Zurückweisungen an der Grenze – der Praxistest

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Früher Montagnachmittag, vierspurige Bundesstraße über die Saalach, den Fluss, der Salzburg auf der österreichischen und Freilassing auf der deutschen Seite voneinander trennt – oder sie miteinander verbindet, je nachdem. Auf der Brücke überprüfen nun knapp zehn Beamte der Bundespolizei sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag den Grenzverkehr, seit der neue Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) vor knapp einer Woche seine Leute angewiesen hat, die Kontrollen zu intensivieren und im Zweifel auch solche Migranten zurückzuweisen, die Asyl in Deutschland begehren.

Es ist offensichtlich nicht das Ziel der Polizeibeamten, den Fahrzeugfluss unnötig zu behindern. Im zweieinhalbstündigen F.A.Z.-Beobachtungszeitraum staut sich der Verkehr an der österreichischen Brückenauffahrt allenfalls minimal. Am Freitagnachmittag soll das noch anders gewesen sein. Ein österreichischer Busfahrer berichtet von 40 Minuten Wartezeit. Es gibt hier in der Region viele, die zum Arbeiten auf die je andere Seite der Grenze fahren – oder zum Einkaufen, etwa in die Globus Markthalle Freilassing oder zu Kaufland. Die österreichischen Bürger sollen das auch weiterhin können und wollen.

Angehalten wird vor allem, wer auffällt

Auch deswegen halten die Bundespolizisten an ihrem neu angeschafften Dienstcontainer nur diejenigen Fahrzeuge auf und winken sie im Zweifel an die Seite, die Fragen aufwerfen oder bei denen ihnen ihr einsatzgestähltes Bauchgefühl sagt, dass ein zweiter Blick angezeigt sein könnte: Wenn etwa das Fahrzeug nicht zum Fahrer passt, wenn die Fahrweise auf Nervosität schließen lässt, wenn sich dieser Eindruck bei einer ersten Ansprache verfestigt. Auch mit schwer einsehbaren Transportern ist die Wahrscheinlichkeit groß, kontrolliert zu werden. Selbst wenn darauf das unschuldig wirkende „Daniels Dekoland“ steht, das laut Schriftzug im nahen Piding beheimatet ist.

Je nachdem, was die Beamten finden, kann es sein, dass sie die Angelegenheit der Landespolizei oder dem Zoll überantworten. Wenn es sich aber um Grenzvergehen handelt, ist die Bundespolizei in der Pflicht. Zurückweisungen am Grenzübergang Freilassing-Salzburg gab es auch bisher schon – bei Leuten, die etwa ohne gültige Papiere über die Grenze wollten, jedoch kein Asylgesuch stellten. Das läuft offenbar so ab: Man kündigt der österreichischen Seite an, dass man jemanden aufgegriffen habe und lässt den Kollegen dann zwei Stunden Zeit zu überlegen, wie sie damit verfahren wollen – sprich, ob es eine formelle behördliche Übernahme geben solle. Gleich drüben nach der Brücke ist immerhin die Polizeiinspektion Salzburg Fremdenpolizei – das Pendant zur Bundespolizei.

Dieser geordnete Fall wäre nach Darstellung der deutschen Seite der präferierte. In der Praxis sieht es demnach üblicherweise etwas anders aus. Entweder reagiert die österreichische Seite gar nicht, mit der Folge, dass die Bundespolizei dann für den Rücktransport sorgt und dessen Vollzug den Kollegen jenseits der Grenze auch abschließend meldet. Oder aber die österreichische Seite lässt Widerspruch erkennen, was freilich in der Regel auch nichts ändert: Die zurückgewiesene Person wird, nachdem sie registriert wurde, trotzdem nach Österreich zurückgebracht, zumeist in dem Verkehrsmittel, in dem sie versucht hat einzureisen. Jenseits der Saalach wird das offenbar toleriert; die Situation, dass Migranten auf der Brücke zwischen den beiden Schengen-Ländern hin und hergeschoben werden, ist bisher dem Vernehmen nach ausgeblieben.

An der Grenze ändert sich nicht viel

Zur bisherigen Praxis passen die Diskrepanzen bei den Zahlen, wie das Beispiel Tirol zeigt. 2024 wurden dort von Deutschland laut der Zeitung „Kurier“ für „insgesamt 1.824 Fremde Zurückweisungen angekündigt“. Auf Basis der europäischen Rechtsprechung habe Österreich aber nur 62 Ausländer „rechtmäßig übernommen“. Die übrigen werden wohl eigene Wege gefunden haben und womöglich doch dorthin gelangt sein, wohin sie eigentlich wollten. Das fällt insoweit ins Gewicht, als es nach österreichischen Auskünften regelmäßig einige Tausend der beschriebenen Zurückweisungen gab, 2023 sogar mehr als 10.000. Nur 2024 waren es deutlich weniger.

