Fritz Hartungs Tagebuch aus dem April und Mai 1945

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Der Historiker Fritz Hartung (1883 bis 1967) lehrte seit 1923 an der Berliner Universität die Fächer „Neuere Geschichte, besonders Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte“. Über die letzten Tage des Krieges in der Reichshauptstadt und die ersten zwei Wochen des Friedens hat Hartung einige Blätter knapper Notizen hinterlassen, die in ihrer Nüchternheit für ihren Verfasser charakteristisch sind. Die „Erlebnisse beim Kampf um Berlin, aufgezeichnet auf Grund von Tagebuchnotizen“, reichen vom 15. April bis zum 20. Mai 1945. Aus dieser bislang ungedruckten Quelle seien hier einige Auszüge mitgeteilt und kommentiert.

Politisch war Hartung gemäßigt nationalkonservativ; dem Nationalsozialismus stand er ablehnend gegenüber, wenngleich er, wie so viele andere auch, den offenen Konflikt mit den Machthabern vermied. Mit einigen Größen der nationalsozialistischen Wissenschaft hat sich Hartung mutig angelegt, so 1935 mit Carl Schmitt; seinen jüdischen Schülerinnen und Schülern (darunter Charlotte Jolles) hat er diskret zu helfen versucht.

Den Verlauf des Krieges verfolgte Hartung seit 1939 mit der Illusionslosigkeit des geschulten Geschichtskenners. Schon auf dem ersten Höhepunkt der hitlerschen Kriegserfolge, im Sommer 1940, blieb er skeptisch, und spätestens nach Stalingrad war für ihn klar, dass der Krieg für Deutschland verloren war. Am Beginn des letzten Kriegsjahres sah er mit stoischer Ruhe das Kriegsende herannahen. Seinem in Göttingen lehrenden Kollegen Siegfried Kaehler berichtete er Anfang Februar 1945 von der „Galgenfrist“ der Berliner Bevölkerung: „Von den Flüchtlingserlebnissen werden Schauerdinge berichtet. Vieles ist handgreiflich übertrieben und knüpft an die Kindermordgeschichten aus dem Ersten Weltkrieg an. Aber was unsere Flüchtlinge im Haus erzählt und was ich selbst an den Bahnhöfen gesehen habe, genügt mir. Meine Frau und ich wollen deshalb – und das ist die Stimmung fast aller älteren Leute – hier bleiben. Aber vielleicht werden wir eines Tages kurzer Hand zwangsevakuiert. Wir haben schon entsprechend gepackt. Vielleicht werden wir auch schon vorher aus der Luft erledigt.“

Am Nullpunkt angekommen

Der erste Abschnitt der „Erlebnisse“ umfasst die letzten Tage von Hitlers Drittem Reich, gesehen aus der Perspektive eines in einem der westlichen Berliner Vororte, in Schlachtensee, ansässigen Universitätsprofessors, der zuerst noch akademische Prüfungen abnimmt, Einzelheiten des Kampfgeschehens notiert und das langsame Verschwinden der Partei und ihrer Propaganda beobachtet. Die letzten Errungenschaften der Zivilisation beginnen jetzt zu zerfallen: Nacheinander bleiben der Strom und das Gas weg; bald funktioniert das Telefon nicht mehr, und endlich versiegen auch die Wasserleitungen in den Häusern. Dann marschieren die Russen ein. Man ist am Nullpunkt angekommen.

Die Nettelbeckstraße in der Nähe des Wittenbergplatzes im April 1945
Die Nettelbeckstraße in der Nähe des Wittenbergplatzes im April 1945AP

„15. April beginnt der neue Großangriff der Russen aus dem Raum Küstrin – Frankfurt a. d. Oder. 16. April Aufruf des Führers, schwerlich von ihm verfasst, denn das Wort ‚Ich‘ kommt in ihm nicht vor; er verheißt zwar, dass der Russe vor Berlin verbluten wird und muss, sagt aber gar nichts von besonderem Anteil der Führung an diesem Kampf, hinterlässt also den Eindruck, dass Berlin sich selbst überlassen bleibt.“ Das akademische Leben geht auch unter diesen extremen Umständen noch erstaunlich lange weiter: Während die letzte Schlacht auf den Seelower Höhen tobt, liest der Professor Klausuren, bekommt eine „Dissertation von Fräulein M.“ zugestellt und nimmt am 19. April eine „Hochbegabtenprüfung“ ab – nur fällt der Kandidat „wegen unzureichender Begabung durch. Auf dem Heimweg am Bahnhof Dahlem-Dorf vom Alarm überrascht, der durchgefallene Kandidat sucht im Luftschutzraum mich zu überzeugen, dass ihm Unrecht geschehen sei, aber es hilft ihm nichts.“

