Der unaufgeregte Herr Klingbeil in Brüssel

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Die Bundesregierung will in der Europapolitik „vieles aufholen, was in den letzten Jahren liegengeblieben ist“ und die Zusammenarbeit in der EU „auf ein neues Level heben“. Das war die Kernbotschaft von Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) bei seinem ersten Auftritt im neuen Amt auf dem Treffen der EU-Finanzminister am Montag und Dienstag in Brüssel.

Klingbeil ließ offen, wer nach seiner Meinung in den vergangenen Jahren viel liegenließ. Meinte er seinen Parteifreund Olaf Scholz oder seinen Amtsvorgänger Christian Lindner (FDP)? Jedenfalls machte er deutlich, dass die EU für ihn wie für Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) wieder stärker eine Herzensangelegenheit sein solle als für Scholz und Lindner.

So weit sind sich der neue Kanzler und sein Vize in der europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik sicher einig. Die Unterschiede zwischen Merz und Klingbeil liegen auf dem Brüsseler Parkett im Stil – da, wo sie auch in Berlin bemerkbar sind. Während der Kanzler am Freitag in Brüssel die selbstgewisse Pose pflegte und den Bogen von seinen europäischen Anfängen im Europaparlament in den neunziger Jahren zu seiner heutigen Führungsrolle in Europa schlug, trat Klingbeil zurückhaltender und unaufgeregter auf. Er räumte ein, eine Woche nach Amtsantritt noch nicht auf jede Frage eine Antwort zu haben – und ließ zugleich keinen Zweifel daran, dass er um die hohen Erwartungen an die neue Bundesregierung in der EU weiß.

Viel Einigkeit und ein Widerspruch

Merz hatte zu seinem Amtsantritt angekündigt, die Zeit des „German Vote“ – also einer deutschen Enthaltung im EU-Ministerrat wegen der Uneinigkeit zwischen den Koalitionsparteien in der Sache – sei in der neuen Bundesregierung vorbei. So einfach, wie es sich der Kanzler vorstellt, ist das offenbar nicht. Merz hatte am Freitag von der EU-Kommission gefordert, die Einführung der europäischen Lieferkettenrichtlinie nicht nur – wie jetzt beschlossen – zu verschieben, sondern das Gesetz ganz abzuschaffen. Die Bundesregierung will das mit dem noch weiter gehenden nationalen Lieferkettengesetz auch so halten.

Ziel beider Gesetze ist es, die Einhaltung umwelt- und menschenrechtspolitischer Standards entlang globaler Lieferketten zu verbessern. Klingbeil widersprach der Forderung des Kanzlers in Brüssel unter Berufung auf den Koalitionsvertrag. Sicher müsse Bürokratie abgebaut werden. „Aber insgesamt waren wir uns einig, das Lieferkettengesetz ist wichtig“, sagte der Minister.

Auch der SPD-Europaabgeordnete René Repasi verwies auf den Koalitionsvertrag und erinnerte daran, dass eine Abschaffung der Lieferkettenrichtlinie weder im Europaparlament noch unter den Mitgliedstaaten eine Mehrheit finde. Die EU-Kommission wies die Forderung des Kanzlers ebenfalls zurück. Die Position der Kommission zur Lieferkettenrichtlinie sei öffentlich bekannt, sagte eine Sprecherin der Behörde in Brüssel. Die Lieferkettenrichtlinie solle vereinfacht werden. „Es geht nicht darum, sie abzuschaffen.“

„Alle finden gut, dass Deutschland mehr investiert“

Fast noch offensiver als Merz schloss Klingbeil aus, dass Deutschland ernsthafte Probleme mit der EU-Kommission wegen seines 500-Milliarden-Euro-Investitionsprogramms für die Infrastruktur und andere Zwecke bekommen könnte. Dass die Behörde einen Verstoß gegen die neuen EU-Budgetregeln feststellt, glaubt der SPD-Politiker offensichtlich nicht. Er habe aus den Gesprächen mit vielen seiner Amtskollegen ein eindeutiges Signal empfangen: „Alle finden gut, dass Deutschland mehr investiert.“

Eurogruppenchef Paschal Donohoe bestätigte das in Brüssel. Er habe keinen Zweifel an der Vereinbarkeit des deutschen Programms mit den Budgetregeln, sagte der Ire. Die konkrete Prüfung der EU-Kommission wird erst beginnen, wenn Klingbeil Ende Juni seinen verspäteten ersten Haushalt für das laufende Jahr einbringt.

So sehr das deutsche Investitionsprogramm in der EU auf Zustimmung stößt, so wenig ist klar, ob die bisher von Merz und Klingbeil einhellig vertretene Linie halten wird, für neue Rüstungsausgaben keine EU-Gemeinschaftsschulden aufzunehmen. Merz sagte, „dauerhafte EU-Schulden“ als Regel seien ausgeschlossen, Klingbeil äußerte sich ähnlich.

Freilich dürfte die Diskussion über „Verteidigungsbonds“ nicht verstummen, weil etliche Länder wegen ihrer hohen Verschuldung keine zusätzlichen Ausgaben aus ihrem nationalen Budget stemmen können. So verzichtet Frankreich auf die von der EU-Kommission eingeräumte Möglichkeit, nationale Rüstungsausgaben von den EU-Budgetregeln auszunehmen. Die Regierung in Paris sieht nicht die Regeln als die Begrenzung ihres Spielraums, sondern die faktischen Finanzierungsmöglichkeiten, die sich in den Risikoaufschlägen für Staatsanleihen ausdrücken.

Rüstungsausgaben bleiben Thema

Vorerst dürften die Staaten vor allem auf die Ausnahmen von den Budgetregeln sowie auf das von der Kommission außerdem vorgeschlagene Programm SAFE zurückgreifen, das 150 Milliarden Euro umfassen soll. Es beruht ebenfalls auf von der Kommission bewirtschafteten Gemeinschaftsschulden. Die von der EU-Behörde an den Märkten aufgenommenen Kredite werden aber nur als Darlehen, nicht als Zuschüsse an die Mitgliedstaaten weitergereicht.

Donohoe deutete an, dass andere neue Instrumente – etwa die Gründung einer EU-Rüstungsbank oder die Inanspruchnahme von Geld aus dem Krisenfonds ESM – noch nicht vom Tisch seien. „Kurz- und mittelfristig“ könne man sich aber auf SAFE und die Ausnahmen vom Stabilitätspakt beschränken.

Die Amtszeit des Iren an der Spitze der Eurogruppe endet im Sommer. Er hatte vor zwei Monaten in der F.A.Z. angekündigt, für ein drittes Mandat kandidieren zu wollen. Mittlerweile zeichnet sich aber ab, dass sich Donohoe auf mindestens einen Gegenkandidaten einstellen muss. Im Gespräch sind der spanische Wirtschaftsminister Carlos Cuerpo und der litauische Finanzminister Rimantas Šadžius. Während Donohoes Partei Fine Gael in der EU zur EVP gehört, der auch die Unionsparteien angehören, sind Cuerpo und Šadžius Sozialdemokraten. Die geoökonomischen Interessen ihrer Länder sind indes sehr unterschiedlich. So oder so: Das Abstimmungsverhalten der Bundesregierung in der Personalfrage ist noch nicht geklärt.