Ob es bei den Zurückweisungen in Asylangelegenheiten ebenso läuft? „Am grenzpolizeilichen Handwerk ändert sich durch die Weisung fast gar nichts“, sagt Jan-Uwe Polte, Sprecher der Bundespolizeiinspektion Freilassing, der F.A.Z. Der Routine im täglichen Tun entspricht freilich nicht unbedingt eine Routine in der Kommunikation. So ist es nicht möglich zu erfahren, ob es am Beobachtungstag am Grenzübergang Freilassung schon eine Zurückweisung aufgrund eines Asylgesuchs gegeben hat oder nicht. Schon gar nicht, wie viele, gegebenenfalls.

Eine entsprechende Bilanzierung hat sich offenbar das Bundespolizeipräsidium vorbehalten. Man erfährt nur, dass ein Ukrainer ohne gültige Fahrerlaubnis erwischt wurde. Am Ende gelingt es dem im Allgemeinen bestens informierten Pressesprecher, von höherer Stelle die Information einzuholen, dass es seit Donnerstag durchaus schon eine Zurückweisung im Zusammenhang mit einem Asylgesuch gab, im Sinne von: nicht keine. Womit nicht gesagt ist, dass das für den Grenzübergang Freilassing gilt, wohl aber für einen der 24 deutsch-österreichischen Grenzübergänge.

Vulnerable Gruppen sind von Zurückweisungen ausgenommen

Da es im F.A.Z.-Beobachtungszeitraum auch zu keiner Live-Zurückweisung kommt, muss man sich anderweitig voranhangeln: In diesem Jahr gab es am Grenzübergang jeden Monat etwa 200 Zurückweisungen von Leuten, die kein Asyl beantragten. Zugleich heißt es, es wurden etwa zwei Drittel derjenigen zurückgewiesen, die unerlaubt einzureisen versuchten. Bleibt ein weiteres Drittel, etwa hundert im Monat, die wegen eines Asylgesuchs bisher nicht zurückgewiesen werden konnten. Das war aber vor Dobrindts Weisung. Seither könnte es zu Ausweichbewegungen gekommen sein. Anders gesagt: Ein Schleuser, der sehenden Auges auf die stationäre Kontrolle zufährt und nicht die Möglichkeit nutzt, kurz vorher im Kreisverkehr die Biege zu machen, dürfte die längste Zeit Schleuser gewesen sein.

Dass es nicht ganz einfach ist, an Informationen über die Zurückweisungen zu kommen, hat eher nichts mit den Beamten in Freilassung zu tun, sondern dürfte den komplizierten Umständen in Berlin geschuldet sein. Bis zuletzt ist ja unklar geblieben, was nun genau Sache an der Grenze ist. Kanzler Friedrich Merz (CDU) sagte, „wir kontrollieren in etwa so, wie während der Fußball-Europameisterschaft im letzten Jahr“. Was das Personal der Bundespolizei und dessen Überstunden betrifft, kann das hinkommen. Aber damals lag der Fokus auf ganz anderen Zielpersonen.

Immerhin gibt es wohl eine offizielle Handreichung für die Beamten, welche Gruppen als vulnerabel anzusehen und damit nicht zurückzuweisen seien: Schwangere, Kranke, Alte, Minderjährige. Angst, dass die Bundesregierung die Polizisten in ein illegales Abenteuer schickt, hat Sprecher Polte nicht: „Beamten haben ein Remonstrationsrecht, wenn etwas offensichtlich rechtswidrig ist. Das kann ich hier nicht erkennen.“

In Österreich gibt man sich recht entspannt

Auf österreichischer Seite gibt man sich eher entspannt. Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) verkündet wie sein Kollege in Berlin das Ziel, die illegale Migration „gegen Null zu drängen“, wofür „die Grenz- und grenznahen Kontrollen ein wichtiger Faktor“ seien. Er begrüße daher die Entscheidung Deutschlands, nun auch selbst verstärkte Kontrollen an seinen Grenzen ins Werk zu setzen. „Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Österreich und Deutschland im Kampf gegen die Schleppermafia an einem Strang ziehen und gemeinsame Maßnahmen für einen robusten Schutz der EU-Außengrenzen setzen.“

Zugleich heißt es aus seinem Haus: „Wir gehen davon aus, dass sich deutsche Behörden bei allen Maßnahmen, die gesetzt werden, an die europäische Rechtsordnung halten.“ Am vergangenen Samstag telefonierte Karner mit Dobrindt. In Wien heißt es, im Fokus habe „ein gemeinsamer und robuster Schutz der EU-Außengrenzen“ gestanden – „durch gemeinsame und abgestimmte Maßnahmen“. Zugleich hat Karner mehrfach öffentlich festgehalten, widerrechtliche Pushbacks nach Österreich nicht zu akzeptieren.

