Albrecht Schöne als Göttinger Universitätslehrer

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Gottsched – das war so ein richtiger Großordinarius“. Diese Worte lösten im Auditorium maximum der Universität Göttingen schallendes Gelächter aus; gesprochen hatte sie am 2. November 1981 im Rahmen seiner Vorlesung zur Literaturgeschichte der deutschen Aufklärung der Germanistikprofessor Albrecht Schöne, selbst ein Großordinarius alter Schule, wie fast jeder Anwesende im Raum wusste. Tatsächlich war der große, am 21. Mai verstorbene Gelehrte ein in seiner Art unerreichbarer Meister der Selbstinszenierung und des großen Auftritts, ein begnadeter, über jeden rhetorischen Trick gebietender akademischer Lehrer und Redner, der sein Metier besser beherrschte als jeder andere Professor, der vor viereinhalb Jahrzehnten an der alten Georgia Augusta zu Göttingen lehrte.

Schönes Vorlesungen waren in einer heute kaum noch vorstellbaren Weise städtische Ereignisse. Das aus dem gebildeten Bürgertum der Universitätsstadt hinzuströmende Publikum besetzte bereits eine halbe Stunde vorher die ersten fünf bis sechs Bankreihen des Auditorium maximum; jene zusätzlichen Hörer wurden von den weiter hinten sitzenden jungen Leuten respektlos als „Göttinger Bildungsschranzen“ bezeichnet. Vor diesem gemischten Publikum las Schöne, stets im Wintersemester am Montag zwischen 18 und 20 Uhr, über die großen Epochen der deutschen Literaturgeschichte: Barock, Aufklärung, Sturm und Drang, Weimarer Klassik, Romantik. Dann allerdings folgte ein Schnitt, denn die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts interessierte ihn weniger; er fuhr im nächsten Wintersemester fort mit dem ersten Teil einer zweisemestrigen Vorlesung zum zwanzigsten Jahrhundert. Und dazwischen, eindeutiger Höhepunkt seiner Vorlesungstätigkeit, der zweistündige „Faust“, den man als Göttinger Student gehört haben musste, auch wenn man nicht Germanistik oder sogar nicht einmal Geisteswissenschaften studierte.

Die Nürnberger Pegnitzschäfer

In allen diesen Vorlesungen – sämtliche durchdacht aufgebaut, reflektiert argumentierend und mit erkennbar großer Leidenschaft für die Sache vorgetragen – war in der Tat ungeheuer viel zu lernen. Der Verfasser dieser Zeilen hat als Student und Doktorand im Laufe der Jahre zehn Vorlesungen Schönes gehört und immens davon profitiert. Die Barock-Vorlesung, meist etwas weniger gut besucht als die anderen, war angelegt als allgemeine Einführung in das Leben, Denken und Schreiben, auch in die Glaubenswelten des deutschen siebzehnten Jahrhunderts. Ein von der Gegenwart weit entferntes, zutiefst fremdes Zeitalter erstand vor den Augen der – damals meist fleißig mitschreibenden – jungen Zuhörer, die nicht nur über lyrische Formen, Romantheorien oder Sprachpflege dieser Literaturepoche etwas erfuhren, sondern auch über die damaligen Arten des Theaters, von der Wanderbühne bis zum Schultheater, über Dichtergesellschaften von den Nürnberger Pegnitzschäfern bis zum Kreis um Simon Dach in Königsberg, über „galante Lyrik“, „Schäferdichtung“ und das Kirchenlied in dieser Zeit.

Anhand tief dringender Interpretationen von Gryphius und vor allem Grimmelshausen wurde die unheile Welt des siebzehnten Jahrhunderts, gekennzeichnet durch Kriege und Grausamkeiten aller Art, vor den Augen der Zuhörer mit großer Meisterschaft imaginiert; das Motiv des „Schicksalsrades“ der unbeständigen Fortuna illustrierte an­schaulich das Lebens- und Zeitgefühl der Menschen zwischen Reformation und Aufklärung. Auch die religiösen Bewegungen im Kontext von Frühpietismus, selbst ernannten Propheten wie dem seltsamen Quirinus Kuhlmann, die Wandlungen des Kirchenliedes oder auch die literarischen Protagonisten der katholischen Gegenreformation wurden einem hier in einer Weise nahegebracht, die anderswo nicht zu finden war. Der Verfasser, Historiker im Hauptfach, hat bei Schöne über das siebzehnte Jahrhundert sehr viel mehr gelernt als bei den zünftigen Spezialisten für die Geschichte dieser Zeit.