Am 20. April wird „Führers Geburtstag“ von der Bevölkerung kaum noch regis­triert. „Zeitung bringt noch einmal sein Bild und nennt ihn den Mann des Jahrhunderts. Sonst merkt man hier draußen nichts davon; weder Fahnen noch die Plakate, mit denen vor einem Jahr die Ruinen geschmückt waren. Auch die in Dahlem zahlreichen Aufschriften ‚Nein‘, die wohl der Kapitulation gelten sollen, fehlen hier.“ Bedrohlich wirkt, dass man inzwischen wegen Strommangels den Wehrmachtsbericht im Radio nicht mehr hören kann.

Neue Schrecken an den ersten Tagen

„21. April. Zeitung bleibt auch aus. Telefon, das zuletzt auch nur selten benutzbar war, ist endgültig verstummt. Bis 13 Uhr wenigstens Strom, das Radio bringt noch einige Nachrichten. Vordringen der Russen in Richtung Bernau. – Sonntag 22. April. Wir sind von der Welt abgeschnitten, vor allem mit Nachrichten. Gerüchte laufen um, Straßenkämpfe in Pankow; Panzerspitzen in Zehlendorf, die Russen in Stahnsdorf.“

Der 23. April verläuft etwas ruhiger, sodass Hartung noch eine Doktorprüfung abnehmen kann, doch zwei Tage später ist hier der Krieg vorbei: Russische Panzer fahren über die Hauptstraßen des Viertels. Der Chronist kommentiert: „Bei schöner warmer Frühlingssonne stehen die Schlachtenseer auf der Straße und wundern sich, dass die Eroberung fast kampflos erfolgt ist. Von einem Widerstand des Volkssturms ist nichts zu merken gewesen.“ Hartung erfährt ebenfalls, „dass der Ortsgruppenleiter Parteimitglieder ihres Eides auf den Führer entbunden und ihnen Ablegung aller Abzeichen empfohlen habe. ‚Werwölfe‘ finden sich zum Glück nicht; alles einig in der Ablehnung des Heckenschützenkriegs. Im Gegenteil, alle bisherigen Pgs wenden sich von Hitler ab, verbrennen Hitlerbilder, ja selbst Quittungen über Beiträge zu NS-Organisationen.“

Verteilung von Flugblättern durch die russischen Besatzungstruppen am 8. Mai 1945
Verteilung von Flugblättern durch die russischen Besatzungstruppen am 8. Mai 1945Valery Faminsky/Privatsammlung Arthur Bondar/Buchkunst Berlin

Die ersten Tage danach bringen neue Schrecken: „Allmählich kommen russische Soldaten in die Häuser und machen sich über die Frauen her.“ Fünf Tage vor Hitlers Tod beginnt, von Hartung nüchtern-präzise registriert, in Schlachtensee und Zehlendorf die unheimliche Zeit des Übergangs vom Krieg zum Frieden, es sind Tage im Niemandsland völliger Rechts- und Ordnungslosigkeit, ein Zeitabschnitt, in dem die Menschen kurzzeitig in den Naturzustand, um das eigene Überleben kämpfend, zurückgefallen sind. Weiterhin ist man von allen Nachrichten über die Kriegslage abgeschnitten; Gerüchte aller Art greifen um sich – und Flüchtlinge kommen jetzt nicht mehr aus Ostpreußen, Pommern oder Schlesien, sondern aus Wannsee, Dahlem oder Lichterfelde.

