Warum trug Jette Nietzard von der Grünen Jugend den ACAB-Pulli?

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Nach heftiger Kritik an einer Onlineprovokation zur Polizei hat sich die Vorsitzende der Grünen Jugend zunächst zum Schweigen entschlossen. Die 26 Jahre alte Pädagogin hatte sich am Wochenende auf einer sozialen Plattform mit einem „ACAB“-Pullover gezeigt. Die Aufschrift, in linken Kreisen wohlbekannt, bedeutet „All Cops Are Bastards“ – alle Polizisten sind Bastarde.

Das hatte Kritik von außen, vor allem aber aus der eigenen Partei pro­voziert: Während der Parteivorsitzende Felix Banaszak die Sache als „nicht sehr klug“ und „inakzeptabel“ bezeichnete, legte Cem Özdemir, Spitzenkandidat für die Landtagswahl in Baden-Württemberg, Nietzard den Parteiaustritt nahe. Özdemir sagte, die Polizei verteidige „jeden Tag in höchstem persönlichen Einsatz die Werte, die uns als Partei ausmachen“, wer das nicht kapiere, sei bei den Grünen falsch. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irene Mihalic, selbst von Beruf Polizeivollzugsbeamtin, sagte, die Äußerung habe sie „persönlich tief ge­troffen“.

Nietzard hatte später eingestanden, dass der Auftritt mit einem Pulli, „den ich als Privatperson besitze“, auf ihrem pri­vaten Account „nicht der richtige Weg gewesen sei, um auf die Probleme aufmerksam zu machen. Sie hasse „nicht die Polizei als Ganzes“, aber das System dahinter. Um diese ebenfalls drastische Aussage zu verstehen, kann man auf frühere Äußerungen der Führung der Grünen Jugend verweisen. Diese hatte in einem Gespräch mit der F.A.Z. nach dem Tode des Jugendlichen Lorenz A. in Oldenburg durch Polizeischüsse, darunter mehrere in den Rücken, Forderungen zur Reform der Polizei aufgestellt.

Nicht nur Nietzard kritisiert die Polizei

Beide Vorsitzenden, Jacob Blasel und Nietzard, sahen den Tod des jungen Mannes mit familiären Wurzeln in Togo als Teil einer Kette von Rassismus und Gewalt innerhalb der Polizei. Sie bemängelten, dass bei dem Einsatz die Body Cams der beteiligten Polizisten ausgeschaltet waren. Nietzard sagte der F.A.Z., diese Ka­meras müssten verbindlich laufen, wenn physische Gewalt eingesetzt wird, erst recht bei Schusswaffengebrauch. Lorenz A. sei „brutal niedergeschossen“ wor­den, sagte Jakob Blasel, es sei ein „Skandal“, dass den Fall nun die benachbarte Polizei von Delmenhorst aufklären solle, die selbst schon in einen ähnlichen Fall verwickelt gewesen sei.

Gemeint ist der Tod eines jungen Mannes, Qosay K., der 2021 nach einer Polizeikontrolle in einer Gewahrsamszelle kollabiert und gestorben war. Ermittlungen dazu ergaben bislang kein schuldhaftes Verhalten der Polizei. Nietzard verlangt unabhängige Ermittlungen in Fällen von Polizeigewalt und zudem „unabhängige wissenschaft­liche Untersuchungen zu Rassismus und Gewalt innerhalb der Polizei“.

Die Kritik an der Polizeiarbeit äußert nicht allein die häufig provokativ auftretende Nietzard, sondern sie wird auch vom Ko-Vorsitzenden und vielen Funktionären und Mitgliedern der Grünen Jugend geteilt. Hintergrund sind nicht zuletzt schlechte Erfahrungen, die Grüne, aber auch andere Jugendliche immer wieder mit polizeilichem Handeln machen, insbesondere bei Demonstrationen.

Die Reaktionen darauf sind zumeist abwehrend, Kritik wird nicht selten als pauschale Beleidigung der Polizei empfunden. Nach dem Vorfall in Oldenburg sagte beispielsweise die niedersächsische Innenministerin Daniela Behrens (SPD), die Polizei sei „keine schießwütige Truppe“, und sie sprach von einem „tragischen Fall“, noch bevor die Ermittlungen abgeschlossen waren.