Aber Albrecht Schöne konnte auch ein sehr empfindlicher Mensch sein; wer seinen sorgfältig inszenierten, genau vorbereiteten und stets konzentrierten Vortrag in irgendeiner Weise störte, etwa durch Zuspätkommen oder vorzeitiges Verlassen des Hörsaals (für jeden akademischen Lehrer damals wie heute sehr unerfreulich), wurde vom Professor vor der versammelten Zuhörerschaft – meist etwa fünf- bis sechshundert Menschen – mit deutlichen Worten zurechtgewiesen. Das führte dann bei herannahendem Ende des Semesters meistens zu einem vergleichsweise überdurchschnittlichen Hörerschwund. Der war damals vermutlich auch auf das von Schöne vorausgesetzte aufwendige Lektürepensum zurückzuführen, das man nicht immer schaffen konnte.

Lichtenbergs Briefe

Ähnlich wie in seiner Vorlesung trat Schöne auch in öffentlich gehaltenen Vorträgen auf, etwa zu dem (von ihm so bezeichneten) „Göttinger Stadtheiligen“ Georg Christoph Lichtenberg, dessen Briefe er mit seinem Schüler Ulrich Joost im Rahmen eines Akademieprojekts herausgab. Im Stadttheater wurde unter seiner Anleitung und Beteiligung die Kon­troverse „Lessing contra Goeze“, die legendäre Polemik zwischen dem aufgeklärten Dichter und seinem Kontrahenten, dem Hamburger Hauptpastor, auf die Bühne gebracht. Und im Rahmen der großen Barockvorlesung wurde Günter Grass eingeladen, der damals gerade sein im Jahr 1648 spielendes Büchlein „Das Treffen in Telgte“ veröffentlicht hatte.

„Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde“: Dieses Wort Jean Pauls zitiert Albrecht Schöne in seinem Buch über den „Briefschreiber Goethe“. Das Porträt des Gelehrten im Fenster seiner Bibliothek entstand 2005.
„Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde“: Dieses Wort Jean Pauls zitiert Albrecht Schöne in seinem Buch über den „Briefschreiber Goethe“. Das Porträt des Gelehrten im Fenster seiner Bibliothek entstand 2005.Rainer Wohlfahrt

Das war ein höchst denkwürdiger Auftritt, den kaum einer der damals Anwesenden – es mögen im größten Hörsaal der Universität an die eintausend Zuhörer gewesen sein – vergessen haben dürfte. Grass las einen Ausschnitt aus seinem Buch vor, danach sollte es eine Diskussion geben, die sich jedoch, wie wohl zu erwarten, zu einem Zwiegespräch zwischen dem Dichter und dem Professor entwickelte. Schöne begann mit einer offenbar lange überlegten und genau vorbereiteten Frage, fast einem Koreferat, zum Gesamtkonzept dieses kurzen Romans, der ein fiktives Dichtertreffen in der Barockzeit zum Thema hatte. Er endete mit einem sehr bekannten Zitat aus den „Athenäumsfragmenten“ des jungen Friedrich Schlegel: „Der Historiker ist ein rückwärts gekehrter Prophet“ und schloss die Frage an: „Kann ich dies so deuten?“ Der schon damals kaum an mangelndem Selbstbewusstsein leidende Dichter antwortete lapidar: „Das können Sie“ – worauf der große Saal von schallendem Gelächter widerhallte. Schöne behielt die Fassung, und Grass schloss dann schnell noch einige erläuternde und versöhnliche, den Gastgeber lobende Worte an, der sich dann wiederum artig für den Gastauftritt des Dichters in seiner Vorlesung bedankte.

Der Sommer 1985, in dem Schöne als Präsident des Weltverbandes der Germanisten deren internationalen Kongress unter dem Obertitel „Kontroversen, alte und neue“ in Göttingen abhielt, sah ihn auf der Höhe seines Ansehens; zur Eröffnung kam der Bundespräsident, damals Richard von Weizsäcker, persönlich. Auch hier hatte Schöne nicht nur die Fachkolleginnen und -kollegen aus aller Welt zu Gast, sondern auch eine Reihe mehr oder auch weniger prominenter deutschsprachiger Dichter, deren abendliche Lesungen für alle Interessierten zugänglich waren; der Verfasser erinnert sich an den Auftritt von Ernst Jandl, der einige seiner Gedichte in hartem Österreichisch vortrug und im Hörsaal der norddeutschen Universitätsstadt wie ein Fremdkörper wirkte.

Auf harte Kritik eingestellt

Im Seminar trat Schöne indessen weniger verbindlich auf; hier verlangte er zuerst und vor allem Leistung, intensive Mitarbeit und präzise Vorbereitung auf die Sitzungen. Es ging um Goethes Briefe, von denen ausgewählte Stücke interpretiert wurden, einer in jeder Sitzung. Wer unvorbereitet war, gar die einfachsten Fragen des Seminarleiters nicht beantworten konnte – etwa: „Wie alt war Goethe im Herbst 1765, und warum verfasste er den Brief in Leipzig?“ –, wurde gnadenlos gemaßregelt. Das war hart, aber es wirkte, weil es die Motivation zur Vorbereitung merklich erhöhte.

