Ein historischer Tag im Bundestag

22

Scholz steht im Plenarsaal, dem Herzstück des Reichstagsgebäudes. 1200 Qua­dratmeter demokratischer Boden unter ihm. Über ihm erhebt sich die gläserne Kuppel, 24 Meter hoch. Über seiner rechten Schulter, vielleicht fünf Meter entfernt, ist der Stuhl montiert, den er verteidigen will. Der Kanzlersitz in der Kabinettsbank des Bundestages. Die Lehne ist etwas höher als die der Ministersessel. Scholz will ihn nicht schon wieder räumen müssen, auch wenn die Mehrheit der Abgeordneten ihm an diesem feuchtwarmen Dezembermontag in Berlin nicht das Vertrauen aussprechen wird. Aber das verläuft immerhin mal nach Plan.

Scholz spricht kaum zwei Minuten, als er in den Angriffsmodus umschaltet. Um in eine Regierung einzutreten, brauche es „sittliche Reife“, giftet Scholz. Vielleicht zehn Meter vor ihm, genau in der Schuss­linie seiner Worte, sitzt Christian Lindner, der FDP-Vorsitzende und Ex-Finanzminister von Scholz. Auf ihn zielt der Kanzler mit seinem ersten Angriff. Er habe, so sagt Scholz, die Koalition über drei Jahre zusammengehalten. Das habe Kraft ge­kostet, man habe aber auch Erfolge erzielt. Dann, falls irgendjemand noch nicht begriffen haben sollte, wen der Kanzler für den Bruch der Ampel verantwortlich macht, wirft er der FDP „Sabotage der Regierung“ vor.

Der nächste Schritt zur Neuwahl des Bundes­tages

So endet, was Ende 2021 mit SPD, Grünen und FDP als selbst ernannte Fortschrittskoalition begonnen hatte und in diesem Herbst schon in eine rot-grüne Minderheitsregierung zerfallen war. Eine Rede von Scholz zur Begründung der Vertrauensfrage, eine zweistündige Debatte, namentliche Abstimmung. Es ist der nächste Schritt zur Neuwahl des Bundes­tages, zu einer neuen Regierung. Es ist ein historischer Tag, der Fall eines Kanzlers, vorerst, das Ende von Karrieren – und doch auch ein Neuanfang?

Karl Lauterbach hat an diesem Morgen gemischte Gefühle. Er sitzt am Konferenztisch in seinem Ministerbüro, vor ihm eine dicke Akte, vor den Fenstern trübes Ber­liner Vorweihnachtswettergrau. Der SPD-Gesundheitsminister sagt, dass es nicht anders ging, Lindner musste aus der Koa­lition geworfen werden. „Was Lindner und die FDP gemacht haben, war eine niederträchtige Täuschung.“
Karl Lauterbach (SPD): Mit seiner Bilanz als Minister ist er zufrieden.
Karl Lauterbach (SPD): Mit seiner Bilanz als Minister ist er zufrieden.Omer Messinger

Lauterbach, selbst Tischtennisspieler und Hobbyfußballer, erinnert daran, dass man Mannschaftsspieler in einer Koalition sein müsse, sonst gehöre man nicht auf den Platz. Aber schade sei es schon, dass seine bisherige Arbeit als Minister erst einmal ende. Lauterbach hat auch zu früher Stunde die Zahlen parat: 19 Gesetze hätten er und sein Haus in drei Jahren geschafft. Darunter drei dicke Brocken: das Me­dizinforschungsgesetz, die elektronische Pa­tientenakte und die Krankenhausreform. Bei Letzterem hat sich Lauterbach mit nahezu allen im Land angelegt. Mancher Ministerpräsident schäumte. Lauterbach sagt, der Gesetz­gebungsprozess habe ihm Spaß gemacht. Mit seiner per­sönlichen Bilanz als Minister ist er zu­frieden.

Mit seinem Kanzler auch. Lauterbach ist ein Scholz-Fan. Man wisse immer, woran man mit ihm sei. Außerdem habe er ihm, Lauterbach, immer freie Hand gelassen in der Gesundheitspolitik. Lauterbach war vor drei Jahren eine Art SPD-Volks­minister, ins Amt gehoben durch die enorme Zustimmung in der Bevölkerung während der Corona-Pandemie.