Die Kritik der Grünen an dem Jugendverband fällt auch deswegen heftig aus, weil die Partei ihr Verhältnis zum Gewaltmonopol des Staates – und damit zur Polizei – erst nach jahrelangen innerparteilichen Auseinandersetzungen geklärt hatte. Ob sich Nietzard nach einer Reihe von Provokationen im Amt wird halten können, wird auch in Kreisen der Grünen Jugend bezweifelt.

Özdemir wirbt um Engagement in Mitte der Gesellschaft

In Baden-Württemberg kümmert sich der am Wochenende in Heidenheim gewählte Spitzenkandidat Cem Özdemir seit Wochen um ein kooperatives Verhältnis zum Landesverband der Grünen Jugend, um Konflikte im Wahlkampf zu vermeiden. Früher hatten die „Kretschmann-Realos“ die Grüne Jugend ignoriert; Özdemir, der sich als gelernter Sozialpädagoge mit Jugendarbeit auskennt, ermunterte die Grüne Jugend, sich stärker in der Mitte der Gesellschaft zu engagieren, also auch mit der Landjugend, der Jugendorganisation der Gewerkschaft der Polizei und der Feuerwehrjugend zu reden, und nicht nur mit den klassischen Grünen-nahen Organisationen.

„Wir haben mit vielen Stakeholdern Gespräche geführt und aus den Vorschlägen einen Aktionsplan entwickelt“, sagte die Landesvorsitzende der Grünen Jugend, Tamara Stoll, der F.A.Z. Entsprechend dieser, auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens angelegten Linie war es aus Özdemirs Sicht nur konsequent, Nietzard den Rücktritt nahezulegen. Stoll kommentierte die Debatte über Nietzards Verhalten nicht.

Nur die Grüne Jugend in Mannheim, wo Anfang Juni 2024 der Polizist Rouven Laur an den Folgen einer islamistisch motivierten Messerattacke gestorben war, veröffentlichte eine Stellungnahme. Darin ordnet man die Abkürzung ACAB als „Systemkritik“ ein, stellt aber zugleich fest, dass man diesen Slogan nicht als „Beleidigung gegenüber Polizist:innen“, die „vollumfänglich auf dem Boden des Grundgesetzes“ stünden, interpretieren solle. Gerade in Mannheim habe man als Stadt vor einem Jahr erleben müssen, was es bedeute, „wenn Feinde der Demokratie versuchen, gegen Grundsätze dieser Demokratie vorzugehen, und schmerzlich erfahren, wie hoch der Preis sein kann, wenn die Polizei die freiheitlich-demokratische Grundordnung verteidigt“, heißt es in der Erklärung.

Ministerpräsident Winfried Kretsch­mann forderte Nietzard zum Verlassen der Grünen auf. Er nannte ihre Aussagen „klassisch linksradikales Sektierertum“. Mit Bezug auf den Landtagswahlkampf sagte er: „Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr.“ Seine Partei habe auf der Landesliste mit Clara Schweizer eine „sehr tüchtige und pragmatische Kandi­datin“ der Grünen Jugend aufgestellt. Schweizer ist Reala und bewirbt sich zudem in Kretschmanns Wahlkreis Nürtingen für ein Direktmandat.

Die Grüne Jugend hatte für vier Kandidaten Voten abgegeben, um sie auf der Landesliste un­terzubringen, aber nur Schweizer war auch von ihrem Kreisverband aufgestellt worden. Somit findet sich unter den ersten vierzig Plätzen der Landesliste nur eine Vertreterin der Grünen Jugend. Die macht im Landesverband immer mal wieder Stimmung mit Kampfkandidaturen gegen Abgeordnete des Realo-Flügels. Die Realos im Südwesten lehnen das ideologische Auftreten der Grünen Jugend ab. Anders als im von den Parteilinken vollständig dominierten Grüne-Jugend-Bundesvorstand, sitzt mit Meike Hipp im Grüne-Jugend-Landesvorstand eine Reala.