Der Verfasser, der seinerzeit schon als Doktorand der Neueren Geschichte an diesem Seminar teilnahm (gemeinsam übrigens mit Heinrich Detering und anderen später bekannt gewordenen Teilnehmern), ahnte bei einem auf dem Programm stehenden Thema zum politischen Goethe glücklicherweise rechtzei­tig, welche Fragen auf ihn eventuell zukommen könnten. Diese wurden dann tatsächlich auch gestellt, und der Befragte konnte – anhand Ernst Rudolf Hubers Verfassungsgeschichte wohl präpariert – darlegen, dass zur Zeit des späten Goethe das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach einer der ersten Verfassungsstaaten in Deutschland mit einem nach Ständekurien zusammengesetzten Parlament gewesen war. Schöne nickte anerkennend – sein Lob verteilte er im Seminar nur äußerst sparsam.

1946, nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, arbeitete Albrecht Schöne als Holzfäller und lernte so, „was handwerkliche Präzision ist und gespannte Aufmerksamkeit und vollkommene Versammlung“. Siebzig Jahre später fotografierte Barbara Klemm ihn in Göttingen.
1946, nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, arbeitete Albrecht Schöne als Holzfäller und lernte so, „was handwerkliche Präzision ist und gespannte Aufmerksamkeit und vollkommene Versammlung“. Siebzig Jahre später fotografierte Barbara Klemm ihn in Göttingen.Barbara Klemm

Auch die Referenten mussten sich im gegebenen Fall auf harte Kritik einstellen. Zu Ende der Siebzigerjahre hatten sich, dem Hörensagen nach, in einem Hauptseminar Schönes über die Romane Heinrich Manns heftige Auseinandersetzungen zwischen dem Professor und einigen Teilnehmern abgespielt. Schöne war daraufhin in Flugblättern scharf und polemisch angegriffen worden, und das hatte er nicht vergessen. Auch daher wohl seine erkennbare Reserve gegenüber den Teilnehmern des – trotzdem überfüllten – Seminars. Der Verfasser hatte, je nachdem, das Pech oder das Glück, den letzten Seminarvortrag halten zu dürfen, ausgerechnet über Goethes allerletzten, wenige Tage vor seinem Tod niedergeschriebenen Brief an Wilhelm von Humboldt, in dem der greise Dichter seinem Briefpartner erläuterte, warum er den zweiten Teil der nunmehr vollendeten Faust-Dichtung nicht mehr zu Lebzeiten publiziert sehen wollte – mit sehr pessimistischen Worten über den „absurden und konfusen“ Tag und die „verwirrende Lehre“, die zu verwirrendem Handel über die Welt walte.

Anstrengung wurde honoriert

Man wird dem Vortragenden seinerzeit die Aufregung beim Referat, dazu noch an einem sehr heißen Sommertag, wohl angesehen haben, aber Schöne war glücklicherweise zufrieden – obwohl wenigstens eine Anspielung in diesem Goethe-Text vom Referenten nicht erkannt worden war. In der Sprechstunde, unter vier Augen, konnte der Professor dann wiederum ausgesprochen freundlich, verständnisvoll, zugewandt, ja geradezu liebenswürdig sein; jede von ihm wahrgenommene wirkliche Anstrengung, jede inten­sive Bemühung um das Verständnis großer Dichtung wurde von Schöne ohne Einschränkung honoriert.

Das letzte Mal sah ich ihn vor knapp einem Vierteljahrhundert anlässlich eines Vortrages über Albrecht von Hallers Staatsromane, den ich auf Einladung von Rudolf Smend in einer Sitzung der Göttinger Akademie der Wissenschaften gehalten habe. Natürlich war es Albrecht Schöne, von dem anschließend die klügsten, ins Schwarze treffenden Fragen und Kommentare kamen. Zum Abschied konnte ich ihm damals, wenn auch verspätet, für alles, was ich von ihm zwei Jahrzehnte zuvor als Göttinger Student gelernt hatte, noch persönlich danken. Zu seinen runden Geburtstagen gratulierte ich ihm und erhielt stets einen kurzen freundlichen Dankbrief, geschrieben in gerader, noch im hohen Alter sehr gut lesbarer Handschrift auf kleinem Briefpapier. Zum einhundertsten Geburtstag sollte er als Geschenk eine ausführliche Mitschrift seiner letzten Barockvorlesung im Wintersemester 1988/89 erhalten – dazu wird es nun nicht mehr kommen.