Antisemitismusbeauftragter Felix Klein zu Israels Vorgehen in Gaza und zur „Staatsräson“

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Herr Klein, ist es antisemitisch, Israels Offensive im Gazastreifen als völkerrechtswidrig zu kritisieren oder Netanjahus Regierung, wie Amnesty International und manche Linke, gar einen Genozid an den Palästinensern vorzuwerfen?

Selbstverständlich darf man das Vorgehen der israelischen Regierung hart kritisieren und fragen, ob es mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Das ist nicht antisemitisch. Aber der Begriff Genozid ist höchst problematisch. Dafür müsste Israel nachgewiesen werden können, dass die Palästinenser im Gazastreifen vorsätzlich aus ethnischen Gründen getötet werden, also weil sie Palästinenser sind. Das ist nicht der Fall. Ziele der israelischen Armee sind die Bekämpfung von Hamas-Terroristen, die die eigene Zivilbevölkerung als Schutzschilde missbrauchen, sowie die Befreiung der israelischen Hamas-Geiseln. Von Genozid zu sprechen, ist antisemitisch, weil es Israel als Ganzes dämonisiert und zur Entgrenzung führt: Ein Land, das so etwas Schlimmes macht wie einen Genozid, darf man nach dieser Logik auch bekämpfen. Und schon werden damit Angriffe auf Israel oder auf jüdische Menschen weltweit gerechtfertigt. Das führt auf eine fatale Bahn und muss daher verhindert werden.

Gerade für Deutsche ist das Vorgehen der Netanjahu-Regierung aber ein Dilemma: Deutschland steht auf ewig in Israels Schuld; gleichzeitig machen die Bilder von hungernden Palästinensern und die „Säuberungs“-Rhetorik der israelischen Regierung fassungslos. Wie soll man damit umgehen?

Indem man sich immer wieder klarmacht, weshalb dieser Krieg stattfindet. Die Hamas und ihre Verbündeten haben ihn am 7. Oktober 2023 begonnen, indem sie das größte antisemitische Massaker seit dem Ende des Holocaust verübt haben. Dieser Angriff hat Israel tief traumatisiert und auch das Schutzversprechen zerstört, das dieses Land gegenüber Jüdinnen und Juden weltweit abgegeben hat. Israel darf sich gegen den genozidalen Hass der Hamas verteidigen. Die Verhältnismäßigkeit darf dabei durchaus infrage gestellt werden. Trotzdem müssen wir, nicht nur aus historischer Verantwortung, sondern auch aus reiner Menschlichkeit, an Israels Seite stehen. Dazu gehört, ein mögliches Fehlverhalten klar anzusprechen. Die humanitäre Situation in Gaza ist katastrophal. Ein Land, das ein Gebiet besetzt, muss dafür sorgen, dass die Bevölkerung ausreichend ernährt wird, dass Hilfsgüter durchkommen, dass medizinische Versorgung stattfinden kann. Es ist inakzeptabel, dass Mitglieder der israelischen Regierung das infrage stellen. Israel ist eine Demokratie und dem Völkerrecht verpflichtet. Daran darf und muss auch Deutschland es erinnern.

Der Diplomat Felix Klein ist Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.
Der Diplomat Felix Klein ist Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.AFP

Erinnern ist vielen nicht mehr genug. Die EU will das Partnerschaftsabkommen mit Israel überprüfen. Warum lehnt Deutschland dies ab?

Weil es Israel auf eine Stufe mit Staaten wie Russland oder Iran stellen würde. Aber Israel ist ein demokratisch verfasster Staat und nicht mit diesen Ländern vergleichbar. Gerade wir Deutschen sollten in vielen Punkten zurückhaltender sein als andere Staaten.

Und wenn Israel die Offensive so unerbittlich fortsetzen sollte wie bisher?

Wenn Israel massive Völkerrechtsverletzungen nachgewiesen werden könnten, müssten auch wir über das Assoziationsabkommen neu diskutieren.

Viele sehen das Völkerrecht längst verletzt. Etwa weil Israel auch Krankenhäuser bombardiert.