Maßvoll selbstkritisch

Jeder Gang zu einem der wenigen noch bestehenden Lebensmittelläden wird zu einem gefahrvollen Unternehmen, jeder Weg zur nächsten S-Bahn-Station gar zum lebensbedrohlichen Abenteuer. Bei einem dieser Gänge trifft Hartung seinen in der Nähe wohnenden Universitätskollegen und früheren politischen wie wissenschaftlichen Gegner Carl Schmitt: Dessen Äußerungen über ein möglicherweise neu anbrechendes „russisches“ Zeitalter mit einem Verweis auf den Linkshegelianer Bruno Bauer geben dem Historiker zu denken: Endet jetzt, so überlegt der an Leopold von Ranke geschulte Berliner Gelehrte, tatsächlich das Zeitalter der „romanisch-germanischen Völker“?

Flüchtlinge warten am Anhalter Bahnhof.
Flüchtlinge warten am Anhalter Bahnhof.Picture Alliance

„Am 26. April“, notiert Hartung, „bekommen wir Besuch von zwei Russen. Der eine bekommt auf Wunsch einen Füllfederhalter und ein paar Zigaretten, der andere eine Zigarre, sie sind freundlich und ruhig.“ Freilich ist der Kampf noch nicht zu Ende, denn „man hört noch in der Ferne viel Schießen. Vereinzelte Selbstmorde werden bekannt, Ehepaar P., Frau Dr. H. mit Tochter und Fräulein K. Sie werden einstweilen in den Gärten begraben.“

Erst am Sonntag, dem 29. April, wird es ruhiger. „Die verhältnismäßige Stille weckt Gedanken zur Lage. Zunächst unmittelbar über unsere militärisch-politische Situation. Ich finde keine historische Parallele dafür, dass eine Führung ihr Volk bis aufs letzte hat verbluten lassen, ohne jede Aussicht auf eine Wendung. Untergang Karthagos 146 v. Chr.? Vernichtung der Ostgoten? Dieser politische Egoismus, der geradezu zum Verbrechen am deutschen Volk geworden ist, ist wohl der schwerste Vorwurf, der unserer bisherigen Führung zu machen ist.“ Wenn Robert Ley, der Leiter der Deutschen Arbeitsfront, „das Wort Clemenceaus ‚Ich kämpfe vor Paris, ich kämpfe in Paris, ich kämpfe hinter Paris‘ auf Berlin anwandte – wobei zweifelhaft bleibt, ob er selbst mit Berlin und in Berlin gekämpft hat, so vergaß er, dass hinter Clemenceau die Amerikaner als Bundesgenossen standen, hinter uns aber als Feinde.“ Maßvoll selbstkritisch notiert Hartung: „Vielleicht sind wir Historiker mitschuldig an solchen falschen historischen Parallelen. Wir haben uns nicht gewehrt gegen die politische Verfälschung der Geschichte, haben – davon weiß ich mich frei – sie sogar mitgemacht oder doch – das gilt auch von mir – nicht dagegen angekämpft, die Aussichtslosigkeit des Kampfes hat uns abgeschreckt, das Opfer haben wir gescheut.“

Ein „nationaler Feiertag des deutschen Volkes“

Der zeitlebens kränkliche Professor muss, wie alle anderen Erwachsenen, auf der Straße Schutt abräumen. „Beim Schuttabfahren denke ich an: Quidquid delirant reges, plectuntur Achivi (Horaz).“ Jeden Wahnsinn der Könige müssen die Griechen büßen: Goethe hatte diesen Vers aus dem zweiten Stück des ersten Buches der „Episteln“ des römischen Dichters im März 1815 in einem Brief zitiert, nach der Nachricht von Napoleons Rückkehr von Elba, der Theologe Ernst Troeltsch am 7. November 1918 in einem Kondolenzbrief an einen Freund, dessen Sohn noch kurz vor Kriegsende gefallen war.

