Krieg in der Ukraine: Drohnen gegen Atombomber

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Am vergangenen Sonntag hat der ukrainische Geheimdienst SBU etwa ein Dutzend schwere Bomber der russischen Nuklearstreitkräfte zerstört. Sie verbrannten nach Drohnenangriffen auf Stützpunkte in der Arktis und in Sibirien. Nach westlichen Schätzungen beschädigte die „Operation Spinnennetz“ 20 bis 40 Flugzeuge und zerstörte ein knappes Dutzend. Der Schaden dürfte in die Milliarden Euro gehen. Tatwerkzeug waren nach Kiewer Angaben 117 Drohnen, jede so leicht, dass ein Soldat sie allein tragen kann, und so billig, dass er sie auch bezahlen könnte.

Die Ukraine und Russland erscheinen seither in einem neuen Licht. Kiew hat die Leistungskraft eines weltweit neuartigen Wehrsystems bewiesen, das manche als „Ökosystem“ beschreiben, andere als „Ameisenvolk“. In Russland fiel auf, wie verhalten das Regime zunächst reagierte. Der Gouverneur des Gebiets Irkutsk ließ zwar wissen, er werde vielleicht ein paar Männer auszeichnen, die den ukrainischen Drohnen Steine hinterhergeworfen haben sollen. Aber Präsident Wladimir Putin sagte zu diesem Angriff auf seine Atomstreitmacht erst einmal nichts. Erst sein amerikanisches Gegenüber Donald Trump brach nach drei Tagen das Schweigen: Putin, teilte er nach einem Telefonat mit, habe ihm „sehr stark“ versichert, dass Russland „antworten“ müsse.

Der Krieg in der Ukraine hat sich sehr verändert. Die Artillerieschlachten im Stil des Ersten Weltkriegs scheinen Vergangenheit. Laut Olexandr Syrskyj, dem ukrainischen Oberbefehlshaber, werden heute zwei Drittel der russischen Verluste durch Drohnen verursacht, und das amerikanische Verteidigungsministerium erkennt eine „fundamentale“ Veränderung: Billige, einfache Systeme hätten „den Präzisionsschlag demokratisiert“.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Die Ukraine macht hier Tempo. 2022 hat sie nach Angaben der Kyjv School of Economics höchstens 5000 Drohnen hergestellt, Ende 2024 verkündete Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Jahresproduktion von einer Million. Diese Steigerung hat mit dem Charakter der Landesverteidigung in der Ukraine zu tun. Schon beim ersten russischen Angriff im Jahr 2014 kämpfte neben der Armee auch eine wilde Mischung von bewaffneten Freundeskreisen, die erst später zu regulären Einheiten wurden. Manche dieser „Bataillone“ frästen in Schuppen und Hinterhöfen ihre eigenen Sturmgewehre, und beim Bataillon „Aidar“ machten auch einige der ersten ukrainischen Drohnenbastler ihre ersten Kampferfahrungen – unter anderem Maria Berlinska, die als Studentin in einem klapprigen Schiguli zwischen die Kampflinien fuhr und heute eine der wichtigsten Drohnenaktivistinnen des Landes ist.

Jung, engagiert, kein Militärhintergrund

Aus diesem Umfeld schöpft die Ukraine ihre Kampfkraft. Fast jedes Bataillon hat freiwillige Helferstrukturen, die es ohne jede Verwaltungskette mit Geld, Waffen und eben auch Drohnen versorgen. Die Leute aus diesem Umfeld sind typischerweise jung (ein Regimentskommandeur wird mit den Worten zitiert, er suche Kids um die 18, die „Counter-Strike“ spielen), und sie haben nach Auskunft eines anderen Befehlshabers „zu 80 Prozent“ keinen militärischen Hintergrund. Dementsprechend sind einige der wichtigsten Akteure der ukrainischen Drohnenentwicklung, etwa die „Wilden Hornissen“ oder „Aeroroswidka“, weder Unternehmen noch Militäreinheiten, sondern zivile Vereine. Diese Verflechtung von Gesellschaft und Truppe hat nach Ansicht von Fachleuten wie dem pensionierten amerikanischen Admiral Michael Hewitt ein „noch nie da gewesenes“ Ökosystem hervorgebracht, das vom gemeinsamen „Kampf ums Überleben“ zusammengehalten wird.

Wie es funktioniert, hat einer seiner Hauptakteure der F.A.S. beschrieben: Serhij Koschmann, der die Plattform „Brave1“ mit aufgebaut hat – eine Regierungsstelle, die versucht, die vielen Hundert Akteure zu koordinieren. Seiner Ansicht nach kann so eine Landschaft nicht mit den Methoden eines Ministeriums gelenkt werden. „Das wäre, als wollte die Verwaltung des Zoos von Rio de Janeiro den Amazonas-Dschungel organisieren.“ Das System funktioniere nicht „top-down“ wie eine Militäreinheit, sondern wie ein „Ameisenvolk“: Unzählige Individuen organisierten sich durch direkten Kontakt, und wenn ein Hindernis auftauche, werde es umgangen.

