„Wir belehren niemanden, wir hören zu“

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Herr Özdemir, wenn es um die Nachfolge von Ministerpräsident Kretschmann geht, liegt Ihre Partei in Umfragen weit abgeschlagen hinter der CDU. Wie wollen Sie da Ministerpräsident werden?

Wir sind eine der innovationsstärksten Regionen Europas und der Welt. Aber jede Zeit hat neue Herausforderungen: Wir sind in einer tiefen wirtschaftlichen Strukturkrise und müssen ein neues Geschäftsmodell für unser Land entwickeln. Ich bin ein Kind des Landes. Eines Landes mit einer enorm hohen Exportquote. Da hilft es, wenn der künftige Ministerpräsident in Berlin und Brüssel Erfahrung hat. Wenn es zum Beispiel um die Interessen des Automobil-, KI- oder Medizinstandortes geht, dann werden wichtige Fragen eben auch im Bund und bei der EU verhandelt.

Für den grünen Realo Winfried Kretsch­mann stimmten 2021 fast 33 Prozent der Wähler. Mit dem Realo Robert Habeck gewann die Partei im Südwesten nur noch knapp 14 Prozent der Zweitstimmen bei der Bundestagswahl. Wie erklären Sie die Differenz?

Bei Kretschmann wussten die Wähler, was sie bekommen. So werde ich es auch halten: klar sagen, was wir vorhaben. Wer die Geschichte der Grünen Baden-Württembergs kennt, weiß, dass das Mittelstandsgen zur Partei gehört. Wir belehren niemanden, sondern hören zu. Wir machen kein Mikromanagement, sondern geben den Unternehmen und Bürgern Freiräume und trauen ihnen was zu. Das haben wir sicher im Bund hier und da falsch gemacht.

In der Klimapolitik zum Beispiel sollten wir auf marktwirtschaftliche und effiziente Maßnahmen wie einen höheren CO2-Preis setzen statt auf kleinteilige Regelungen. Ich stehe aber nicht für populistischen Kleinmut: Einen Rollback beim Klimaschutz wird es mit mir nicht geben. Ich besuche häufig mittelständische Unternehmer, kein einziger hat mir bisher gesagt, dass er seine Strategie für Ressourceneffizienz oder Klimaschutz nun ändern will. Zwischen Ökonomie und Ökologie gehört kein „oder“. Vor allem wünschen sich die Unternehmen Planbarkeit und Verlässlichkeit, kein Zickzack.

Cem Özdemir Anfang Mai auf dem Weg zur Amtsübergabe im Bundeslandwirtschaftsministerium
Cem Özdemir Anfang Mai auf dem Weg zur Amtsübergabe im Bundeslandwirtschaftsministeriumdpa

Gerade stellt sich die grüne Bundespartei neu auf. Die wiedererstarkte Linkspartei setzt die Grünen unter Druck. Nach jüngsten Umfragen könnte sie auch hier dem nächsten Landtag angehören. Wie soll sich Ihre Partei da positionieren?

Die Bundespartei hat das gut gemacht, als es um das Sondervermögen ging und um die Geschäftsordnung nach der zunächst gescheiterten Wahl von Friedrich Merz. Dieser verantwortungsvolle Kurs muss die Leitschnur sein. Das heißt auch, dass wir nichts fordern sollten, was einen Realitätstest nicht überlebt. Winfried Kretsch­mann hat mal gesagt: Opposition ist immer eine Regierung im Wartestand. Das muss der Anspruch sein in einer heiklen Zeit: die Mitte stabil halten. Das sollte so auch für die CDU gelten. Nur der eine Teil dort hat verstanden, dass die AfD nicht vorrangig die Grünen kaputtmachen will, sondern dass die Rechtsradikalen die Union ersetzen wollen.

Es ist kein Kompliment für alle Demokraten, dass so viele Wähler gerade bereit sind, der AfD ihre Stimme zu geben. Deshalb ist es jetzt so wichtig, dass alle demokratischen Parteien zeigen, dass wir die Probleme unseres Landes lösen können. Für uns Grüne heißt das: Wir passen auf, dass das Geld aus den Sonderkrediten auch wirklich in die Infrastruktur und unsere Kommunen geht. Aber jede neue Regierung hat das Recht, zu zeigen, was sie kann. Die 100-Tage-Frist sollte gelten.

