Die Rede von Friedrich Merz beim Kommunalkongress des Deutschen Städte- und Gemeindebundes war schon länger geplant, aber das Publikum passte gut zu den tagesaktuellen Bemerkungen, die der Kanzler machen wollte. Schließlich hatte Merz die Notwendigkeit einer Migrationswende wiederholt mit der Überlastung der Kommunen begründet.
Und so bekräftigte der Kanzler am Dienstag in Berlin seine Linie. Weiterhin würden auch Asylsuchende an den deutschen Grenzen zurückgewiesen. Diese Klarstellung war notwendig, nachdem das Berliner Verwaltungsgericht am Montag in einer Eilentscheidung die Zurückweisung dreier um Asyl bittender Somalier für rechtswidrig erklärt hatte. „Bis die Lage an den Außengrenzen mithilfe von neuen europäischen Regeln deutlich verbessert ist, werden wir die Kontrollen an den Binnengrenzen aufrechterhalten müssen“, sagte der Kanzler dazu beim Städte- und Gemeindebund.
Wie sein Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) am Vortag wies Merz auf die Vorläufigkeit der Gerichtsentscheidung hin. Dadurch seien die Spielräume zwar möglicherweise noch einmal etwas eingeengt worden. „Aber die Spielräume sind nach wie vor da. Wir wissen, dass wir nach wie vor Zurückweisungen vornehmen können.“ Dobrindt hatte am Montag gesagt, dass die Bundesregierung im Hauptverfahren, das nun folgen wird, eine „dezidiertere“ Begründung vorlegen werde, warum eine Berufung auf Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) rechtens sei. Merz versprach wiederum, dass sich die Bundesregierung an EU-Recht halten werde. „Und wir werden es tun, auch um die öffentliche Sicherheit und Ordnung in unserem Lande zu schützen und die Städte und Gemeinden vor Überlastung zu bewahren. Das ist eine Aufgabe, der wir uns unverändert stellen“, sagte der Kanzler.
Regierung verweist auf deutsch-polnisches Abkommen
Das Verwaltungsgericht hatte vorläufig über drei Zurückweisungen an der deutsch-polnischen Grenze entschieden und Deutschland dafür gerügt, kein Dublin-Verfahren durchgeführt zu haben. In diesem Verfahren wird geklärt, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung der Asylanträge zuständig ist. Den drei Personen, die sich momentan in Polen aufhalten, muss der Grenzübertritt nun gestattet, das Dublin-Verfahren durchgeführt werden. Einen Anspruch auf Einreise in das Bundesgebiet haben die Antragsteller allerdings nicht, wie das Gericht klargestellt hat. Das Verfahren kann auch in Grenznähe stattfinden.
Bei den Asylsuchenden handelt es sich um zwei Männer und eine Frau aus Somalia, die am 9. Mai in einem Zug den Grenzbereich in Frankfurt (Oder) erreichten. Dort wurden sie von der Bundespolizei kontrolliert und baten um Asyl. Am Abend desselben Tages wurden sie über die Stadtbrücke in Frankfurt (Oder) nach Polen zurückgewiesen. Einer der drei Eilbeschlüsse betrifft eine Frau, die Mitte April auf dem Landweg über Weißrussland nach Litauen in die Europäische Union reiste. Er liegt der F.A.Z. vor. Aus Litauen reiste sie demzufolge nach Polen und von dort weiter nach Frankfurt (Oder). Als die Bundespolizei sie aufgegriffen habe, sei sie in schlechter körperlicher Verfassung gewesen und habe Schmerzen in den Füßen gehabt, gab die Frau vor Gericht an. Sie habe in Deutschland eine Tante, die bereit sei, für sie die Vormundschaft zu übernehmen.
Die Einreiseverweigerung sei zulässig gewesen, argumentiert die Bundesregierung. Schließlich bestehe eine gesetzliche Pflicht zu Zurückweisungen bei Einreisen aus einem sicheren Drittstaat. Die Regierung verweist außerdem auf ein deutsch-polnisches Abkommen zur Zusammenarbeit der Polizei-, Grenz-, und Zollbehörden. Auch demzufolge seien Einreiseverweigerungen zulässig.
Geringe Zahl tatsächlicher Überstellungen
Weiter argumentiert sie mit der „derzeitigen Dysfunktionalität“ des Europarechts „im migrationsrelevanten Bereich der unerlaubten Einreisen . . . und der weitgehend ungesteuerten illegalen Sekundärmigration in anderen Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschland“. Auch „Ausgleichsmaßnahmen nach den Eurodac- und Dublinverordnungen“ funktionierten momentan nicht. Im Eurodac-System werden Fingerabdrücke von Asylsuchenden und Geflüchteten erhoben und gespeichert. So soll festgehalten werden, welchen Mitgliedstaat ein Asylsuchender zuerst betritt. Der ist laut Dublin schließlich grundsätzlich zuständig.
Die Bundesregierung verweist in diesem Zusammenhang auf ein „Missverhältnis zwischen den in Deutschland gestellten Asylerstanträgen und der geringen Anzahl von Eurodac-Treffern“. Es belege, dass andere Mitgliedstaaten ihre Speicherpflicht „zugunsten einer geordneten Weiterwanderung vernachlässigten und sich so ihrer Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrags auf Dauer entzögen“. Die Regierung rechtfertigt die Zurückweisungen vor Gericht außerdem damit, dass nur ein geringer Anteil der Personen, für die andere Mitgliedstaaten zuständig seien, tatsächlich überstellt würde.
