Wenn Gesundheit zum gewinnbringenden Fetisch wird

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Der Inbegriff eines schlimmen Schicksals: mit Anfang vierzig, wenn die Kinder oft genug noch jung oder gerade geboren sind, zu erfahren: Die Hirnkrankheit, die man geerbt hat, beginnt genau jetzt – und endet in wenigen Jahren tödlich. Nichts, was die Medizin tun kann, keine Heilung in Sicht. Seit Jahrzehnten wird das Leiden, Chorea Huntington, genau so in Medizin und Ethik verhandelt. Als ein – durch Gentests – vorhersehbares, aber eben auch unausweichliches Schicksal. Ebenso lange wird über den Sinn und die Zulässigkeit solcher Gentests diskutiert, genau wie über einen mehrheitlich in unserer Gesellschaft abgelehnten therapeutischen Eingriff in die Keimbahn, also eine Genreparatur, um so wenigstens die Nachkommen vor dem fatalen Gendefekt zu bewahren.

Die Arbeit der russischstämmigen US-Forscherin Anastasia Khvorova könnte die Diskussionslage bei Chorea Huntington grundlegend verändern. Und nicht nur bei dieser Erkrankung. Khvorova hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten an der UMass Chan Medical School in Massachusetts ein System entwickelt, um die zerstörerische Hirnkrankheit möglicherweise schon bald so früh zu behandeln, dass die geerbte, praktisch vorprogrammierte Zerstörung der Gehirnmasse verhindert wird. Grundlage sind winzige RNA-Schnipsel, „small interfering RNA“ (siRNA), eine Art Google-Suchsystem im Zellinneren.

Wann immer in der Zelle eine Genabschrift, die Boten- oder mRNA, auftaucht, entscheiden diese siRNA, ob das auf dem mRNA-Molekül codierte Genprodukt hergestellt wird oder nicht. Khvorova hat diese normalerweise sehr kurzlebigen winzigen siRNA-Moleküle im Labor biochemisch so stabil gemacht, dass eine einzige Gabe in die Blutbahn das Ablesen der fatalen Huntington-RNAs für ein halbes oder gar ein Jahr lang unterdrückt. „Wir können es möglicherweise schaffen, dass die Krankheit zwar nicht getilgt, aber nie ausbrechen wird. Wir behandeln das Leiden nicht, wir verhindern es.“

Reparaturansatz in der Medizin greift zu kurz

Zulassungsreif ist Khvorovas vielversprechendes Medizinprodukt, für das sie unlängst in Frankfurt den mit 2,5 Millionen Euro dotierten Else-Kröner-Fresenius-Preis für Medizinische Forschung erhalten hat, noch nicht. Aber es passt in eine Denkrichtung innerhalb der Medizin, die lange vor allem ein Wunschdenken spiegelte. Die jedoch mit der vom Reparaturansatz geprägten klinischen Realität oft wenig zu hatte.

RNA-Medikamentenforscherin Anastasia Khvorova, die den mit 2,5 Millionen Euro dotierten Medizinischen Forschungspreis 2025 der Else-Kröner-Fresenius-Stiftung erhalten hat.
RNA-Medikamentenforscherin Anastasia Khvorova, die den mit 2,5 Millionen Euro dotierten Medizinischen Forschungspreis 2025 der Else-Kröner-Fresenius-Stiftung erhalten hat.dpa

Gut 90 Prozent der chronischen und früher oder später ebenfalls oft tödlich endenden Leiden gehören in eine der Kategorien Krebs, Herz-Kreislauf-Leiden oder neurodegenerative, sprich: Hirnkrankheiten. Es sind allesamt Leiden, in denen die Mehrzahl der schweren Verläufe nach heutigem Wissen entweder verhindert werden oder zumindest Jahre vor den lebensbedrohlichen Symptomen erkannt und damit behandelt werden könnte. Prävention und Früherkennung – zwei Seiten einer Medaille, die nicht nur Michael Baumann, Chef des Deutschen Krebsforschungszen­trums (DKFZ) in Heidelberg, als „ganz heißes Thema“ innerhalb der Medizinforschung betrachtet. Die Helmholtz-Gemeinschaft, zu der das DKFZ zählt, hat dazu in den vergangenen Monaten auch eine „Task Force Prävention“ gegründet. Ihr mehrseitiges Fazit, das kürzlich sogar in „Nature Medicine“ erschienen ist, lautet: „Für eine Vielzahl der Krankheiten fehlte bisher eine Langzeitstrategie.“ Und: „Wir müssen die Erforschung der subklinischen Krankheitsstadien und der frühen Eingriffsmöglichkeiten dringend voranbringen.“ Es gehe um einen „Paradigmenwechsel“.

Das hochrangig publizierte Strategiepapier ist nicht das erste aus der jüngeren Vergangenheit. Der 23-köpfige Expertenrat der Bundesregierung „Gesundheit und Resilienz“, Nachfolgegremium des „Corona-Expertenrats“, gibt seit seiner Berufung vor etwas mehr als einem Jahr praktisch im Monatsrhythmus Empfehlungen heraus. In der vierten Stellungnahme hieß es: Ein Fokus auf Prävention sei entscheidend. „Im europäischen Vergleich liegt Deutschland bei der vermeidbaren Sterblichkeit nur im Mittelfeld. So galten im Jahr 2021 insgesamt 203.000 Todesfälle als vermeidbar, davon 65.000 durch Behandlung, aber mit 138.000 Todesfällen etwa doppelt so viele durch Prävention.“

Selbst die Industrie macht seit einiger Zeit auffallend stark für Prävention. Mit dem „Präventionsindex“, den laut Pfizer ein interdisziplinäres Fachgremium entwickelt und der für Fortschritte im „Land der Gesundheitsvorsorge“ sorgen soll, bewirbt der Konzern vehement die frühzeitige Beschäftigung mit den Gesundheitsgefahren.