Aber zum Koalitionsvertrag haben Sie doch trotzdem eine Meinung?

Ich fange erst mal an bei meinen bisherigen Ressorts: Im Landwirtschafts- und Ernährungsministerium erkenne ich erstaunlich viel Kontinuität. Das Tierhaltungskennzeichnungsgesetz soll weitergeführt werden. Übrigens mit Änderungen, die wir noch vorbereitet hatten und die die Union blockiert hatte im Bundesrat. Ich begrüße sehr, wenn es da weitergeht, weil die Notwendigkeit besteht, dass der Verbraucherwunsch nach mehr Tierwohl zusammengebracht wird mit der ökonomischen Notwendigkeit, dass die Höfe Geld brauchen, wenn sie die Ställe tiergerecht umbauen.

Das machen sie nicht zum Nulltarif. Ähnlich auch beim Düngerecht, wo es gilt, Wasserschutz bürokratiearm und europarechtskonform umzusetzen. Ich schätze Landwirtschaftsminister Alois Rainer persönlich. Glücklicherweise entzieht er sich dem Versuch des Kulturkampfes von Markus Söder. Und Frau Prien wird den Digitalpakt 2.0, den wir noch zusammen sehr kollegial auf den Weg gebracht haben, umsetzen. Und auch bei der Forschung im Ressort von Frau Bär ist das Feld gut bestellt, auch dort wird es viel Kontinuität geben.

Cem Özdemir steht neben der neuen Forschungsministerin Dorothee Bär (CSU) im bisherigen Bundesministerium für Bildung und Forschung in Berlin.
Cem Özdemir steht neben der neuen Forschungsministerin Dorothee Bär (CSU) im bisherigen Bundesministerium für Bildung und Forschung in Berlin.dpa

Kommen wir auf die Migration zu sprechen. Es gibt auch Umfragen, die zeigen, dass die Menschen andere Themen noch mehr bewegen: Gesundheitsversorgung, Bildung, öffentliche Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz. War es ein Fehler, so viel Gewicht auf die Migration zu legen?

Ich bin zwar im Kreiskrankenhaus in Bad Urach geboren. Trotzdem weiß ich als Kind von Gastarbeitern: Migration ist etwas Hochkomplexes – wenn Sie in ein anderes Land kommen mit anderer Sprache, möglicherweise anderen Regeln, anderen Traditionen. Was wir aber lange nicht ausreichend mitgedacht haben: Zuwanderung ist immer auch eine Zumutung für die, die bereits da sind. Haben wir darüber diskutiert und vor allem Vorkehrungen getroffen, damit unsere Schulen nicht überfordert werden und der Wohnungsmarkt nicht zusammenbricht? Ich fürchte, da wurde einiges verpasst. Die Mehrheitsgesellschaft muss sich darauf verlassen können, dass es geordnet und geregelt zugeht. Dass ihre Werte, ihre Traditionen anerkannt und die Belastungen vor Ort gesehen werden. Der Regelfall der Zuwanderung muss die gesteuerte Einwanderung von Fach- und Arbeitskräften sein. Nur dann wird sie Akzeptanz finden.

Nach drei Legislaturperioden grün geführter Landesregierungen steht Baden-Württemberg beim Klimaschutz mittelmäßig da. Bei der Windkraft etwa liegt das Land etwa auf einem Niveau mit dem deutlich kleineren Thüringen, Solarkraftwerke sind in Bayern doppelt so viele installiert.

Baden-Württemberg ist auch nur halb so groß wie Bayern und viel dichter besiedelt. Wenn man das ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl setzt, stehen wir gut da. Es sind jetzt rund 1100 neue Windkraftanlagen in der Pipeline. Und im letzten Jahr wurden über 160.000 Solaranlagen auf den Dächern im Land installiert, so viele wie nie zuvor. Die neue Bundesregierung darf diesen Turbo bei den Erneuerbaren jetzt nicht abwürgen.