Schließlich zieht die Bundesregierung Artikel 72 AEUV heran. Dabei handelt es sich um eine Ausnahmeregel, die es Mitgliedstaaten zur „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ und des Schutzes „der inneren Sicherheit“ erlaubt, von Europarecht abzuweichen. Die Bundesregierung will so rechtfertigen, warum sie das deutsche Asylgesetz, das Zurückweisungen erlaubt, dem Europarecht vorzieht. Sie verweist unter anderem auf die Anzahl von Einreisen nach Deutschland. Und auch in diesem Zusammenhang stellt die Bundesregierung die hohe Zahl von Rücknahmeersuchen gegenüber anderen Staaten (44.431) der geringen Anzahl erfolgter Überstellungen (5827) im Jahr 2024 gegenüber. Sie verweist außerdem darauf, dass die Zurückweisungen an der Grenze „temporär und auf bestimmte Personengruppen beschränkt“ seien. Dobrindt hatte Kinder, schwangere Frauen und andere vulnerable Gruppen von Zurückweisungen ausgenommen.
Verweis auf Urteil des Europäischen Gerichtshofs
Die 6. Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts ist von den Argumenten nicht überzeugt. Die Zurückweisung der Somalierin lasse sich weder auf Artikel 72 AEUV noch auf das deutsche Asylgesetz stützen, entschieden die Richter. Letzteres werde vom Dublin-Recht verdrängt, das Zurückweisungen verbiete, um eine „Refugee in orbit“-Situation zu vermeiden. Damit ist eine Lage gemeint, in der sich kein Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig fühlt.
Die Geltung der Dublin-Verordnung könne nicht durch bilaterale Vereinbarungen ausgehebelt werden, heißt es im Beschluss weiter. „Es handelt sich um eine vom europäischen Gesetzgeber in Kraft gesetzte Verordnung, die nicht zur Disposition einzelner Mitgliedstaaten steht.“ Auch eine etwaige „Dysfunktionalität“ des Systems helfe nicht über das geltende Recht hinweg, so das Gericht.
Unabhängig davon, ob dieser Befund zutreffe, habe der Europäische Gerichtshof (EuGH) schon vor längerer Zeit festgestellt, dass selbst ein Massenzustrom die Zuständigkeitsregeln nicht außer Kraft setze. Die Richter ergänzen: Der Hinweis auf Rechtsverstöße anderer Mitgliedstaaten stelle „keine Rechtfertigung für eigenes unionsrechtswidriges Verhalten dar“. Auch der Verweis der Bundesregierung auf Artikel 72 AEUV überzeugt die Kammer nicht. Aus dieser Vorschrift folge nicht, dass jede nationale Maßnahme, die im Interesse der öffentlichen Sicherheit stehe, von europarechtlichen Pflichten befreit sei, stellen die Richter klar. Ferner sei die Norm „eng auszulegen“.
Die genauen Voraussetzungen scheinen aus Sicht des Verwaltungsgerichts festzustehen; andernfalls hätte es das Verfahren dem EuGH vorgelegt. Offenbar gehen die Richter davon aus, dass dessen ständige Rechtsprechung hier bereits Klarheit geschaffen hat. Sie weisen auf die hohen Begründungsanforderungen hin, denen die Bundesregierung aus ihrer Sicht nicht nachgekommen ist. Schon die Darlegung einer „Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit“ fehle, heißt es im Beschluss.
Keine Situation, „die für die deutschen Behörden nicht zu bewältigen wäre“
Laut EuGH setzt Artikel 72 eine „tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr“ voraus, „die ein Grundinteresse der Gesellschaft“ berührt. Der Begriff der „nationalen Sicherheit“ umfasst die innere und äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats. Hierzu zählt der Gerichtshof etwa: das Funktionieren der wichtigen öffentlichen Dienste eines Staates und das Überleben seiner Bevölkerung. Relevante Gefahren seien auch solche für das friedliche Zusammenleben der Völker oder die militärischen Interessen eines Landes.
Unzureichend ist aus Sicht des Verwaltungsgerichts ein Vortrag „numerischer Werte etwa zu Asylantragszahlen oder Grenzübertritten“ – ohne Erläuterung der Auswirkungen. Laut Beschluss trug die Bundesregierung auch nicht vor, dass in Deutschland eine Situation entstanden ist, „die für die deutschen Behörden nicht zu bewältigen wäre und aufgrund derer die Funktionsfähigkeit staatlicher Systeme und Einrichtungen akut gefährdet wäre“. Das Gericht vermisst außerdem eine Erläuterung, wie sich „gerade Zurückweisungen an der Grenze auf diese Situation auswirken würden“.
Schließlich weisen die Richter auf den europarechtlichen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit hin. Auch er stehe Artikel 72 AEUV im aktuellen Fall entgegen, jedenfalls gegenüber Polen, als „unmittelbar betroffenem anderen Mitgliedstaat“. Der Grundsatz verpflichtet Mitgliedstaaten, für die Anwendung und Wahrung des Unionsrechts zu sorgen, wie der EuGH mehrmals klargestellt hat. „Dieser Grundsatz dürfte auch und gerade im Fall einer Abweichung von den Regelungen der Dublin-III-Verordnung die Mitgliedstaaten verpflichten, mit den EU-Organen und den betroffenen Nachbarstaaten ernsthaft nach einer gemeinsamen Lösung zu suchen“, ergänzt das Verwaltungsgericht nun. Dessen Eilbeschlüsse sind nicht anfechtbar. Eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren steht noch aus.