Im Widerstand gegen Russlands Imperialismus hat Friedrich Merz einiges richtig gemacht. In seiner ersten Amtswoche hat er eine europäische Reisegesellschaft aus Staats- und Regierungschefs in die Ukraine geführt. Damit hat er bewusst ein Pfand seiner Glaubwürdigkeit hinterlegt. Jetzt muss er es durch Taten einlösen.
Die erste wichtige Tat ist die Zusage, die er jetzt Wolodymyr Selenskyj gegeben hat: Deutschland wird der Ukraine helfen, weitreichende Flugkörper zu bauen, mit denen sie auch Ziele in Russland angreifen kann. Das ist essenziell, denn nur wenn die Ukraine mit solchen Waffen drohen kann, wird es ihr gelingen, Wladimir Putin von immer tödlicheren Bombardements abzuschrecken.
Allerdings macht Merz keine Anstalten, auch den Marschflugkörper Taurus freizugeben, obwohl der besser ist als alles, was die Ukraine bauen kann, und obwohl er ihn im Wahlkampf versprochen hat. An die Stelle des „Ich will“ ist jetzt ein „Vielleicht“ getreten. Dieses „Vielleicht“ haben die Leute des Kanzlers in „strategische Ambiguität“ umbenannt. Die Methode der bewussten Unschärfe hat wirklich vieles für sich. Sie ist eine Hauptkomponente der militärischen Abschreckung, denn wenn der Feind nicht weiß, wo die Stolperdrähte liegen und was sie auslösen können, wird er seine Schritte vorsichtig setzen oder im Idealfall gar nicht.
Die Ambiguität könnte nur Tarnung für Zögern sein
Es gibt aber ein Problem: Manches deutet darauf hin, dass der Kanzler mit der Unschärfe beim Taurus nicht etwa verbirgt, wann er ihn liefern will, sondern dass er ihn gar nicht liefern will. Merz behauptet zwar, alles sei möglich, aber dann müsste er jetzt schon zumindest beginnen, ukrainische Soldaten an diesem komplizierten Gerät auszubilden. Solange nicht einmal das geschieht, keimt der Verdacht, dass seine Ambiguität nur Tarnung für Zögern ist.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Viele Gründe für diese Zurückhaltung werden genannt, unter anderem die einfache Wahrheit, dass jeder Taurus, den die Ukraine bekommt, ein Taurus weniger für die eigenen Streitkräfte ist. Weil das aber auch für Franzosen und Briten gilt und die trotzdem Marschflugkörper geliefert haben, liegt nahe, dass die Undurchsichtigkeit noch weitere Gründe haben könnte: Ähnlich wie sein Vorgänger Olaf Scholz, der auf die Altpazifisten in der SPD Rücksicht nehmen musste, hat Merz es mit einer russlandblinden Strömung in der CDU zu tun. Sie ist vor allem in Ostdeutschland heimisch, und sie nimmt bewusst oder unbewusst in Kauf, für ein paar Kubikmeter russisches Gas einen falschen Scheinfrieden in der Ukraine zu akzeptieren und die Sicherheit Europas zu riskieren. Ihr Anführer, der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, fordert zum Beispiel, die russische Ostseepipeline Nord Stream 2 wieder in Betrieb zu nehmen.
Für Merz wird es nicht leicht, dem entgegenzutreten, denn Kretschmer spricht wohl deshalb, wie er spricht, weil ihm die putinistische AfD im Nacken sitzt. Die macht den Leuten weis, der Bär im Osten werde zum Teddy, wenn man nur Geschäfte mit ihm mache, und um der AfD nicht noch mehr Wähler zu überlassen, redet die CDU im Osten ihr nach dem Munde. Für den CDU-Chef Merz heißt das: Zum Mut vor dem Feind muss jetzt Mut vor dem Freund kommen. Er muss Kretschmer deutlicher als bisher zurückweisen, denn man gewinnt nicht gegen die AfD, indem man ihre Psalmen nachsingt. Man muss ihr widersprechen.