Als der Mord an dem Chef von United Healthcare, der größten Krankenversicherung Amerikas, bekannt wurde, ergoss sich neben Mitgefühl und Entsetzen eine Welle aus Häme und Schadenfreude über die sozialen Medien. Einige feierten den Absolventen einer Elitehochschule und Spross einer schwerreichen Familie, der den Krankenhausmanager vermutlich erschoss, als Rächer der Entrechteten eines auf Gier und Profit ausgerichteten Systems.
Sein Antlitz mit der Zeile „Free him!“ ziert T-Shirts und Kaffeebecher, die mit geschäftigem Eifer vermarktet werden. Im hinterlassenen Manifest des mutmaßlichen Mörders heißt es: „Ich entschuldige mich für etwaige Unannehmlichkeiten oder Traumata, aber es musste getan werden. Ehrlich gesagt, hatten diese Parasiten es einfach verdient.“ Krankenversicherer seien „zu mächtig und missbrauchen unser Land weiterhin für immense Gewinne“.
Um ein Winston Churchill zugesprochenes Zitat abzuwandeln: Die Mordtat ist höchst unmoralisch, schlimmer noch, sie ist dumm. Amerikas Krankenversicherungen kann man vieles vorwerfen, immense Gewinne gehören nicht dazu. Der Marktführer United Healthcare erreicht eine Gewinnmarge von sechs Prozent. Die durchschnittliche Gewinnmarge der S&P-500 Unternehmen liegt mit elf Prozent fast doppelt so hoch. Der Pharmakonzern Novartis beispielsweise kann rund 30 Prozent vorweisen und belegt, dass in der Wertschöpfungskette der Gesundheitsdienstleistungen andere Akteure stärkere Marktpositionen einnehmen als Versicherer. (Pharmaunternehmen rechtfertigen ihre Margen mit hohen Forschungs- und Entwicklungskosten.)
Das US-Gesundheitswesen ist das teuerste der Welt
Damit ist nicht gesagt, dass Versicherte in Amerika keinen Grund haben, sich über Krankenversicherungen zu ärgern. Jedem fünften Versicherten wurde die Kostenübernahme für Behandlungen mindestens einmal entgegen ihrer Erwartung verweigert, jeder vierte erhielt von den Versicherern einmal oder öfter weniger Geld als eingeplant. Vier von zehn Versicherten verzichten auf Gesundheitsleistungen, weil die Versicherung die Kosten nicht übernimmt. All das zeigen jüngste Umfragen. Dazu häufen sich Indizien, dass die Krankenversicherungen Kostenübernahmen häufiger ablehnen als früher. Schlimm ist die Unsicherheit. Die Versicherten wissen oft nicht genau, welcher Teil der Behandlungskosten an ihnen hängen bleibt.
![Nichts rechtfertigt diese Tat: Die Aufnahme einer Überwachungskamera zeigt den brutalen Mord am Manager Brian Thompson. Nichts rechtfertigt diese Tat: Die Aufnahme einer Überwachungskamera zeigt den brutalen Mord am Manager Brian Thompson.](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2024/12/Amerikas-Gesundheitssystem-hilft-dem-Rest-der-Welt.jpg)
Im amerikanischen Gesundheitswesen haben nahezu alle Akteure den Anreiz, zu teuer zu produzieren. Sie überdramatisieren Diagnosen, um Therapien und Medikamente zu rechtfertigen, die wiederum teurer sind als in den meisten Industrieländern. Unterdessen bilden sich unter der Regie von Private Equity-Investoren lokale Gesundheitsmonopole mit entsprechenden Folgen für die Preise.
Tatsächlich gibt kein Land mehr pro Kopf für die Gesundheit seiner Bürger aus als die Vereinigten Staaten. Das deutet einerseits auf Ineffizienz, aber anderseits folgen die USA damit einem generellen Trend: Mit wachsendem Reichtum steigt der Konsum an Gesundheitsleistungen. Und die USA sind reich. Das Argument, Amerikas Versagen im Gesundheitswesen zeige sich daran, dass die Amerikaner eine niedrigere Lebenserwartung haben als die meisten Europäer, sticht allerdings nicht. Denn es ignoriert die Rohheit des Landes.
In den USA sind gewaltsame Tode üblich, es sterben mehr Menschen bei Autounfällen und an Drogen als in anderen reichen Ländern, und ein überraschend hoher Anteil der Bevölkerung isst sich fett, bevor der Arzt interveniert. Das spricht gegen die USA, aber nicht gegen das Gesundheitswesen. Wenn diese Faktoren eliminiert sind, entspricht die Lebenserwartung dem Standard der Industrieländer.
Es stimmt: Internationale Vergleiche zeigen, dass es bessere Gesundheitssysteme gibt. Aber nicht viele. Selbst die besseren Systeme stehen in den eigenen Ländern in der Regel unter beständiger Kritik. Überdies profitieren sie von einem schmutzigen Geheimnis. Sie sind Trittbrettfahrer des amerikanischen Gesundheitssystems, das in einer Hinsicht unschlagbar ist.
Es steuert deutlich mehr als alle anderen Länder zum medizinischen Fortschritt bei mit einer den Fortschritt eher beflügelnden Regulierung. Vor allem aber mit viel Geld von amerikanischen Steuerzahlern und privaten Investoren, die unverfroren genug sind, für ihren Kapitaleinsatz Rendite zu fordern. Wer die tiefe Erleichterung darüber teilt, dass beispielsweise viele Krebsvarianten in den vergangenen drei Dekaden von einer tödlichen zu einer chronischen Krankheit geworden sind, darf dem Profit jagenden Amerika deshalb ein stilles „Danke“ schicken.