Das ist inakzeptabel, ebenso wie die Berichte über Krankenwagen mit Blaulicht, die von der israelischen Armee beschossen wurden. Man muss aber auch hier differenzieren: Wenn Krankenhäuser von der Hamas als Waffenlager und Unterschlupf missbraucht werden, ist es legitim, sie zu bombardieren, dann sind sie militärische Ziele. Der Krieg zwischen Israel und der Hamas ist hybrid, die Hamas-Kämpfer kämpfen nicht in Uniform, sondern verdeckt. Sie sind keine Kombattanten im Sinne des Völkerrechts, sondern sie missbrauchen das Völkerrecht. Israel hat gar keine andere Wahl, als hart zu reagieren – auch wenn es dabei Grenzen überschreitet.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Zu diesen Grenzüberschreitungen gehört für viele, dass Netanjahu Donald Trumps Plan etwas abgewinnen kann, die Palästinenser zwangsumzusiedeln und den Gazastreifen in eine „Riviera“ zu verwandeln. Auch Sie schienen im Frühjahr in einem Interview Sympathie dafür zu äußern. Tut Ihnen das im Nachhinein leid?

Ich würde das heute so nicht mehr sagen. Mir ist aber bösartig unterstellt worden, ich wolle ethnische Vertreibung billigen, was völliger Unsinn ist. Mein Punkt war: Die bisherige Nahostpolitik hat den Konflikt nicht gelöst, sondern nur zu unendlichem Leid auf beiden Seiten geführt. Und man kann Trump, bei aller Kritik an seinen radikalen und oft absurden Gedanken, immerhin bescheinigen, dass seine disruptive Art grundsätzlich kein schlechter Ansatz sein muss. Natürlich darf Israel die Palästinenser nicht vertreiben. Und es müsste der palästinensischen Bevölkerung grundsätzlich helfen. Das Fatale ist, dass Israel bis heute keine strategischen Ziele für die Zeit nach dem Militäreinsatz definiert hat. Auch in diesem Punkt muss Deutschland auf Klarstellung drängen.

Nach seinem Wahlsieg hat Friedrich Merz dem israelischen Ministerpräsidenten einen Besuch in Deutschland in Aussicht gestellt. Weil gegen Netanjahu ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vorliegt, müsste Deutschland ihn festnehmen und ausliefern. Hat Merz sich in eine Sackgasse manövriert?

Mit einem Besuch Netanjahus würde der Bundeskanzler ein Zeichen für die besondere Beziehung Deutschlands zu Israel setzen. Aber es stimmt, dass an der Stelle zwei grundsätzliche Narrative der deutschen Außenpolitik kollidieren. Es ist Staats­räson, die Existenz Israels zu sichern, aber wir sind auch Gründungsmitglied und Unterstützer des Internationalen Strafgerichtshofs, dessen Entscheidungen wir umsetzen müssen.

Was wiegt im Zweifel schwerer: Staatsräson oder Strafgerichtshof?

Ich fände es am besten, wenn der Kanzler Netanjahu zunächst nicht in Berlin, sondern in Jerusalem oder in New York träfe. Der ungarische Weg, Netanjahu einzuladen und aus dem Strafgerichtshof auszutreten, wäre jedenfalls der falsche.

Ist eine Debatte darüber nötig, was der Begriff Staatsräson bedeutet?

Ich plädiere sehr dafür, ehrlicher über den Begriff Staatsräson zu diskutieren, genauso wie über das Wort Existenzrecht. Beide Begriffe sind für das deutsche Staatsverständnis und das Verhältnis zu Israel existenziell, aber sie sind auch unscharf und erschweren dadurch die Debatte. Wir müssen uns mit aller Kraft dafür einsetzen, die Sicherheit ­Israels und der Juden weltweit zu bewahren. Aber wir müssen auch klar sagen, dass das keine Rechtfertigung für alles ist. Die Palästinenser auszuhungern und die humanitäre Lage vorsätzlich dramatisch zu verschlimmern, hat nichts mit der Sicherung des Existenzrechts Israels zu tun. Und es kann auch nicht deutsche Staatsräson sein.