Auch in anderen Bereichen ist die Regierungsbilanz dürftig. Das Sprachförderprogramm etwa kommt jetzt erst mit zehn Jahren Verzögerung. Die Bilanz der Landesregierung ist keine Wahlkampfhilfe, oder?

Bei Forschung und Entwicklung ist Baden-Württemberg nicht nur in Deutschland spitze, sondern in Europa führend. Aber es gibt Bereiche, wo wir besser ­werden müssen. Ich möchte das Aufstiegsversprechen der Sozialen Marktwirtschaft erneuern. Ich glaube, dass die Stärke der AfD nicht nur mit der gesellschaftlichen Realität, wie sie heute ist, zu tun hat, sondern mit der Sorge vor einer gesellschaftlichen Realität in der Zukunft. Viele glauben nicht mehr, dass es ihren Kindern besser gehen wird als ihnen selbst.

Cem Özdemir Anfang Mai mit seinem Nachfolger als Bundeslandwirtschaftsminister, Alois Rainer (CSU)
Cem Özdemir Anfang Mai mit seinem Nachfolger als Bundeslandwirtschaftsminister, Alois Rainer (CSU)dpa

Was würden Sie als Ministerpräsident dagegen tun?

Der Fokus auf frühkindliche Bildung, den die Landesregierung eingeschlagen hat, ist der richtige Weg mit verpflichtender Sprachförderung. Das hätten wir gerne auch schon einige Jahre früher machen sollen. In der Kita wird die Grundlage gelegt. Wenn da die Basisqualifikationen nicht da sind, wie sollen die Lehrer das aufholen ab der ersten Klasse? Es braucht den Ganztagesausbau von Kitas. Das ist übrigens auch wichtig unter dem Aspekt des Fachkräftemangels. Wir haben die bestausgebildete Generation von Frauen, lassen das volkswirtschaftliche Potential dieser hoch qualifizierten Frauen aber zu oft ungenutzt. Außerdem müssen wir in der nächsten Landesregierung einen Fokus auf die berufliche Bildung setzen.

Unser Land hat immer Stärke daraus gezogen, dass bei uns viele Wege zum beruflichen und persönlichen Erfolg führen. Ich werbe für eine Kombination aus kostenlosem Meister – mit einer erhöhten Meisterprämie – und Meistergründungsprämie. Damit erhöhen wir den Anreiz, sich weiter zu qualifizieren, selbständig zu machen oder Betriebe zu übernehmen. Da gibt es einen riesigen Bedarf. KI und Digitalisierung verändern unsere Arbeitswelt: Einerseits haben wir einen zunehmenden Engpass bei Fachkräften, andererseits das Risiko einer sich weiter verfestigenden Arbeitslosigkeit, gerade dann, wenn verwertbare Qualifikationen fehlen. Ein Ansatz wäre, die Berufsschulpflicht gezielt so zu gestalten, dass Jugendliche ohne Ausbildungsplatz nicht ohne Schulabschluss aus dem System rausfliegen. Das können wir uns nicht mehr leisten.

Was ist Ihr Plan für die verunsicherte Autoindustrie?

Wir sollten grundstolz darauf sein, dass wir das Land sind, in dem das Auto erfunden wurde. Aber darauf dürfen wir uns nicht ausruhen, sondern wir müssen im Land das emissionsfreie und intelligente Auto der Zukunft entwickeln. Mich erstaunt, dass die Union für die Krise der Automobilindustrie den Elektromotor verantwortlich macht. Wir müssen den Rahmen schaffen, damit der Hochlauf gelingt – zum Beispiel mit verlässlicher Ladeinfrastruktur und Investitionen in die Batterietechnologie. Denn Batterien sind der wichtigste Teil der Wertschöpfung beim Auto von morgen. Sie sind zudem ein wichtiger Baustein der Energiewende – etwa bei Hausspeichern für die Eigenversorgung oder bei Großspeichern für die Stabilisierung des Stromnetzes. Beim Thema autonomes Fahren müssen wir die Anwendung vorantreiben.