So will Rafal Trzaskowski die Präsidentenwahl gegen Karol Nawrocki gewinnen

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Der Plac Defilad im Zentrum Warschaus ist eine Riesenbaustelle. In der bisherigen Betonwüste vor dem Palast der Kultur und Wissenschaften – einst ein „Geschenk“ Stalins und heute das Wahrzeichen Warschaus – wühlen Arbeiter die Erde um. Künftig sollen hier Grünflächen und Bäume nicht nur die Sommerhitze erträglich machen, sondern auch die Umgebung des Palasts freundlich aussehen lassen. Die Bäume jedoch, oder vielmehr deren Herkunft, sorgten kürzlich für Ärger. Denn sie stammen aus einer Baumschule in Brandenburg. Für Vertreter der nationalistisch-konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im Warschauer Stadtrat roch das verdächtig nach einem (weiteren) Beweis dafür, dass Bürgermeister Rafał Trzaskowski die Hauptstadt an die Deutschen ausliefert – und das im Falle seines Sieges bei der Präsidentenwahl künftig auch ganz Polen droht.

Trzaskowski, Mitglied des liberal-konservativen Parteienbündnisses Bürgerkoalition (KO) von Ministerpräsident Donald Tusk, ist seit 2018 Warschaus „Stadtpräsident“, wie Bürgermeister polnischer Großstädte heißen. Vor fünf Jahren stieg er nach dem Ausfall der Kandidatin seiner Partei kurzfristig ins Rennen gegen Amtsinhaber Andrzej Duda ein, der für die PiS antrat, und wäre um ein Haar Präsident geworden. In diesem Jahr endet die zweite und letzte Amtszeit Dudas, weshalb die KO darauf hofft, diesmal mit ihrem Bewerber in den Präsidentenpalast einzuziehen. In einer parteiinternen Vorwahl hatten im Herbst drei Viertel der Parteimitglieder für Trzaskowski gestimmt. Und auch in allen Umfragen liegt der 53 Jahre alte Familienvater bisher vorn. Doch zu einem Sieg im ersten Wahlgang am kommenden Sonntag, wofür er die absolute Mehrheit braucht, wird es angesichts von 13 Kandidaten nicht reichen, und in der Stichwahl am 1. Juni dürfte es Analysten zufolge sehr knapp werden.

Denn die Wahl ist auch eine beinharte Auseinandersetzung zwischen den Lagern PiS und KO, die sehr gegensätzliche Vorstellungen von der Zukunft Polens haben. Die PiS tritt als wohlfahrtsstaatliche, autoritäre Kraft auf, die ähnlich wie Donald Trump in den USA „Polen zuerst“ propagiert und damit ein isolationistisches, katholisches, weißes Land mit einem traditionellen Familienbild meint. Zudem sieht sie Polen permanent von Feinden umzingelt. Allen voran von Russland, aber auch von Deutschland, das PiS-Vertreter meist in einem Atemzug mit nennen. Sie verunglimpfen Regierungschef Donald Tusk als „deutschen Agenten“ sowie Brüssel und die Europäische Union als „Eurokolchose“, die wie einst die Sowjetunion Polen kleinhalten wolle. Ob ihre führenden Vertreter das selbst glauben, spielt keine Rolle, bei der PiS-Kernwählerschaft, etwa ein Drittel der Wahlberechtigten, fällt es auf fruchtbaren Boden.

Niemand will als zu deutschfreundlich gelten

Die KO dagegen ist ein Bündnis aus Konservativen, Zentrum und Grünen, das gesellschaftlich liberal-konservative Positionen vertritt, für ein Polen innerhalb von Bündnissen wirbt, sich aber bei Themen wie Verteidigung, innerer Sicherheit und Migration lediglich marginal vom Kurs der PiS unterscheidet. Dafür glaubt sie an ein durch Zusammenarbeit in NATO und EU starkes Polen, wozu auch die Kooperation mit Deutschland zählt. Zu oft oder gar laut darüber sprechen aber wollen KO-Vertreter nicht, um deutschlandskeptische Wähler nicht zu verschrecken. Bei einer der zahlreichen Fernsehdebatten im Vorfeld der Wahl vermieden es alle Bewerber, auf die Frage, in welche Hauptstadt sie nach der Wahl zuerst reisen würden, etwa mit „Berlin“ zu antworten.

Trzaskowski ist in diesem Wahlkampf vor allem sehr vorsichtig. Trat er vor fünf Jahren noch als frischer Kandidat und neues Gesicht mit viel Energie an, ist er jetzt ständig darum bemüht, Fehler zu vermeiden. „Für mich ist das Wichtigste, niemanden zu verprellen“, sagte er diese Woche im Gespräch mit der Zeitschrift „Polityka“. Vor fünf Jahren sei es „in vielerlei Hinsicht einfacher“ gewesen und die Rolle als Herausforderer weniger belastend. Der Wahlkampf heute sei völlig anders. „Seit fünf Jahren bin ich – wenn man das so sagen kann – der Kandidat in spe.“ 2020 regierte noch die PiS, und viele Menschen verbanden mit Trzaskowski die Hoffnung auf Wandel; die Wahlbeteiligung war mit fast 70 Prozent hoch. Seit anderthalb Jahren aber ist die KO in Polen an der Macht, doch viele ihrer Wähler sind enttäuscht, auch weil versprochene Reformen wie die Liberalisierung des Abtreibungsrechts oder die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit nicht oder nur sehr langsam vorankommen. Das jedoch liegt auch daran, dass der mit der PiS verbundene Präsident Duda viele dieser Vorhaben mit seinem Veto blockiert – und Trzaskowski im Falle seiner Wahl die Bremse lösen könnte.

