In der Choreographie der NATO kam dem Treffen der Verteidigungsminister am Donnerstag eine besondere Bedeutung zu. Es war nicht nur die letzte Beratung, bevor die Staats- und Regierungschefs der 32 Mitgliedsländer in drei Wochen in Den Haag zusammenkommen. Die Minister legten auch die Fähigkeitsziele fest, die jedes einzelne Land künftig erfüllen muss.
Daraus wiederum leitet sich nun ab, was die Staaten mindestens für Verteidigung aufwenden müssen: 3,5 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für harte Militärausgaben und weitere 1,5 Prozent für verteidigungsbezogene Ausgaben wie Infrastruktur und Cyberabwehr. So hat es Generalsekretär Mark Rutte Anfang Mai intern vorgeschlagen. Offiziell bestätigen wollte er es aber erst am Donnerstag.
Die Fähigkeitsziele werden alle vier Jahre im Rahmen des Verteidigungsplanungsprozesses der Allianz ermittelt und überprüft. In diesem Jahr sind sie aus den neuen Verteidigungsplänen abgeleitet, welche sich das Bündnis nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gegeben hat.
Es sei überhaupt das erste Mal, dass die Ziele aus „operativen Plänen für die kollektive Verteidigung“ abgeleitet würden, hob ein hoher Beamter hervor, denn früher habe es nur Pläne für Interventionen außerhalb des Bündnisgebiets gegeben. Freilich blieben die Alliierten selbst hinter diesen Vorgaben zurück: Die Fähigkeitsziele aus dem Jahr 2021 seien nur „zwischen 60 und 80 Prozent“ erfüllt worden, sagte der Beamte. „Und jetzt bitten wir sie um 30 Prozent mehr als 2021.“ Das Anspruchsniveau liegt also fast doppelt so hoch wie die derzeit vorhandenen Fähigkeiten. In der Praxis geht es deshalb um das größte Aufrüstungsprogramm seit dem Kalten Krieg.
Panzer und Ausrüstung sollen nicht mehr hin- und hergeschoben werden
Was das im Einzelnen bedeutet, unterliegt zwar noch der Geheimhaltung, wird sich aber Schritt für Schritt zeigen, wenn die Staaten neue Verbände aufstellen und Waffensysteme bestellen. Verteidigungsminister Boris Pistorius deutete immerhin schon einmal die Größenordnung an, um die es für die Bundeswehr geht. Deutschland habe abermals das zweitgrößte Fähigkeitspaket in der Allianz übernommen, nach den Vereinigten Staaten, sagte der SPD-Politiker in Brüssel. Man werde „neue Großverbände“ aufstellen und „Kampfbrigaden voll ausstatten“.
Das war bisher nicht so: Panzer und andere Ausrüstung wurden zwischen Einheiten hin- und hergeschoben, je nachdem, welche gerade einen Dienst für NATO, EU oder die UN leistete.
Auch das Personal der Bundeswehr muss deutlich steigen. Pistorius sprach von einer „Daumengröße“ von 50.000 bis 60.000 Soldaten in den „stehenden Streitkräften“, die zusätzlich nötig seien. Indirekt hatte er diese Größenordnung kürzlich schon in einem Interview mit der F.A.S. angedeutet. Da bestätigte er, dass die Bundeswehr für den Verteidigungsfall mit 460.000 Soldaten plane, und sagte, dass 200.000 davon durch den Aufwuchs von Wehrdienstleistenden und die Reaktivierung von Reservisten gewonnen werden könnten. Da die Bundeswehr eine Soll-Stärke von rund 200.000 Berufs- und Zeitsoldaten hat, bleibt also eine Lücke von 60.000 militärischen Dienststellen. Die Obergrenze für aktive Soldaten wurde im Zwei-plus-vier-Vertrag von 1990 auf 370.000 Soldaten festgelegt.
Das neue Ausgabenziel soll laut Rutte bis 2032 erreicht werden
Für die NATO wird Deutschland fünf bis sechs weitere Kampfbrigaden aufbauen müssen, das sind Verbände mit jeweils rund 5000 Soldaten. Derzeit verfügt sie über acht solcher Brigaden, eine neunte ist im Aufbau, eine zehnte in Planung. Außerdem wird sie der Allianz den Stab eines weiteren „Warfighting Corps“, weitere Fregatten, Kampfflugzeuge, Hubschrauber, Luftabwehr- und Raketensysteme stellen müssen.

Der zeitliche Horizont hängt von den einzelnen Fähigkeiten ab. Er reicht von vier bis zu 19 Jahren. Da die NATO und auch die Bundeswehr es für möglich halten, dass Russland ab 2030 das Bündnis testet, wird gerade bei den Landstreitkräften ein schneller Aufwuchs nötig sein. Es werde sich dann auch die Frage stellen, gestand Pistorius ein, ob der neue, freiwillige Wehrdienst ausreiche, um die Ziele zu erfüllen.
Rutte hat den Verbündeten vorgeschlagen, dass sie das neue Ausgabenziel bis 2032 erreichen sollen. Wer jetzt, wie Deutschland, die Zwei-Prozent-Marke erreicht hat, müsste dann Jahr für Jahr 0,2 Prozent drauflegen, um das Mindestziel von 3,5 Prozent zu erreichen. Das gilt unter Fachleuten als vertretbar, sofern es mit einem massiven Ausbau der Verteidigungsindustrie einhergeht. Andernfalls würden nämlich nur die Preise steigen, nicht die Fähigkeiten.
Ob sich alle Verbündeten auf einen solchen Pfad festlegen lassen, ist aber noch offen. Insbesondere Staaten wie Belgien, Italien, Spanien und Kanada, die jetzt noch hinterher hängen, dringen auf Flexibilität. Dagegen machten etwa Schweden und Estland einmal mehr deutlich, dass die NATO aus ihrer Sicht schon bis 2030 liefern müsse.
Eine gemeinsame Sprache mit der US-Regierung
Das alles ist jetzt Teil der Verhandlungen bis zum Haager Gipfeltreffen. Schon klar ist, dass es dort nur eine kurze Erklärung der Verbündeten geben soll, idealerweise eine Seite Papier mit fünf bis sechs Absätzen, wie ein Diplomat erläuterte. Der Grund dafür sind die offenkundigen Schwierigkeiten, eine gemeinsame Sprache mit der US-Regierung zu finden.
Pistorius spielte darauf an, als er sich klare Formulierungen zur Bedrohung durch Russland wünschte. Andernfalls habe man auch ein „Erklärungsproblem“, was die höheren Verteidigungsausgaben angehe. Sein US-Kollege Pete Hegseth sagte ganz allgemein, die Ausgaben seien die „Anerkennung der Natur der Bedrohung“.
Auch schon klar ist, dass es diesmal keinen NATO-Ukraine-Rat auf Ebene der Regierungschefs geben wird – das haben sich die USA ausbedungen. Allerdings hat Rutte den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj trotzdem eingeladen, zum gemeinsamen Abendessen vor Gipfelbeginn und vielleicht zu einem Rat auf Ebene der Außen- oder Verteidigungsminister. Auch das ist noch Verhandlungssache.