Wenn man mit Lauterbach spricht, bekommt man schnell das Gefühl, dass da einer gern weitermachen würde. Lauterbach sagt selbst, dass acht bis neun weitere Gesetze fertig seien, nur fehlt eben die Mehrheit im Bundestag. Jetzt steht erst mal der Wahlkampf an. 60 Anfragen hat Lauterbach schon aus der ganzen Repu­blik für Auftritte. Er ist weiterhin seine eigene Marke. Die Marke SPD versucht er Stück für Stück wieder mit aufzubauen. Am Gesundheitskapitel des Wahlprogramms hat er entscheidend mitgewirkt. Zwei Botschaften sind ihm wichtig: Deckelung der Pflegekosten und Abschaffung der Zweiklassenmedizin. Auch die versprochene Termingarantie sei eine gute Sache. Jetzt kann es losgehen Richtung Reichstag.

Vom Sommer 2022 an ging es bergab

Bevor für Omid Nouripour der Tag so richtig losgeht und ihn schließlich in den Reichstag führt, empfängt er noch im Café Einstein. Es ist früh, er ist der erste Gast. Der ehemalige Grünenvorsitzende hat die Ampel drei Jahre lang mitgeführt und den Niedergang begleitet, all die vertanen Gelegenheiten. In der ersten Jahreshälfte 2022 habe die Koalition eine gute Zeit gehabt sagt er. Alle machten nach Russlands Angriff auf die Ukraine, was nötig war. Niemand habe im Verdacht gestanden, hauptsächlich die eigenen Parteien und Wählerschaften im Blick zu haben. Von da an ging es bergab.

Ende September waren Nouripour und die Ko-Vorsitzende Ricarda Lang zurückgetreten. Nach Jahren als politischer Generalist beginnt der Frankfurter nun wieder, ein Fachgebiet zu beackern. Im Wirtschaftsausschuss hat er den Platz von Felix Banaszak eingenommen. Auf dem Weg ins Büro begegnen sich die beiden auf der Straße, der neue Parteivorsitzende kommt vom grünen Koordinierungstreffen. Eine kurze Umarmung, ein paar Worte, dann geht es weiter. Nouripour hat im dritten Stock des Jakob-Kaiser-Hauses sein Ab­geordnetenbüro. Es wird von zwei Bildern dominiert: Ein gerahmtes Foto zeigt den Deutschen Meister von 1959, Eintracht Frankfurt, gegenüber hängt Norbert Lammert in Öl. Nouripours Vorlieben.

Enthielt sich bei der Vertrauensfrage: Omid Nouripour (Grüne)
Enthielt sich bei der Vertrauensfrage: Omid Nouripour (Grüne)Omer Messinger

Nouripour eilt in eine Telefonkonferenz mit den hessischen Grünen. Am Wochenende ist er auf Platz vier der Landesliste aufgestellt worden. Sein Ziel: Er will sein Direktmandat im Wahlkreis Frankfurt II verteidigen. Er wolle wissen: „War es nur ein Lucky Punch, ein Glückstreffer, oder schaffe ich das noch mal?“ Um zehn kommen drei Mitarbeiter zur Besprechung, Dutzende Termine werden abgesprochen, im Wahlkreis, in Hessen. Telefonate, Wahlkampfstände. Eine Frage zur Vertrauensfrage: „Wie stimmst du ab?“ – „Wie die Fraktion, also Enthaltung.“ Im Rausgehen bittet Nouripour seine Büroleiterin, ihm mal das Grüne Wahlprogramm zu besorgen, das am Wochenende fertig geworden ist. Um zwölf ist „Frasi“, bevor sie in den Plenarsaal gehen, treffen sich die Abgeordneten zur Fraktions­sitzung.

Um 11.45 Uhr betritt der Mann des Tages den Ort des Geschehens. Scholz kommt zusammen mit seiner Ehefrau Britta Ernst durch den Nordeingang des Bundestags. Er grüßt freundlich die im Foyer Stehenden, und geht federnden Schrittes die Treppe hoch. Der Fraktionssaal der SPD füllt sich. Lauterbach steht im kleinen Kreis neben seinen Ministerkollegen Boris Pistorius, Nancy Faeser, Svenja Schulze und Klara Geywitz. Es wird viel gelacht, fast aufgekratzt wirkt die Stimmung. Dann baut sich immer kräftiger Applaus auf, Scholz betritt den Fraktionssaal, weiterhin demonstrativ gut gelaunt. Auf der Bank der Fraktionsführung nimmt er neben seiner Frau Platz. Die nimmt normalerweise nicht an Fraktionssitzungen teil, sie ist keine Bundestagsabgeordnete. Rolf Mützenich, der Fraktionschef, spricht von einem besonderen Tag, „einem Tag der Klarheit“. Dann schließen sich die Türen.