Nicht nur die KO betrachtet die Wahl deshalb als eine der wichtigsten für Polen seit Langem. Umfragen lassen dennoch auf eine deutlich geringere Wahlbeteiligung am Sonntag schließen, und das könnte ein Problem vor allem für Trzaskowski werden, der spätestens in der Stichwahl am 1. Juni jede Stimme des liberalen Lagers brauchen wird. Als kürzlich, wieder in einer TV-Debatte, der Kandidat der PiS, Karol Nawrocki, eine polnische und eine Regenbogenflagge hervorholte und letztere provokant auf Trzaskowskis Pult platzierte, weil die PiS den Warschauer Bürgermeister immer wieder wegen dessen liberalen Umgangs mit Minderheiten attackiert, zeigte Trzaskowski Nerven und versteckte verschämt die Fahne. Woraufhin die Kandidatin der Linken, Magdalena Biejat, sie abholte und demonstrativ auf ihr Pult stellte.

Später gab Trzaskowski zu, einen Fehler gemacht zu haben. Dass er sich nicht zu seinen Anhängern bekennt aus Angst, Wähler des gegnerischen Lagers zu verschrecken, könnte ihn, so schätzen es polnische Politikbeobachter ein, letztlich entscheidende Stimmen kosten. Dabei ist Trzaskowski der einzige unter den aussichtsreichen Bewerbern, der nicht vorrangig mit Ängsten, Schuldzuweisungen und düsteren Prophezeiungen Politik macht, sondern Zuversicht vermittelt. „Wir sollten uns von Solidarität, Empathie und Offenheit gegenüber allen leiten lassen, die Polen aufbauen wollen“, sagt er immer wieder im Wahlkampf.

Der Großstädter kämpft um die Landbevölkerung

Trzaskowski ist ein Großstadtkind, er stammt aus Warschau, wurde 1972 in eine Künstlerfamilie geboren, sein Vater war einer der Pioniere des Free Jazz in der Volksrepublik Polen. Er studierte Politikwissenschaft in Warschau, Oxford und Paris und ist von allen Kandidaten der politisch erfahrenste. In diesem Jahr traf er sich mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sowie mit Staatschefs aus Skandinavien und reiste zur Münchner Sicherheitskonferenz. Er war EU-Abgeordneter, Minister in Warschau und gewann zweimal im ersten Wahlgang die Bürgermeisterwahl in der polnischen Hauptstadt. Seine besten Wahlergebnisse als Präsidentenkandidat erzielte er schon 2020 in Großstädten, weshalb seine Gegner ihn als Teil einer abgehobenen, kosmopolitischen Elite darstellen, der zwar fünf Sprachen fließend spreche, aber vom „normalen Leben auf dem Land“ nichts verstehe.

Der Kandidat kontert das mit demons­trativen Besuchen im ländlichen Raum, in dem rund 60 Prozent der 30 Millionen Wahlberechtigten leben, und er verspricht, Landwirte vor unfairem Wettbewerb – etwa dem Import ukrainischen Getreides, der für viel Unmut sorgte – oder dem Mercosur-Abkommen zwischen der EU und Südamerika zu bewahren. Letzterem hat Polen ebenso wie Frankreich nicht zugestimmt. Zudem unterstützt Trzaskowski die von Tusk angeordnete zeitweise Aussetzung des Asylrechts für über die polnische-belarussische Grenze geschleuste Migranten, und er befürwortet eine Kürzung von Sozialleistungen für ukrainische Flüchtlinge, die in Polen nicht arbeiten. Zwar hat die Staatliche Entwicklungsbank belegt, dass ukrainische Flüchtlinge, von denen die meisten ohnehin arbeiten, mehr in die polnischen Sozialkassen einzahlen, als sie herausbekommen, doch auch Trzaskowski ist von Populismus nicht frei.

Polen habe die meisten ukrainischen Flüchtlinge aufgenommen, sagte er bei einem Treffen mit internationalen Medien auf kritische Nachfragen. „Kein Land hat hier mehr geleistet.“ Zugleich betonte er, eine Aufstockung der polnischen Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent zu unterstützen. An Deutschland formulierte er klare Erwartungen. „Deutschland muss mehr Verantwortung in Europa übernehmen“, sagte er, und dass er diesbezüglich sehr auf Friedrich Merz hoffe. „Seine CDU ist uns näher als die von Angela Merkel.“ Es sei „traurig“, dass die Kanzlerin „keinen einzigen Fehler zugibt“, doch seien ihre Flüchtlingspolitik und ihr Blick auf Putin als ein normaler Handelspartner „schwere Fehler“ gewesen.

Sein ärgster Gegner, der PiS-Kandidat Karol Nawrocki, sparte dennoch nicht mit dem Vorwurf, Trzaskowski sei lediglich Erfüllungsgehilfe der Deutschen, wobei er das polnische Wort „Kamerdyner“ verwendete. Trzaskowski wies das zurück. „Wir sind eine stolze Nation“, sagte er. „Wir treffen unsere eigenen Entscheidungen.“ So handhabt er es bisher auch in Warschau. Die Entscheidung, Bäume aus Deutschland auf dem zentralen Platz zu pflanzen, so stellte sich heraus, hatte die beauftragte Landschaftsbaufirma nach einer europaweiten Ausschreibung getroffen. Es seien, so erklärte die Firma, die für das Vorhaben passendsten und preiswertesten gewesen.