Diese zweiseitige Kommunikation hat einen innenpolitischen Hintergrund. Karner steht in der Wiener Kanzlerpartei ÖVP, der christdemokratischen Schwesterpartei von CDU und CSU, für Botschaften von Recht und Ordnung. Er soll damit der Abwanderung von Wählern, denen diese Begriffe wichtig sind, zur rechten FPÖ entgegenwirken. Ein scharfer Protest gegen die neue Linie in Berlin, wo die Union in Bezug auf die AfD ja dasselbe erreichen will, würde daher nicht zu Karners Profil passen. Auf der anderen Seite wird er sich auf keinen Fall eine Blöße geben wollen, die es der FPÖ ermöglichte zu behaupten, Österreich müsse nun Migranten zurücknehmen, die in Deutschland unerwünscht seien.

An sich sind deutsche Kontrollen nichts Neues mehr, sie werden seit bald zehn Jahren praktiziert: als Konsequenz des großen Flüchtlingsandrangs von 2015, als mehr als eine Million Menschen über den Westbalkan und Ungarn nach Österreich kamen und zum größten Teil freundlich nach Deutschland weitergewinkt wurden. Eine gelinde Verschärfung ist seit vergangenem Herbst zu beobachten, als im deutschen Vorwahlkampf die Debatte über die Grenzen bereits hochkochte: Seither wird man an den Grenzposten durch aufgestellte Verkehrshütchen bis auf Schrittgeschwindigkeit heruntergebremst. Demgegenüber hat sich seit vergangener Woche zumindest nichts Grundstürzendes verändert.

Über der Saalach ist der Grenzcontainer am höchsten Punkt der Brücke aufgestellt worden. Die Beamten haben von hier einen guten Blick auf den Fluss, der sich unten vorbeischlängelt. Ihnen würde wohl auffallen, wenn einer versuchte, von dort nach hier zu schwimmen. Aber schon nach gut hundert Metern biegt der Fluss – dessen Wasser zwar kalt und dessen Strömung beträchtlich ist, aber auch nicht eben reißend – um die Ecke. Gefühl: Wer es aus Syrien oder Afghanistan bis hierher geschafft hat, lässt sich auch von der Saalach nicht aufhalten.

Zurück zum Recht?

Seit Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) die Bundespolizei angewiesen hat, auch Asylsuchende an den Grenzen zurückzuweisen, berufen sich manche seiner Unterstützer auf eine Argumentation, die  seit 2015 kursiert. Demnach beging die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) einen Rechtsbruch, indem sie die vielen Flüchtlinge ins Land ließ. 
Genährt wird diese Sicht nun von einer Formulierung zu Beginn von Dobrindts Weisung. Da heißt es: „Hiermit nehme ich die mündliche Weisung vom 13. September 2015 gegenüber dem Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums zurück. Die Anwendung der Regelung des § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG führt dazu, dass Schutzsuchenden bei der Einreise aus einem sicheren Mitgliedstaat die Einreise verweigert werden kann.“
Es sind Sätze, die  so verstanden werden können, als habe sich Merkel im Herbst 2015 über das anzuwendende Recht hinweggesetzt und die Bundespolizei aufgefordert, Asylsuchende – anders als zuvor – nicht länger zurückzuweisen. So suggerierte es schon 2016 der damalige CSU-Vorsitzende Horst Seehofer, der von einer „Herrschaft des Unrechts“ sprach. Auch Markus Söder gab jüngst zu verstehen, dass erst Merkel den Zurückweisungen ein Ende gesetzt habe. In der ARD sagte der CSU-Vorsitzende: „Wir organisieren tatsächlich einen politischen Richtungswechsel bei der Migration. Es wird wirklich wieder so werden wie vor 2015, mit Zurückweisungen und auch mit Abschiebungen.“ 
Zurückweisungen gab es allerdings schon seit 1995 nicht mehr. Damals trat das Schengener Übereinkommen in Kraft, dessen Asylrechtsteil später in die Dublin-Verordnung wanderte. Sie verbietet Zurückweisungen; ein Mitgliedstaat muss laut den Dubliner Regeln prüfen, welches Land für den Asylbewerber zuständig ist. Als EU-Recht hat die Verordnung Vorrang vor nationalem Recht, also auch vor Paragraph 18 Asylgesetz, der Zurückweisungen erlaubt.  
Merkel entschied sich 2015 dafür, die Dublin-Regeln und Schengener Grenzvorschriften weiter anzuwenden und dagegen, eine Ausnahmevorschrift wie den „Notlage“-Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union heranzuziehen. Ihre mündliche Weisung  bestätigte insofern die Rechtslage. Aus juristischer Sicht war sie unnötig – produzierte aber keine „Herrschaft des Unrechts“.  mgt.