Der bei der Beschaffung von Corona-Masken entstandene Millionenschaden für die Steuerzahler ist vermutlich noch viel höher als angenommen. Nach Informationen der F.A.Z. hat das Bundesgesundheitsministerium in der Anfangsphase der Pandemie im Frühjahr 2020 bis zu 623 Millionen Euro an Haushaltsmitteln zu viel gezahlt – obgleich die Fachabteilung des Hauses zu wesentlich niedrigeren Preisen geraten hatte. Das wären noch einmal 156 Millionen Euro mehr als bislang bekannt. Diese Diskrepanz geht aus internen Arbeitsergebnissen der Sonderermittlerin im Ministerium zur Maskenbeschaffung hervor, der ehemaligen Justizstaatssekretärin Margartha Sudhof (SPD). Die F.A.Z. konnte die Ergebnisse exklusiv in Auszügen einsehen.
Die auf der damaligen Marktkenntnis basierenden Empfehlungen der zuständigen Abteilung 1 des Gesundheitsministeriums reichten von netto 2,50 Euro bis zu 2,90 Euro je Maske; als Durchschnittspreis ermittelte die Abteilung, die für Medizinprodukte zuständig ist, am 17. März 2020 netto 2,83 Euro. Tatsächlich aber entschied sich der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) für 4,50 Euro. Einschließlich der Mehrwertsteuer waren es 5,36 Euro.
Für die rund 262 Millionen im sogenannten offenen Beschaffungsverfahren (Open-House, OHV) bestellten Masken wurden dann laut Bundesrechnungshof brutto 1,4 Milliarden Euro gezahlt. Hätte man stattdessen den damals üblichen Durchschnittspreis gezahlt, wären es 520 Millionen Euro weniger gewesen. Bezogen auf die erste Empfehlung der Abteilung 1 vom 17. März 2020 hätte man sogar noch weitere 103 Millionen Euro einsparen können.
Expertise im Haus offenbar ignoriert
In den Auszügen von Sudhofs Arbeitsergebnissen moniert die Juristin, es könne „nicht nachvollzogen werden, warum die Preisfestlegung für das OHV am 23.03.20 so, wie geschehen, erfolgte, obwohl die Erkenntnis nachweisbar vorhanden war, dass der durchschnittliche Preis im Rahmen der Dringlichkeitsbeschaffung (Stand 17.03.20) lediglich bei 2,83 EUR (netto) lag.“
Die Analyse stellt klar, dass die Abteilung 1 damals sowohl für die fachlichen Standards der so genannten FFP-2- und MNS-Masken zuständig war als auch für die „Benennung eines Preises“. Sie habe „Listen über Preise“ geführt, hier war also anerkanntermaßen die Expertise im Haus angesiedelt. Sie verhallte aber offenbar ungehört.
Wohl auch deshalb lief das Open-House-Verfahren, das im Einkauf keinerlei Mengenbeschränkungen vorsah, nach Spahns überraschender Preisanhebung völlig aus dem Ruder. Weil der Bund einen viel zu hohen Festpreis zahlte, wurde er mit Masken überschwemmt, konnte nicht alle Lieferungen annehmen, versuchte Vertragsstornierungen und zahlte nicht. Bis heute sind deshalb in diesen und anderen Fällen Klagen von rund 100 Händlern über 2,3 Milliarden Euro anhängig.
Schaden zweieinhalbmal so groß wie bei gescheiterter Pkw-Maut
Bereits im Juli 2024 hatte die F.A.Z. aus internen Mails aus dem Ministerium zitiert, wonach sich Spahn über die Empfehlungen seiner Zentralabteilung „Z“ von 3,57 Euro brutto hinweggesetzt und den dann gültigen Preis von brutto 5,36 Euro festgelegt hatte. Damals ging es um eine Überzahlung von 467 Millionen Euro. Der jetzt in Rede stehende Schaden ist noch einmal 156 Millionen Euro höher, summiert sich auf 623 Millionen Euro und ist damit zweieinhalbmal so groß wie die Verluste aus der gescheiterten Pkw-Maut von 2019 unter Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU).
Wie sehr sich Spahn verkalkuliert hatte, auch das geht aus Sudhofs Ermittlungsakten hervor: Nach Auskunft der Haushälter des Ministeriums vom 24. März 2020 standen damals nur Etatmittel von 550 Millionen Euro zur Verfügung, weit weniger als die Hälfte dessen, was dann im Open-House-Verfahren tatsächlich ausgegeben werden musste. Der Bundesrechnungshof bemängelte schon im Juni 2021 eine „massive Überbeschaffung“: Über alle Beschaffungswege hinweg seien 5,7 Milliarden Masken für 5,9 Milliarden Euro geordert worden – von denen viele ungenutzt verbrannt werden mussten.
