Die georgischen Machthaber gehen nun auch gezielt gegen Oppositionspolitiker vor. Am Mittwoch wurde Nika Gwaramia festgenommen, einer der Anführer der Koalition für den Wandel. Aufnahmen zeigten, wie der reglose Gwaramia von einer Gruppe maskierter Männer davongetragen wird. Laut seinem Bündnis wurde er „bewusstlos geschlagen“. Umstehende riefen, dass Gwaramia medizinische Hilfe benötige, doch fuhren die Polizisten mit ihm davon. Angeblich erlitt er eine Kopfwunde. Zusammen mit Gwaramia wurde ein weiteres Mitglied der Koalition festgenommen.
Zuvor hatten Polizisten eine Razzia in den Räumlichkeiten der im offiziellen Ergebnis der Parlamentswahlen von Ende Oktober zweitplatzierten politischen Kraft im Zentrum der Hauptstadt Tiflis abhalten wollen. Das hatten Gwaramia und seine Mitstreiter abgelehnt, da es keine richterliche Anordnung gebe. „Wir erwarten vollumfängliche Repressionen“, sagte Gwaramia kurz vor der Gewalt gegen ihn. „Gegen uns ist Russland, daher sind wir immer in Bereitschaft.“ Georgien sei „in einer Phase des Übergangs von einem autoritären Regime zu einer Diktatur.“
Russland, Belarus und nun Georgien?
Die Sicherheitskräfte gingen auch gegen den Administrator einer Social-Media-Protestgruppe und mehrere Oppositionsparteien vor, so gegen die Jugendbewegung der Vereinten Nationalen Bewegung. Die Vorsitzende dieser Partei, Tina Bokutschawa, sagte, in Georgien geschehe das, was zuvor in Russland und Belarus geschehen sei. Das Land sei „faktisch erobert“ von dem „illegalen russischen Regime“ Bidsina Iwanischwilis.
Dieser in Russland reich gewordene Geschäftsmann ist als Ehrenvorsitzender der Machtpartei Georgischer Traum der faktische Entscheider in Tiflis und gilt als treibende Kraft hinter der prorussischen Wende, die zu Massenprotesten geführt hat, seit Ministerpräsident Irakli Kobachidse am vergangenen Donnerstag verkündet hat, den EU-Beitrittsprozess des Landes „bis Ende 2028“ auszusetzen. Diesen hat die EU ohnehin im Juni wegen „demokratischer Rückschritte“ Georgiens eingefroren, und Kobachidse hat seine Worte relativiert.
Doch sehen viele Georgier einen Bruch mit dem auch von der Verfassung des Landes gebotenen Kurs gen EU und NATO. Viele Berichte sprechen dafür, dass sich Iwanischwilis Partei in der Parlamentswahl Ende Oktober nur durch Manipulationen behaupten konnte. Kobachidse drohte am Dienstag zahlreichen Staatsdienern, die auch gegen den Kurs der Machthaber protestiert haben, mit Vergeltung. Oppositionspolitiker, die „Gewalt organisiert“ hätten, würden „der Verantwortung nicht entkommen können“, auch nicht „Leiter wohlhabender Nichtregierungsorganisationen“, die hinter Protestaktionen steckten. Das Vorgehen der Polizei vom Mittwoch wirkt die Umsetzung dieser Drohungen.
Und wieder: Tränengas und Wasserwerfer gegen Demonstranten
In der Hauptstadt Tiflis setzte die Polizei in der Nacht auf Mittwoch neuerlich Tränengas und Wasserwerfer ein, um Demonstranten von der zentralen Rustaweli-Straße zu vertreiben. Demonstranten schossen wieder Feuerwerkskörper ab. Etliche von ihnen trugen Gasmasken und selbst gefertigte Schilde. Mediziner fordern das Gesundheitsministerium auf zu klären, welche chemischen Substanzen gegen die Demonstranten eingesetzt werden, das Gas könne schwere Gesundheitsschäden verursachen – bisher indes ohne Erfolg.
In sechs Protestnächten seit Kobachidses Ankündigung sind offiziell mindestens 315 Personen festgenommen worden. Bis Dienstag wurden laut Innenministerium 143 Polizisten verletzt; zur Zahl der verletzten Demonstranten fehlen Angaben. Die Polizei geht laut Anwälten und Videoaufnahmen äußerst brutal gegen die Protestteilnehmer vor. Georgiens Menschenrechtsombudsmann, Levan Ioseliani, sprach von „ernsten Verletzungen“ an Gesicht, Augen und Kopf. Es entstehe der Eindruck, dass die Polizei Gewalt zur Bestrafung anwende. Derlei sei Folter.
Giorgi Gacharia, ein früherer Ministerpräsident des Georgischen Traums, der nun aber eine Oppositionspartei führt, sagte, anscheinend sei maskierten Personen Straflosigkeit versprochen worden, um Gewalttaten zu verüben und den Opfern auch persönliche Gegenstände wie Telefone, Taschen zu nehmen.
Berlin setzt die Entwicklungszusammenarbeit aus
Das amerikanische Außenministerium verurteilte den „übermäßigen Einsatz von Gewalt“ bei der Auflösung von Demonstrationen. Zudem seien die Vereinigten Staaten „tief besorgt“ über Berichte, denen zufolge Journalisten festgenommen und angegriffen wurden, sagte ein Sprecher am Dienstag. Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Volker Türk, sprach ebenfalls von „unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstranten und Medienvertreter“. Der Österreicher kritisierte, dass die Sondereinsatzkräfte keine Dienstmarken oder Identifizierungsnummern zur Klärung der „individuelle Verantwortung“ haben.
Deutschland setzt derweil die Entwicklungszusammenarbeit mit Georgien aus. Es würden keine neuen Vorhaben mehr zugesagt oder beauftragt und keine Kreditverträge unterzeichnet, teilte Ministerin Svenja Schulze mit. Das Entwicklungsministerium habe „den europäischen Weg Georgiens bislang unterstützt“. Das sei „mit dieser georgischen Regierung“ nicht länger „sinnvoll umsetzbar“. Neue Entwicklungsvorhaben seien schon nicht mehr zugesagt worden, seit im Mai das Gesetz um „ausländischen Einfluss“ verabschiedet wurde. Dieses dient angeblich der Transparenz in Zivilgesellschaft und Medien, wird aber von den Betroffenen, der Opposition und Georgiens bisherigen westlichen Partnern als an russischem Vorbild orientiertes Gängelungsinstrument gewertet.
Vertreter Estlands, Lettlands und Litauens wurden am Dienstagabend ins georgische Außenministerium einbestellt, wo ihnen „Besorgnis“ ausgesprochen wurde. Die drei baltischen Staaten hatten am Montag Einreisesperren gegen „an Menschenrechtsverletzungen beteiligte“ Georgier verhängt. Betroffen sind Innenministeriumsfunktionäre, aber auch Iwanischwili selbst.