Das bringt zwei Vorteile: niedrige Kosten und Tempo. In einer Studie der London School of Economics (LSE) heißt es, die ukrainischen Drohnenpioniere arbeiteten trotz hoher Qualifikation oft gratis, und Kosten würden durch Spenden beglichen. Man kommuniziere mit dem Militär nicht auf dem Dienstweg, sondern direkt per Chatgruppe und spare so Zeit und Geld. Die LSE zitiert einen Politiker und einen Drohnenausbilder mit den Worten, so ströme der „Start-up-Geist“ der IT-Branche aus den „Garagen“ der „verrückten Wissenschaftler“ direkt in die Truppe.

Ukrainische Drohne: Der Krieg hat sich sehr verändert. Die Artillerieschlachten im Stil des Ersten Weltkriegs scheinen Vergangenheit.
Ukrainische Drohne: Der Krieg hat sich sehr verändert. Die Artillerieschlachten im Stil des Ersten Weltkriegs scheinen Vergangenheit.dpa

Oft passiert das im wörtlichen Sinn: Der zivile Nerd fährt zu seinem Kumpel an der Front, testet die neueste Verbesserung und passt sie an Ort und Stelle an. Patente, Standards, Geheimhaltungsregeln spielen keine Rolle. Koschmann erzählt, NATO-Offizieren hätten sich die Haare gesträubt, als sie diese Methoden gesehen hätten, aber im Krieg habe man keine Zeit für „Nonsens“. Wichtig sei: Eine Neuerung, für die der „Zoo“, also das Ministerium, sechs Monate brauche, schaffe der „Dschungel“ in sechs Stunden. Die LSE zitiert einen Entwickler mit den Worten, „wenn wir nicht schnell sind, sterben Leute“.

Tempo ist wichtig, denn auch der Feind ist schnell. Auch die Ukrainer erleiden hohe Verluste durch russische Drohnen, auch das russische Militär setzt auf unbemannte Flugobjekte, die aus großer Entfernung ins Ziel gesteuert werden. Sogar aus Moskauer Bürotürmen: Vor Kurzem veröffentlichte die Staatsagentur RIA Nowosti ein Video, das zeigen soll, wie ein Pilot am Bildschirm aus einem Turm des Hochglanzviertels Moscow City ein ukrainisches Ziel im Donbass vernichtet, in Absprache mit den Soldaten an der Front. Nachdem russische Kriegsblogger kritisiert hatten, das Video mache die Moskauer Hochhäuser – die selbst schon von Drohnen getroffen worden sind – zu legitimen Zielen, entfernte RIA es wieder.

Ahnungslose Lastfahrer fuhren die Drohnen nach Russland

Zuletzt hatte Russland auf den Schlachtfeldern sogar einen gewissen Vorsprung gewonnen. Beide Seiten versuchen, ihre Drohnen vor Störsendern zu schützen. Koschmann berichtet, die Ukrainer hätten zunächst auf die falsche Methode gesetzt: auf Künstliche Intelligenz, die das Gerät auch ohne Funkkontakt führen könnte. Das habe nicht funktioniert, und so hätten die Russen mit einer viel einfacheren Lösung – Drohnen an kilometerlangen Glasfaserkabeln – für kurze Zeit vorn gelegen.

Mit dem Schlag gegen die russische Bomberflotte scheint Kiew im Drohnenkampf jetzt wieder in Führung gegangen zu sein: Ein derart großer Einsatz der Fluggeräte bis zu Tausende Kilometer entfernt von der Front ist beispiellos. Möglich wurde er dadurch, dass ahnungslose Lastwagenfahrer die in Containern verborgenen Drohnen in Lastwagen auftragsgemäß quer durch Russland an die Einsatzorte in die Nähe der Militärflugplätze fuhren, auf denen die Langstreckenbomber stationiert sind.

