Technologiegestützter sexueller Missbrauch hat in Deutschland epidemische Ausmaße angenommen. In einer repräsentativen Haushaltsbefragung im Jahr 2024 hat fast ein Drittel der Befragten (31,6 Prozent) im Alter von 18 bis 29 Jahren angegeben, mindestens eine Form von Online-Grenzüberschreitung oder -Missbrauch erlebt zu haben. Auf die Gesamtbevölkerung in dieser Alterskohorte hochgerechnet bedeutet dies, dass etwa 3,6 Millionen junge Erwachsene schon einmal mit diesem Phänomen konfrontiert worden sind. Für die vom Sozialforschungsinstitut Usuma vorgenommene Umfrage wurden 3098 Erwachsene im Alter von 18 bis 96 Jahren befragt.
In der jüngsten Altersgruppe gaben 21,1 Prozent der Befragten an, sie seien als Kind oder Jugendlicher im Internet mit sexualisiertem oder pornographischem Material konfrontiert worden, sagt Jörg Fegert, der Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Ulm. In der Gesamtbevölkerung, die mehrheitlich vor der Erfindung des Internets und der Mobiltelefonie geboren wurde, sind es 10,3 Prozent. 15 Prozent der jungen Menschen, so Fegert weiter, berichteten über ungewünschte sexualisierte Gespräche im Internet – eine Größenordnung, die der in den USA ähnelt.
Fegert, der zu den renommiertesten Wissenschaftlern auf dem Feld der Traumaforschung weltweit zählt, hat für diese Umfrage zur Konfrontation mit sexuellem Material einen Fragebogen erweitert, den der amerikanische Soziologe David Finkelhor erarbeitet hat und der bislang nur in den USA verwendet worden war. So ist es möglich, Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Belastung bestimmter Bevölkerungsgruppen durch technologiegestützten sexuellen Missbrauch zu erkennen.
Fast so viele männliche wie weibliche Opfer
Deutlich seltener als in den USA kam es in Deutschland zu expliziten Nachfragen nach sexuellen Handlungen. Hierzulande berichteten 6,5 Prozent der jungen Befragten von dieser Form von Grenzüberschreitung, in den USA waren es mit 14,3 Prozent mehr als doppelt so viele. „Sextortion“, also Erpressung mit sexuellem Material, fand dagegen in Deutschland und den USA fast gleich häufig statt. Hierzulande gaben 3,6 Prozent der Befragten an, erpresst worden zu sein, in den Vereinigten Staaten waren es 3,5 Prozent. Von sexuellen Foto- oder Videoaufnahmen ohne Zustimmung berichteten 2,9 Prozent, von der Weiterleitung von sexuellen Materialien, Fotos oder Videos ohne ihre Zustimmung betroffen waren immerhin noch 2,1 Prozent der jungen Erwachsenen. Der Umfang kommerzieller, webbasierter Onlineaktivitäten war in Deutschland wie in den Vereinigten Staaten mit dieser Methode kaum messbar.
Bei den Ergebnissen falle auf, so Fegert, dass der Anteil weiblicher Opfer mit 52,6 Prozent nur geringfügig größer war als den Anteil männlicher Betroffener (47,4). In der analogen Welt ist der Anteil weiblicher Opfer sexualisierter Übergriffe deutlicher größer. Innerhalb der Alterskohorte aber zeigt sich, dass Personen umso häufiger mit mindestens einer Form der onlinebasierten Grenzüberschreitung oder des Missbrauchs konfrontiert wurden, je jünger sie waren.
Daher sei zu begrüßen, dass CDU/CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag die Einsetzung einer Kommission beschlossen hätten, die eine Strategie für den „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“ erarbeiten und deren Umsetzung begleiten solle, sagt Fegert. Eltern, so heißt es im Koalitionsvertrag, sollten durch gezielte Wissensvermittlung gestärkt werden, Plattformbetreiber und Anbieter hingegen verpflichtet, den digitalen Kinder- und Jugendschutz wirksam umzusetzen. Für die Regierung gehören dazu vor allem „verpflichtende Altersverifikationen und sichere Voreinstellungen für Kinder und Jugendliche bei digitalen Endgeräten und Angeboten“.
Riskantes Verhalten Jugendlicher
Nach Fegerts Worten ist es mit der Regulierung von Internetplattformen und der Nutzungseinschränkung digitaler Endgeräte aber nicht getan. Notwendig sei auch, „partizipativ mit jungen Menschen Strategien zur Selbstreflexion des eigenen Verhaltens, insbesondere auch des Risikoverhaltens, zu entwickeln“. Untersuchungen hätten ergeben, dass etwa ein Drittel der Täter ehemalige enge Freunde oder Intimpartner seien. Es gehe bei technologiegestütztem sexuellen Missbrauch also nicht nur um Fälle von Online-Grooming durch ältere Personen, die sich im Internet eine falsche Identität zulegten, um Jugendliche zu belästigen oder zu sexuellen Handlungen aufzufordern. Immer wieder komme es auch zu Aktionen wie der Verbreitung von ursprünglich konsensuell hergestellten Nacktbildern oder Videos, um frühere Freunde oder Partner zu beschämen. Jugendliche zeigten auch auf diesem Feld oft ein riskantes Verhalten, so Fegert. Moderne Präventionsarbeit müsse dies berücksichtigen und junge Menschen für ihr Selbstgefährdungspotential in der Onlinewelt sensibilisieren.
Auf politischer Ebene in Europa unabdingbar ist nach Worten Fegerts eine Koordination der Strafverfolgung von kommerzieller Ausbeutung und Missbrauch von Kindern im Internet, dazu eine stärkere Regulation von Plattformen. In Deutschland müsse die Strafverfolgung internetbasierter Sexualdelikte durch Vorratsdatenspeicherung und Offenlegung von IP-Adressen ermöglicht werden, was EU-rechtlich schon lange möglich sei. Gleichzeitig brauche es viel mehr sexualpädagogische Medienkompetenz.