Spahn und Warken äußern sich nicht
Spahn, heute Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, wollte sich zu der jüngsten Entwicklung nicht äußern. Der Sudhof-Bericht liege ihm nicht vor, zu den Akten des Ministeriums habe er seit dreieinhalb Jahren keinen Zugang mehr, sagte sein Sprecher am Mittwoch. Spahns Haltung vom Juli vergangenen Jahres gelte aber weiter. Damals hatte er mitteilen lassen, dass die Bundesregierung die Preise in der Rückschau als angemessen bezeichnet habe. Der Markt sei damals sehr angespannt gewesen, Stichproben hätten Preise von 6,35 netto ermittelt, „und damit deutlich über den genannten 4,50 Euro“.
Das Gesundheitsministerium, das heute von Spahns Parteifreundin Nina Warken (CDU) geführt wird, teilte mit, man könne die der F.A.Z. vorliegenden Unterlagen nicht kommentieren. Sudhof habe ihre Tätigkeit zwar Ende April beendet, es gelte aber: „Die Bewertung der rechtlichen Instrumente – insbesondere des sogenannten Open-House-Verfahrens – , die eingesetzt wurden, um die Corona-Pandemie zu bewältigen, ist noch nicht abgeschlossen.“
Sudhofs Arbeitsergebnisse flössen in die weitere Aufarbeitung der Pandemie ein. „Dabei sollen die genannten rechtlichen Instrumente vor dem Hintergrund der laufenden zivilgerichtlichen Verfahren bewertet werden.“ Gemeint sind die Milliardenklagen der Maskenhändler, die teilweise vor dem Bundesgerichtshof gelandet sind.
Scharfe Kritik der Grünen
Gerade das Open-House-Verfahren sei „Anlass für mehrere zivilrechtlich anhängige Verfahren, zu konkreten Inhalten laufender Verfahren äußern wir uns grundsätzlich nicht“, sagte ein Ministeriumssprecher. Er stellte Sudhofs Arbeit in einen größeren Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Corona-Zeit, die der Koalitionsvertrag von Union und SPD in Aussicht stellt: „Auch im Hinblick auf die geplante Corona-Enquete-Kommission werden die Erkenntnisse zur Vorbereitung künftiger pandemischer Ereignisse genutzt werden können.“
Derweil schäumt die Opposition. „Jens Spahn hat gegen mehrfache, sehr ausdrückliche Hinweise seiner Mitarbeiter in der Abteilung 1 einen sehr viel höheren Preis mit Gewalt durchgesetzt“, sagte die grüne Haushalts- und Gesundheitspolitikerin Paula Piechotta der F.A.Z.. „Man muss befürchten, dass in diesen Krisenwochen im Gesundheitsminister der Eindruck entstand, ,jetzt oder nie‘, um ungestraft Milliarden an Steuergeldern auf die Konten von Freunden und Bekannten umzuleiten.“
Unklar bleibt in den Unterlagen die Rolle der Zentralabteilung „Z“ im Gesundheitsministerium. Der damalige Abteilungsleiter hatte Spahn am 24. März 2020 einen, wie er es nannte,„attraktiven Preis“ von netto 3,0 Euro je Maske vorgeschlagen. Daraus machte der Minister innerhalb weniger Stunden die genannten 4,50 Euro.
Kurz zuvor hatte der Leiter der Abteilung Z aber einen noch höheren Preis als sein Minister im Visier gehabt: Ausweislich einer Terminübersicht unter der Überschrift „Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“ rief der Topbeamte die zuständige Referatsleiterin der benachbarten Abteilung 1 am Vorabend an und bat sie, statt 2,90 Euro „5,00 EUR (netto) einzutragen“.
Weiter heißt es in den Unterlagen zu der Referatsleiterin: „Diese übersandte die entsprechend der mündlichen Weisung angepasste Tabelle mit Mail um 19:52 Uhr.“ Keine Stunde später schickte der Leiter der Abteilung Z die auf seinen Wunsch hin geänderte Leistungstabelle an die zuständige Anwaltskanzlei, welche die Teilnahmeunterlagen für das Open-House-Verfahren zusammenstellen sollte. Warum derselbe Abteilungsleiter einen Tag später dann 3,00 Euro netto vorschlug, also 40 Prozent weniger als am Vortag, bleibt im Dunkeln.
