einzige, was Menschen davon überzeugen könne, zurückzukehren, sei Stabilität und Sicherheit. Eine Perspektive, endlich wieder eine Heimat zu finden. „Nicht tausend Euro.“ Klar sei zudem, dass es in Syrien derzeit keinen einzigen Ort gebe, von dem man sicher sagen kann: Hier besteht keine Gefahr für Leib und Leben mehr.

Kaddor bekommt in den sozialen Netzwerken derzeit Nachrichten, in denen gefordert wird, sie solle nach Syrien gehen. Und auch die Vorsitzende deutsch-syrischer Hilfsvereine Nahla Osman berichtet davon. Sie habe ein Video gepostet. Von dem Jubel auf den Straßen und einer Rede, die sie gehalten hatte. Daraufhin habe jemand geschrieben, sie solle ihre Sachen packen und gehen.

Osman sagt, es werde derzeit bewusst Angst geschürt. Die Debatte werde pauschalisiert und auch auf Menschen wie sie ausgeweitet. Menschen, die hier geboren wurden: „Natürlich kann ich zwei Heimaten in mir haben, aber ich bin deutsch“, sagt Osman. „Ich träume auf Deutsch.“ Und gleichzeitig wünscht sie sich „nichts sehnlicher“, als jetzt nach Syrien zu gehen und zu helfen. Sie sagt, diese Sehnsucht sei bei vielen da. Aber eben auch die Angst.