Als Karin Hunold vor Kurzem versuchte, eine neue Bahncard zu kaufen, wäre sie daran beinahe gescheitert. Denn am Schalter der Deutschen Bahn, wo sie sie sonst immer gekauft hatte, bekam sie nun die Auskunft, dass dies nur noch online möglich sei. „Sie müssen sich nur registrieren und die App runterladen, dann kriegen Sie die Bahncard direkt aufs Handy“, erklärte ihr die Frau am Schalter – ganz freundlich, und als sei das völlig selbstverständlich. „Wo soll ich mich registrieren, und wie bekomme ich diese App?“, fragte die ältere Dame zurück. Von Apps hatte sie schon gehört, aber nicht verstanden, was das ist.
Beim nächsten Mal, so berichtete Hunold es der F.A.Z., brachte sie ihr Handy mit an den Schalter. „Wie geht das denn jetzt genau?“ Zwar saß diesmal eine andere Frau am Schalter, aber weil es nicht zu voll war und die Kundin ziemlich hilflos wirkte, versuchte sie, es zu erklären: „Geben Sie mal Ihr Handy her, dann zeige ich es Ihnen!“ Doch die Software auf dem Handy war zu alt oder der Arbeitsspeicher auf dem von den Kindern überlassenen Handy zu klein – die App ließ sich nicht herunterladen. „Sie müssen etwas anderes löschen. Oder sich ein neues Handy kaufen“, rief die Frau ihr noch hinterher, als Hunold ratlos den Verkaufstresen verließ. Am Ende kaufte ihre Tochter ihr die Karte, richtete ein Kundenkonto ein, löschte mehrere unnötige Apps und Dutzende Spam-E-Mails, die unbemerkt das Postfach verstopft hatten.
Schwierigkeiten in immer mehr Lebenssituationen
Solche Schwierigkeiten erleben immer mehr ältere Menschen – in immer mehr Lebenssituationen. Die Mutter von Florentine Beier (alle Namen von Betroffenen wurden von der Redaktion geändert) verreist seit einiger Zeit nicht mehr, zumindest nicht mit dem Flugzeug. „Sie hat Angst, dass sie am Flughafen nur noch Self-Check-in-Schalter vorfindet und dann den Flug verpasst, weil sie damit nicht zurechtkommt“, berichtet ihre Tochter.
Der Großvater von Hanna-Lea Rettberger wollte den Hautarzt wechseln, weil sein bisheriger zu weit von seinem Wohnort entfernt war. In der näher gelegenen Praxis, die er sich ausgesucht hatte, beschied man ihm am Empfang: „Neupatienten nur noch über Doctolib!“ Der alte Herr verließ die Praxis unverrichteter Dinge. „Wo ist denn diese Praxis von diesem Doktor Lib?“, fragte er später seine Enkelin.
In der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO), einem Dachverband von rund 120 Verbänden und Vereinen, die sich für die Interessen älterer Menschen einsetzen, kennt man diese Probleme zur Genüge. Die Vorsitzende der BAGSO, Regina Görner, sagte der F.A.Z.: „Ich spreche oft mit älteren Menschen, die sagen: Ich habe mein ganzes Leben gut ohne Digitalisierung hingekriegt, ich konnte ein Kursbuch lesen, ich habe meine Steuer verwaltet, ich hatte meine Mietwohnung, meine Versicherungen und alles andere gut im Griff – und jetzt soll ich plötzlich für alles fragen und Leute in Anspruch nehmen. Das ist der wesentliche Unterschied zu jungen Leuten, die nie erfahren haben, dass es auch anders geht. Die älteren Menschen kommen jetzt in die Situation, dass sie in allem plötzlich eine Hürde sehen, und sie haben den Eindruck, dass ihre Lebensleistung gar nicht respektiert wird. Dass sie einfach weggewischt wird.“
Nicht nur Ältere fühlen sich vom Internet abgeschreckt
Dabei seien ältere Menschen oft sehr interessiert an der Digitalisierung und offen dafür, sich die entsprechenden Kompetenzen anzueignen, so Görner. „Aber wenn sie dann anfangen, mit diesen Geräten umzugehen, werden sie von der mangelnden Nutzerorientierung, den schlecht gestalteten Oberflächen, den ständigen Updates, die wieder alles verändern, unerbetenen Newslettern, vorbeiwimmelnden Werbeinfos oft sehr abgeschreckt. Sie fragen sich dann: Muss ich mir das alles wirklich noch antun?“ Zwar gebe es vielerorts Schulungen und Unterstützungsprojekte, teils auch von der BAGSO gefördert, diese erreichten aber noch nicht genug Betroffene.