Lauterbach wird später im Abgeordnetenrestaurant im Reichstag bei einem Glas Orangensaft und einem Teller mit Apfelstücken erzählen, dass manche SPD-Abgeordnete große Sorgen hätten. Wegen der Umfragen, aber auch wegen des neuen Wahlrechts müssen einige von ihnen damit rechnen, es nicht wieder in den Bundestag zu schaffen. Aber dann sagt er auch: „Es war gerade ein feierlicher Moment in der Fraktion.“ So wie man vor der Schlacht den Helm abnehme zum Gebet. Jetzt beginne der Wahlkampf. Dann klingelt es, die Plenarsitzung beginnt in wenigen Minuten.

Andere wollten mit der Vertrauensfrage die Reihen schließen

Fünfmal zuvor erst hatte es in der Bundesrepublik einen solch besonderen, ei­nen solchen Tag der Klarheit gegeben. Seit Willy Brandt 1972 zum ersten Mal allerdings die Vertrauensfrage gestellt hatte, schaffte es nur noch ein Regierungschef durch seine Amtszeit, ohne das Par­lament nach dem Vertrauen zu fragen: Es war eine Chefin, Angela Merkel von der CDU.

Alle anderen fragten mindestens einmal, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: um etwa die eigenen Reihen hinter sich zu schließen, wie es der Sozialdemokrat Helmut Schmidt im Februar 1982 noch geschafft hatte, bevor ihn die FDP verließ und er im Oktober mit einem konstruktiven Misstrauensvotum gestürzt wurde. Oder um wie Gerhard Schröder in einer schwierigen Lage für seine Partei einen Befreiungsschlag zu schaffen und eine Neuwahl zu ermöglichen. Fast wäre ihm danach die Aufholjagd gelungen im Wahlkampf. Doch es folgten 16 Jahre Merkel im Kanzleramt. Und darauf Scholz, gut drei Jahre bislang.

Bijan Djir-Sarai hat diesen Bundeskanzler Ende 2021 mitgewählt. Seine FDP hat die Koalition nun verlassen, seinen Arbeitsplatz in der Parteizentrale musste Djir-Sarai auch räumen, und so bleibt ihm noch sein Abgeordnetenbüro: Dort bereitet sich der frühere FDP-Generalsekretär bei Kaffee und Zimtsternen vor, bevor er in das Plenum geht, um dem Kanzler das Vertrauen zu entziehen.

Er blickt aber nicht nur auf das Scheitern der Koalition zurück, sondern auch ein bisschen auf sein eigenes. 43 Sekunden dauerte seine Rücktrittserklärung, in der er die „poli­tische Verantwortung“ dafür übernahm, „unwissentlich falsch über ein parteiinternes Dokument informiert“ zu haben. In der damaligen Stimmung, vor zwei Wochen, sei sein Rücktritt „notwendig“ gewesen, sagt er. Aber in zwei, drei Jahren werde man vielleicht anders über die Sache denken.

War von Anfang an skeptisch: Bijan Djir-Sarai (FDP)
War von Anfang an skeptisch: Bijan Djir-Sarai (FDP)Omer Messinger

Es hatte ja auch ein, zwei Jahre gedauert, bis man über die Ampel anders dachte, obwohl Djir-Sarai zu denen gehört haben will, die die Erfolgschancen des Drei­erbündnisses von Anfang „skeptischer als andere“ betrachtet hätten. Er hatte in den Koalitionsgesprächen die Außen- und Sicherheitspolitik mitverhandelt und schon damals gedacht: „Oh, das wird ganz schön schwer mit der SPD.“ Auf die abschüssige Bahn sei die Ampel spätestens nach dem Verfassungsgerichtsurteil geraten, bilanziert er. Aber er will nicht zu sehr zurückblicken, bald muss ja vielleicht schon wieder zusammen regiert werden. Natürlich glaubt Djir-Sarai, dass seine Partei mit deutlich mehr als fünf Prozent wieder in den Bundestag einziehen wird. Djir-Sarai hält es sogar für möglich, dass die FDP wieder Teil einer Regierung sein wird.