40 Prozent der chronischen Leiden vermeidbar

Tatsächlich sind die Zahlen anhaltend niederschmetternd: Deutschland liegt, gemessen an den hohen Gesundheitskosten, bei der Lebenserwartung europaweit im untersten Viertel. 40 Prozent der durch risikoreiches Verhalten beeinflussten chronischen Leiden – durch Rauchen, zu viel Alkohol, falsche Ernährung und Bewegungsfaulheit – könnten durch Vermeidung dieser Risiken verhindert werden.

Um Risikofaktoren allein geht es allerdings nicht, wenn nun allenthalben die Gesundheitsvorsorge propagiert wird. Es locken auch neue Geschäftsmodelle. Vorbild könnte die schon vor Jahren vom Molekularbiologen Leroy Hood gegründete „P4-Medizin“ sein: Prävention, Prädiktion, Personalisierung und Partizipation. Hood hat die Prävention als Megatrend entdeckt und in Kalifornien ein lukratives Institut gegründet, das insbesondere um gut betuchte US-Amerikaner wirbt.

Alzheimer-Frühtests zur Ermittlung des Gehirnzustands gibt es inzwischen viele, auch die Bildgebung spielt eine zentrale Rolle und verbessert sich immer mehr.
Alzheimer-Frühtests zur Ermittlung des Gehirnzustands gibt es inzwischen viele, auch die Bildgebung spielt eine zentrale Rolle und verbessert sich immer mehr.AP

In immer kürzeren Abständen werden inzwischen Techniken und Konzepte veröffentlicht, die Fortschritt versprechen und ethisch auf der richtigen Seite stehen wollen. Auch ein Grund, weshalb in der Helmholtz-Strategie der Ruf nach einer „evidenzbasierten Prävention“ laut wird – und nicht nach Milliarden neuer Gesundheitsausgaben, wie sich das die einen oder anderen erhoffen. Von Jahr zu Jahr bedeutender als Treiber des Vorsorgekonzeptes wird dabei ein Gebiet, das man unter dem Titel Gesundheitsvorhersage zusammenfassen könnte. Wie bei Wetter- oder Klimavorhersage geht es vor allem darum, mögliche Verschlechterungen frühzeitig zu ermitteln und neuerdings auch eine Prognose des gesunden Alterns zu liefern. Grundlage sind vor allem Big Data, Bildgebung, Bluttests und KI. Gentests wie bei Chorea Huntington sind ein Beispiel, aber wohl nur der Anfang. Auf der Tagung der Europäischen Gesellschaft für Humangenetik in Mailand ist nach einer experimentellen Studie in Australien jüngst ein neues Schnelltest-Panel präsentiert worden. Es enthüllt durch die Entschlüsselung Tausender Proteine in den Blutproben schon kurz nach der Geburt viele erst später relevante krankhafte Veränderungen – zum Preis eines konventionellen Gentests.

Als wegweisend wird ein neuer Bluttest auf Alzheimer gesehen, „Lumipulse“, der von der US-Genehmigungsbehörde vor Kurzem zugelassen wurde. Er misst das Verhältnis zweier für die Demenz entscheidender Proteine – Tau und Beta-Amyloid – und soll einstweilen schon bei leichten kognitiven Einbußen ab dem Alter von 55 Jahren eingesetzt werden können. Allerdings sind dazu bisher nur US-Kliniken befugt. Ob es dabei bleibt, wird sich zeigen. Klar ist: Erkennt man eine hohe Erkrankungswahrscheinlichkeit für Alzheimer früh genug, kann in vielen Fällen rechtzeitig interveniert werden. Denn auch hier gilt: Die mehr als ein Dutzend Risikofaktoren sind bekannt und evaluiert. Hier kann Prävention ansetzen: Verhalten ändern, Defizite beseitigen, möglicherweise auch medikamentös-präventiv eingreifen. In Deutschland gibt es derzeit gut 1,8 Millionen Betroffene, bis 2050 soll sich die Zahl der Alzheimer-Diagnosen verdoppeln.

Leicht zu erkennen ist das viel benutzte Präventionsparadigma an den Adressaten: Mutmaßlich Gesunde, nicht Patienten, werden angesprochen. Lange bevor der Mensch Patient wird, ist er als Kunde im System ein interessanter Ansprechpartner.

Ein weiteres schönes Beispiel für die Gesundheitsvorhersage, die am Ende in der Praxis doch oft eine Krankheitsprognose ist, wurde soeben in „Nature Chemical Engineering“ von kalifornischen Wissenschaftlern vorgestellt: ein KI-unterstützter Kugelschreiber, der Parkinson erkennen soll, wenn schon kleinste motorische Einschränkungen die Handbewegung stören. Eine magnetische „Tinte“ im Kugelschreiber wandelt die kleinsten Bewegungen in elektrische Signale um, die KI erkennt auffällige Bewegungsmuster. Parkinson ist mit zehn Millionen Betroffenen weltweit die zweithäufigste Hirnerkrankung nach Alzheimer. Die Forscher sind überzeugt, dass der Kugelschreibertest schon „beim ersten Verdacht“ frühe Anzeichen von Parkinson recht sicher erkennen könnte. Ein angesichts von knapp einem Dutzend Probanden noch sehr unsicheres Versprechen. Und doch: Das zweite Versprechen, dass der Parkinson-Kugelschreiber nämlich leicht in Serie und preisgünstig produziert werden könnte, könnte die Präventionsphantasien deutlich forcieren.