Wie groß die Gruppe ist, die bisher wenig oder keine Berührung mit digitalen Medien hat oder diese nicht gut nutzen kann, sei schwer einzuschätzen, sagt Görner. Zwar bezifferte das Statistische Bundesamt die Zahl der Menschen in Deutschland, die noch nie im Internet waren, Ende 2024 auf knapp 2,8 Millionen. Damit sind aber nicht diejenigen erfasst, die nur sporadisch oder mit geringen digitalen Kenntnissen das Internet nutzen. Denn das Problem betrifft nicht nur ältere Leute. Auch viele Jüngere ärgerten sich über die Unzulänglichkeiten der Technik. Und es werde sich nicht „auswachsen“, wie manche hoffen würden, denn Menschen mit Behinderungen, geringem Einkommen oder Lese- und Schreibproblemen werde es auch künftig geben. „Bei diesen Leuten erzeugt die zunehmende Digitalisierung ein wachsendes Gefühl von Ärger, der sich dann gegen die Technik selbst richtet, obwohl die Leute eigentlich wissen, dass darin auch Vorteile für sie stecken.“
Zu früh unselbstständig – und abhängig von den Kindern
Die alten Leute geraten dadurch in eine verfrühte Unselbstständigkeit und Abhängigkeit von ihren Kindern oder Enkeln, die mit ihren geistigen Fähigkeiten oft gar nichts zu tun hat. Sie sind mental noch vollkommen fit, aber der Arzttermin im Internet wird zur Angsthürde, die sie allein nicht mehr bewältigen zu können glauben. Die Entwicklung wirkt sich darum auch auf ihre Kinder oder andere Verwandte aus, die zwar oft weit weg wohnen, ihnen aber trotzdem immer öfter bei digitalen Behördengängen, Terminvereinbarungen, Einkäufen, bei der Steuererklärung oder der Abgabe der Grundsteuerdaten für das seit Jahrzehnten bewohnte Einfamilienhaus helfen müssen.
Vor drei Jahren gab die BAGSO eine Umfrage in Auftrag, die erfassen sollte, in welchen Lebensbereichen Menschen ohne Zugang zum Internet oder mit unzureichenden digitalen Kompetenzen Ausgrenzungserfahrungen machen. Das Ergebnis: Die meisten Barrieren erlebten die rund 2300 Studienteilnehmer beim Zugang zur öffentlichen Verwaltung, insbesondere zu den Finanzämtern. Ein Teilnehmer berichtete etwa: „Dann wurde das ‚Elsterprogramm‘ geändert, und es ging nichts mehr. Ich (86 Jahre) habe es einfach nicht mehr geschafft, dieses Programm auszufüllen. Fazit: Ich muss jetzt einen Steuerberater bezahlen. Sehr, sehr ärgerlich.“
Filialen geschlossen, Informationen nur noch online
Am zweithäufigsten wurden Einschränkungen bei Bankgeschäften genannt. Viele Konten mit günstigen Konditionen werden nur online angeboten, vor allem aber schließen immer mehr Zweigstellen klassischer Filialbanken, wo man seine Fragen noch lebenden Menschen stellen konnte. „Alle Bankfilialen haben im Stadtteil geschlossen, die Automaten wurden gesprengt oder abgebaut. Onlinebanking kann ich nicht. Konsequenz: an Tagen mit guter Tagesform in die Innenstadt fahren, an schlechten Tagen keine Bankgeschäfte“, berichtete eine 78 Jahre alte Teilnehmerin.
Punkt Nummer drei waren neue Hürden im Gesundheitswesen, vor allem bei der schon erwähnten Terminvergabe. Aber auch in der Kultur- und Freizeitgestaltung wandern immer mehr Informationen ins Internet ab, und Buchungen für Veranstaltungen können immer öfter nur noch online vorgenommen werden. Weitere oft genannte Situationen betrafen die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, fehlende gedruckte Fahrpläne, weniger Automaten und Schalter zum Lösen von Tickets sowie Sparangebote, die nur digital verfügbar sind.

Schon länger fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen darum, zumindest in den essenziellen Lebensbereichen – Behörden, Sozialwesen, Banken, Gesundheit und Pflege – auch analoge Zugänge und damit die Wahlfreiheit aufrechtzuerhalten, „bis es eine wirksame Unterstützung vor Ort für diejenigen gibt, die digitale Angebote nicht eigenständig nutzen können“.