Wichtige Teile des Preisrechts offenbar nicht beachtet
Das „Sudhof-Papier“ enthält noch weitere Überraschungen. Es legt nahe, dass das Gesundheitsministerium und andere öffentliche Einrichtungen in der frühen Corona-Zeit wichtige Teile des Preisrechts nicht kannten oder ignorierten. Es geht vor allem um die Verordnung PR Nr.30/53 „über die Preise bei öffentlichen Aufträgen“. Daraus ergibt sich eine „Höchstpreisvorschrift mit Verbotscharakter“, wonach „Rechtsgeschäfte, die gegen den Höchstpreisgrundsatz verstoßen, in Bezug auf den unzulässigen Preis nichtig sind“.
Im Falle eines Marktversagens und von Notlagen könnten zwar Preisausschläge zulässig sein. Genau das aber müsse erst einmal geklärt werden, und zwar für jede einzelne Transaktion. Was das Open-House-Verfahren angeht, hält das vorliegende Papier der Sonderermittlerin fest: „Auch diese Vergabe könnte aufgrund der preisrechtlichen Regularien unzulässig und auch dem öffentlichen Auftraggeber nicht gestattet gewesen sein.“
Möglicher Verstoß gegen den Höchstpreisgrundsatz
Konkret kritisiert die interne Untersuchung: „Der vom damaligen Bundesminister festgelegte Preis für FFP2-Masken in Höhe von 4,50 EUR (netto) überstieg nicht nur die Empfehlungen der Fachebene um rund 37 %. Er könnte auch gegen den als Verbotsgesetz ausgestalteten Höchstpreisgrundsatz verstoßen haben.“ Das ist ein schwerer Verdacht gegen den damaligen Amtsinhaber.
Die angestellte Rechnung unterschätzt die Preisanhebung allerdings: 2,83 Euro sind 37 Prozent weniger als 4,50 Euro. Der Zuschlag von 1,67 Euro je Maske entspricht aber einem Anstieg von 59 Prozent gegenüber dem Ausgangspreis von 2,83 Euro.
Die internen Gutachter zeigen sich verwirrt, dass die preisrechtlichen Überlegungen in den bisherigen Debatten und in den Gerichtsverfahren mit den Maskenhändlern – von denen der Bund schon einige verloren hat – kaum berücksichtigt würden: „Insofern ist es aus heutiger Sicht nicht nachvollziehbar, dass das öffentliche Preisrecht bislang in den rechtlichen Auseinandersetzungen keine Rolle spielte, obwohl es im Ergebnis entweder zu Anspruchsbegrenzungen oder Rückforderungsansprüchen führen könnte.“
Kommt das Gesundheitsministerium mit einem blauen Auge davon?
Dahinter verbirgt sich die brisante Frage, ob das Gesundheitsministerium in den Klagen über 2,3 Milliarden Euro mit einem blauen Auge davonkommen könnte. Und zwar ausgerechnet deshalb, weil es damals schlampig arbeitete: Zwar sei die möglicherweise rechtswidrig übertriebene Preisvorgabe vom Bund selbst erfolgt, heißt es in der rechtlichen Analyse. Das Preisrecht richte sich aber auch „an die öffentlich Agierenden“. Das bedeute: „Ihnen ist es ebenso wie allen anderen Marktteilnehmenden untersagt, Preise in Aussicht zu stellen, die gegen die Vorgaben der Verordnung PR Nr. 30/53 verstoßen“. Mit anderen Worten: Das öffentliche Preisrecht schützt auch den staatlichen Auftraggeber davor, überhöhe Preise zu zahlen, sogar dann, wenn er sie freiwillig selbst festlegt.
Deswegen sei es möglicherweise sinnvoll, die zuständigen Preisprüfungsbehörden mit den Vorgängen zu befassen, so die Folgerung. Die Resultate einer solchen Untersuchung könnten dann nicht dem Bund, sondern den Klägern vor die Füße fallen, hält der Bericht fest: „Vorbehaltlich des Prüfungsergebnisses der zuständigen Behörden und Gerichte könnte am Ende einer Preisprüfung das Ergebnis stehen, dass die von der Klägerseite bisher erwarteten Gewinne sich nicht realisieren lassen.“ Falls dieser Fall eintritt, bliebe den Steuerzahlern zumindest ein Teil des drohenden Milliardenschadens durch die Klagen erspart.