Diese haben eine Doppelrolle. Einerseits gewährleisten die Bomber als Teil der Triade aus land-, see- und luftgestützten Atomwaffen Russlands Abschreckung. Andererseits nutzen die Invasoren sie konventionell, um Ziele in der Ukraine anzugreifen. Die Langstreckenbomber steigen auf, um Marschflugkörper auf ukrainische Ziele abzufeuern, auf Stellungen des Militärs, auf Kraftwerke, auf Städte wie Kiew, wo ein solches Geschoss im Juli vorigen Jahres das Kinderkrankenhaus Ochmatdyt zerstörte. Deshalb sind die entsprechenden russischen Militärflughäfen schon länger ein Ziel der ukrainischen Verteidiger. So griffen Langstreckendrohnen in einer Nacht Anfang Dezember 2022 zwei Militärflugplätze an: Im Rjasaner Gebiet südlich von Moskau wurden damals drei Tu-22M3­-Bomber, im Gebiet Saratow an der Wolga zwei Tu-95 beschädigt. Es gibt mehrere ähnliche Fälle, die Angaben über Schäden gehen auseinander. Und nicht nur Drohnen wurden eingesetzt: Der ukrainische Militärgeheimdienst HUR führte im April vorigen Jahres den Absturz eines Tu-22M3-Bombers, der gerade von einem Einsatz gegen die Ukrai­ne in die Nordkaukasusregion Stawropol zurückkehrte, bei der Landung auf einen Beschuss durch eine modifizierte S-200-Flugabwehrrakete zurück, wohingegen das russische Verteidigungsministerium einen technischen Fehler verantwortlich machte. Abgeschossen wurden auch zwei A-50-Aufklärungsflugzeuge, im Januar und Februar 2024 über dem Asowschen Meer respektive der südwestrussischen Region Krasnodar.

Beschädigtes Munitions- und Waffenlager auf dem russischen Luftwaffenstützpunkt in Engels in der Region Saratow
Beschädigtes Munitions- und Waffenlager auf dem russischen Luftwaffenstützpunkt in Engels in der Region Saratowdpa

Auch bei der „Operation Spinnennetz“ soll nun mindestens eine dieser für Moskau wichtigen, fliegenden Kommandozentralen zerstört worden sein; Aufnahmen des SBU von einem Militärflugfeld im Gebiet Iwanowo zeigen gar, dass seine Drohnen auf zweien dieser äußerst teuren und immer spärlicher werdenden Maschinen gelandet sind.

Mit Langstreckendrohnen griff die Ukraine im Mai vorigen Jahres offenbar auch Radarstationen in der südwestrussischen Region Krasnodar sowie im Orenburger Gebiet an der Grenze zu Kasachstan an; mindestens die erste wurde dabei vermutlich beschädigt. Solche Stationen braucht Russland auch für sein Frühwarnsystem vor einem nuklearen Angriff. Damals teilte Washington seine Besorgnis darüber der Regierung in Kiew­ mit – auch jetzt, nach dem bisher größten Schlag gegen Russlands strategische Luftwaffe, gab es mahnende Stimmen aus Washington und die Versicherung, vorab nicht über den ukrainischen Angriff informiert gewesen zu sein.

Für Putin ist es schwierig, weiter zu eskalieren

Von russischer Seite sprachen nur wenige die Angriffe auf die wichtigen Einrichtungen überhaupt an. Das Muster setzt sich fort: Radikale Stimmen wie die Kriegsblogger fordern Vergeltung, offizielle Stellen wie das Außen- und das Verteidigungsministerium spielen herunter. Letzteres gab nach der „Operation Spinnennetz“ nur zu, dass auf zweien der insgesamt fünf attackierten Flugplätze „einige Einheiten von Luftfahrttechnik in Brand geraten“ seien.

Putin selbst schürt zwar Angst im Westen, um mit Hinweis auf sein Nu­kleararsenal Gegner einzuschüchtern. Passiert aber konkret etwas, gilt es für ihn, keine Schwäche zu zeigen – und dazu gehört, Erfolge der Feinde nicht hervorzuheben. Zudem ist es für den Kriegsherrn schwierig, weiter zu eskalieren: Den Angriffskrieg gegen die Ukraine führt er schon mit radikalen konventionellen Mitteln, Nuklearschläge jedoch wären ein radikales und hochriskantes Mittel, das ihn auch vor wichtigen Partnern wie China und Indien zum Paria machen würde.

Von dieser schwierigen Lage zeugt auch der Einsatz der Oreschnik, einer angeblich neuartigen Mittelstreckenrakete, die Russland im vergangenen November auf die ukrainische Stadt Dnipro abfeuerte. Putin stellte dies seinerzeit als Reaktion auf die Erlaubnis für Kiew dar, amerikanische ATACMS- und HIMARS-Raketen sowie britische Storm-Shadow-Marschflugkörper auch gegen Ziele in Russland einzusetzen. Es ging ihm um ein politisches Zeichen der Abschreckung: Den geringen Schäden am Boden nach zu urteilen, war die Rakete nur mit Übungsmunition bestückt, und Fachleute hoben hervor, voll beladen könne die Oreschnik Probleme mit der Zielgenauigkeit bekommen. Zudem sagte Generalstabschef Valerij Gerassimow seinem amerikanischen Gegenüber laut „New York Times“, der Start sei „lange“ geplant gewesen, und Putins Sprecher gab zu, die Amerikaner 30 Minuten vor dem Start gewarnt zu haben. Auch der Kreml wollte in angespannter Lage Missverständnisse vermeiden.