Leitbild einer rein digitalen Verwaltung
Doch das Problem scheint sich nun sogar noch zu verschärfen. Denn die neue Bundesregierung hat eine „Digital-only“-Strategie ausgerufen. Im Koalitionsvertrag von Union und SPD heißt es unter „Digitales“ auf Seite 66 im Unterpunkt „Deutschland digital, vernetzt und resilient“: „Unser Leitbild: eine vorausschauende, vernetzte, leistungsfähige und nutzerzentrierte Verwaltung – zunehmend antragslos, lebenslagenorientiert und rein digital („Digital-only“) mit gezielten Unterstützungsangeboten.“
Wie diese Absicht und die „gezielten Unterstützungsangebote“ genau mit Leben gefüllt werden sollen, muss sich erst zeigen. Sicher ist momentan, dass unternehmensbezogene Verwaltungsleistungen bis 2030 nur noch digital erfolgen sollen und dass „Digital-only“ schrittweise auch auf die Leistungen für Bürger ausgedehnt werden soll. Das Bundesministerium unter dem neuen Digitalminister Karsten Wildberger betont aber, dass man „gerade auch ältere Bürger und Menschen, die in ihrem Alltag eingeschränkt sind“, bei der Digitalisierung mitnehmen wolle. „Für jene, die gar nicht in der digitalen Welt zurechtkommen, wird es individuelle Lösungen geben, aber das darf uns nicht davon abhalten konsequent auf ‚Digital-first‘ zu setzen.“
Auch die Digitalminister der Bundesländer haben sich diesem Projekt Mitte Mai angeschlossen. Nur die aktuelle Vorsitzende der Digitalministerkonferenz, die rheinland-pfälzische Digitalministerin Dörte Schall (SPD), gab eine Protokollerklärung zu dem Beschluss ab. Darin heißt es, bei der „unbestrittenen“ Effizienzsteigerung durch kürzere Bearbeitungszeiten, Servicequalität und Ressourceneinsparung sei „jedoch darauf zu achten, dass es nicht zu einer digitalen Spaltung der Gesellschaft kommt, wenn ältere Menschen, Menschen mit Behinderung, Personen mit mangelnden digitalen Kompetenzen oder die aus wirtschaftlichen Gründen nicht über die technischen Möglichkeiten verfügen, benachteiligt werden“.
„Digital-Botschafter“ erklären ehrenamtlich die Internetnutzung
Schall sprach sich darum dafür aus, zunächst eine „Digital-first“-Strategie zu verfolgen, bei der es beide Wege für Behördenkontakte gebe. Auch Projekte wie die „Digital-Botschafter“ in ihrem Bundesland, bei denen Ehrenamtliche Älteren und Internetfernen die Nutzung beibringen, seien ein guter Weg, so Schall. Ihr gehe es darum, „mitzudenken, dass wir bei der wahnsinnig schnell voranschreitenden Digitalisierung noch nicht alle Menschen mitgenommen haben“, sagte sie der F.A.Z. Das bedeute, „dass wir Wege finden müssen, wie diese Personen ihre Rechte und Ansprüche genauso gut wahrnehmen können wie jemand, der ein Smartphone hat“.
Auch die BAGSO sieht die Entwicklung mit Sorge und hat dazu nun eine Stellungnahme veröffentlicht, die der F.A.Z. vorliegt. Darin fordert sie Wahlfreiheit und Unterstützung bei der digitalen Transformation, eine altersfreundliche Qualität der digitalen Angebote, bundesweite Standards für die Gestaltung in den Verwaltungen und eine Einbindung Älterer in die Entscheidungsprozesse. „Die im Koalitionsvertrag formulierten Vorhaben müssen um konkrete Maßnahmen ergänzt werden, die auf Inklusion, Barrierearmut, Wahlfreiheit und den Schutz individueller Rechte älterer Menschen ausgerichtet sind“, heißt es in der Stellungnahme.
Karin Hunold, die nun zwar ihre Bahncard hat, um wieder einmal zu ihrer Tochter zu fahren, macht sich über ihre Erfahrungen an Arzt-, Bahn- und Serviceschaltern ihre ganz eigenen Gedanken. „Man wird dadurch auch immer einsamer. Man spricht ja mit keinem Menschen mehr. Nur noch mit Apps und Computern.“