Der 1. Mai ist in Hartungs Kalender als „nationaler Feiertag des deutschen Volkes“ ausgewiesen; seit 1933 war der „Tag der nationalen Arbeit“ arbeitsfrei. „Aber nur mit Trauer und Beschämung an unsere Lage. Überall, wo man hinhört, Entrüstung über die führenden Männer, die es so weit haben kommen lassen. Aber dabei erhebt sich auch immer wieder die Frage, ob unser Volk, das eine solche Führung widerstandslos ertragen hat, ja sie sogar hat aufkommen lassen, die Kraft besitzen wird, sich aus dieser Not zu erheben.“ Was bedeuten die nächtlichen Artilleriegeräusche? „Es ist ein unheimlicher Zustand, so gar nicht zu wissen, wie die militärische Lage in Berlin ist, von dem übrigen Deutschland ganz zu schweigen.“

Spielende Kinder vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
Spielende Kinder vor der Kaiser-Wilhelm-GedächtniskircheFritz Eschen/Deutsche Fotothek

Nach der Kapitulation Berlins am 2. Mai – von der Hartung erst mehrere Tage später erfährt – flauen die Kämpfe langsam ab. Erst am 8. Mai gibt es ein erstes Nachrichtenblatt, auf den 3. datiert. „Daraus ergibt sich, dass Berlin am 2. Mai kapituliert hat, 70.000 Gefangene. Gefangen u. a. Ministerialdirektor Fritsche vom Propagandaministerium, nach seiner Aussage ist Hitler tot, ebenso Goebbels. Die Russen bezweifeln aber den Tod von Hitler und behaupten, er lebe und sei in die Illegalität untergetaucht. Mussolini von Antifaschisten erschossen.“ Am folgenden Tag bringt ein Bekannter die Nachricht, „dass Dönitz bedingungslos kapituliert habe. Es kann stimmen, denn man hört die Russen singen, feiern, Hurra rufen.“ Am Abend „feiern die Russen ihren Sieg durch Salutschießen mit anschließendem Feuerwerk“. Hartung liest nun „die Erinnerungen des Prinzen Max von Baden“, des letzten kaiserlichen Reichskanzlers. „Sie regen jetzt, wo wir durch die maßlos überspannten Machtansprüche ins Unglück gekommen sind, stärker zum Nachdenken an als zur Zeit ihres Erscheinens, wo ich mehr die Schwäche des Mannes empfand, der es in kritischster Stunde übernommen hatte, das Kaiserreich zu führen und zu retten.“ Die „Erinnerungen und Dokumente“ waren 1927 erschienen.

Normalisierung nach Pfingstsonntag

Am 11. Mai ist das Wetter „wieder sommerlich warm, die Trockenheit wird bereits bedenklich. Vergeblich nach Brot angestanden. Sonst aber scheint es allmählich besser zu werden. Bahnverkehr freigegeben nach Norden, Osten und Süden; wie weit man davon Gebrauch machen kann, ist ungewiss. U-Bahn soll streckenweise schon fahren; Strom steht in Aussicht. Freilich die Ernährung schwierig für Leute ohne jede Vorräte, vor allem für kleine Kinder.“

Nach dem Pfingstsonntag am 20. Mai beginnt sich das Leben langsam zu normalisieren: „Wir erfahren die Zusammensetzung der neuen Berliner Stadtverwaltung, an der Sauerbruch teilnimmt, sonst keine bekannten Namen, auch keine Politiker aus der Zeit vor 33.“ Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch wurde von der russischen Militärregierung als „Chef des Berliner Sanitätswesens“ eingesetzt. „Auf der Straße lebhafter russischer Autoverkehr. An der Sundgauerstraße verbreitet ein Lautsprecher Nachrichten, z. T. mit Propagandasätzen vermischt, darunter Ankündigungen über Postverkehr in Berlin, Geldwesen, bevorstehende Eröffnung der Banken, Inbetriebnahme von einigen, zunächst wenigen U-Bahnstrecken.“

Hiermit enden Fritz Hartungs Aufzeichnungen über das Kriegsende in Berlin. Einige Wochen später, im Juni, traf er sich mit einigen Kollegen von Universität und Akademie der Wissenschaften, um über den Neuanfang der wissenschaftlichen In­sti­tu­tionen der besetzten Hauptstadt zu beraten. Da er nie Mitglied der NSDAP gewesen war, konnte er am Neuaufbau des Berliner akademischen Lebens tätigen Anteil nehmen. Und auch die wissenschaftliche Arbeit beginnt erneut; am 22. Mai sitzt er erstmals seit Wochen wieder am Schreibtisch; eine knappe Notiz vermerkt: „Arbeit an Verfassungsgeschichte wieder aufgenommen“.