Dann macht Djir-Sarai sich auf den Weg. Auf dem unterirdischen Gang zum Bundestag klopfen mehrere CDU-Abgeordnete ihm beim Vorbeigehen auf die Schulter und gratulieren ihm zu seinem frisch errungenen Platz drei auf der nordrhein-westfälischen Landesliste. Dann steht Djir-Sarai mit etwa zwanzig liberalen Parteifreunden und Grünenabgeordneten dicht gedrängt im Aufzug zum Plenum. Als einer der Passagiere mit Blick auf die Parteifarben belustigt ausruft: „Was ist denn das für ein Limetten-Aufzug hier!“, bricht Gelächter aus.

Im Plenum, bei der Rede von Scholz, ist es mit dem Gelächter erst mal vorbei. Scholz greift aber nicht nur seine früheren Partner von der FDP an. Er begründet die vorgezogene Wahl, die er anstrebt, auch inhaltlich. Investitionen in Deutschland, Sicherung des Rentenniveaus, Unterstützung der Ukraine in ihrem Kampf gegen Russland. Alles will der Kanzler fortsetzen und dabei auf seiner Linie bleiben. Außenpolitisch beteuert er, dass er keine deutschen Marschflugkörper vom Typ Taurus an Kiew liefern wolle. Das zielt auf die Union, der Scholz seit Wochen vorwirft, sie riskiere die Eskalation des Krieges in der Ukraine.

Merz ist im Angriffsmodus

So geht es bis 13.30 Uhr. Dann ist Scholz fertig. Kaum sitzt er wieder auf seinem Kanzlersitz mit der hohen Lehne, steht schon der Mann am Pult, der ihm das Amt streitig machen und bald selbst dort Platz nehmen will. Friedrich Merz ist mindestens ebenso im Angriffsmodus wie der Kanzler. Er spricht Scholz auf die Defizite an, die der beklagt hat. Mit scharfer Stimme erinnert der CDU-Vorsitzende daran, dass die SPD 22 der zurückliegenden 26 Jahre im Bund mitregiert habe. „Wo waren Sie denn? Waren Sie auf einem anderen Stern?“

Dann richtet sich auch Merz an die FDP. Nur nicht um die Lindner-Truppe anzugreifen, sondern um sie zu verteidigen. Die FDP habe sich „richtigerweise“ geweigert, die Steuern zu erhöhen. Aber dadurch, so ruft Merz in den Saal, sei doch nicht der Streit in der Ampel entstanden. Der habe seine Ursache darin, dass Scholz nicht imstande gewesen sei, eine „Koa­lition zusammenzuhalten, die vorn und hinten nicht zusammengepasst“ habe. Aber nicht nur Scholz wird kritisiert. Natürlich weiß Merz, dass seine Truppen deutliche Kritik am grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck erwarten. „Sie sind das Gesicht der Wirtschaftskrise“, schleudert Merz Habeck entgegen. „Sie leben in der viertgrößten Wirtschaft der Welt, da wollen die Menschen mehr wissen, als wie sie Kühlschränke austauschen und Wärmepumpen einbauen sollen“, fügt Merz hinzu.

Als Merz nach 25 Minuten fertig ist, kommt Habeck an das Rednerpult. Er hat sein Manuskript in den Händen, steht frühzeitig auf, geht kurz zum Präsidium des Parlaments, dann wieder ein paar Schritte zurück in die Regierungsbank, während die Unionsabgeordneten klatschen. Und klatschen. Und die FDP klatscht mit. Auch Lindner.

Man dürfe in einer Regierung nicht gegen diese Regierung sein: Robert Habeck (Grüne)
Man dürfe in einer Regierung nicht gegen diese Regierung sein: Robert Habeck (Grüne)dpa

Ob es nur Begeisterung für Merz ist oder ob die Applaudierenden mit Freude sehen, wie Habeck sich wieder hinsetzt, um weiter zu warten? Als Habeck dann am Pult steht, schlägt er, wie gewohnt, den großen Bogen. Er weist auf andere europäische Länder hin, in denen es keine stabilen Re­gierungen gebe. Die deutsche Politik beschäftige sich zu sehr mit sich selbst. Dann aber geht auch er zur Fehlersuche in der gescheiterten Ampel über. In Richtung FDP sagt er, man dürfe in einer Regierung nicht gegen diese Regierung sein.

Scholz schmunzelt in seinem Sitz mit der hohen Lehne, als Habeck sich wieder neben ihn setzt. Nouripour sitzt im Plenarsaal sehr weit hinten, neben ihm Lang. Der Mann, der lange Zeit ganz vorn mit dabei war, ist nun Beobachter aus der vorletzten Reihe. Und was denkt er über die Reden von Scholz, Merz, Habeck? Eine kurze SMS: „Der erste war sprachlos, der zweite nur frontal. Meiner war der Beste.“ Seiner, das ist Habeck. Djir-Sarai schickt wenig später auch eine SMS: Die Debatte sei „wie erwartet“, schreibt er. „Jeder verdeutlicht seine Position. Die Notwendigkeit einer Wirtschaftswende für unser Land sieht der Bundeskanzler immer noch nicht.“ Später schreibt er noch: „Ei­ne politische Phase endet.“

Lindner: „Deutschland kann so nicht regiert werden“

Als Lindner ans Pult tritt, beginnt er mit der Feststellung, dass Deutschland sich in einer Wirtschaftskrise befinde. Hunderttausende Menschen müssten um ihren Ar­beitsplatz fürchten, sagt er. Weil die Ampelkoalition unter Scholz keine Antwort gefunden habe, „hat sie kein Vertrauen mehr“. Scholz habe die Strukturkrise in der deutschen Wirtschaft „lange geleugnet“, dann habe er sich erforderlichen Maßnahmen verweigert. Daher habe er auch kein Vertrauen mehr verdient. „Der Prinz Karneval kann am Rosenmontag Kamelle verteilen, um populär zu werden“, sagt Lindner. „Aber Deutschland kann so nicht regiert werden.“

Im Parlament, warnt Mützenich später in seiner Rede, machten sich Leichtsinn und Heuchelei breit. Er fürchte, dass Kanzler künftig häufiger die Vertrauensfrage stellen müssten. Die einzige Chance, das abzuwenden, sagt er, seien Ernsthaftigkeit und die Fähigkeit zum Kompromiss. Dann attackiert er die FDP. Alice Weidel, die Fraktionsvorsitzende der AfD, greift Scholz an: „Gerade einmal drei Jahre war Ihre Regierung im Amt“, sagt sie. „An den Schäden, die Sie in dieser Zeit angerichtet haben, werden die Deutschen noch in Jahrzehnten zu tragen haben.“

Ganz ähnlich klingt Sahra Wagenknecht: Der heutige Tag leite „das unrühmliche Ende einer Regierung ein, die das Leben der Menschen spürbar und nachhaltig verschlechtert hat“, sagt sie. Der Kanzlersitz ist da gerade leer. So geht es immer weiter im Plenum. Rechtfertigung, Rügen, Wahlkampf, bis der graue Berliner Himmel über der Reichstagskuppel langsam schwarz wird.

Kurz nach 16 Uhr ist die Debatte vorbei und Scholz wieder auf seinem Platz. Bas eröffnet die namentliche Abstimmung, 20 Minuten haben die Abgeordneten Zeit, zu den Wahlurnen zu gehen. 16.31 Uhr verkündet Bas das Ergebnis: 717 Stimmkarten wurden abgegeben, 207 haben mit Ja gestimmt, 394 mit Nein, 116 haben sich enthalten. Die Vertrauensfrage ist wie geplant gescheitert. „Wir sind damit am Schluss unser Tagesordnung“, sagt Bas, „auch der Ampel“. Scholz lacht.

Nach der Abstimmung fährt der Kanzler zum Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue und schlägt ihm vor, den Bundestag aufzulösen. Frank-Walter Steinmeier hat bis zu 21 Tage Zeit, um darüber zu entscheiden. Er hat bereits erkennen lassen, dass ihn der unter den Fraktionen ausgehandelte Zeitplan zusagt. Gewählt werden soll der neue Bundestag am 23. Februar 2025.