Seit einigen Jahren scheint die Serie der antisemitischen Vorfälle in Deutschland nicht mehr abzureißen. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht über Drohungen und Gewalttaten gegenüber jüdischen Studenten an deutschen Universitäten berichtet wird, über Angriffe auf Passanten auf offener Straße, wenn sie nur eine Kippa tragen, über Anschläge auf Synagogen oder über in den Medien beschönigend als „propalästinensisch“ bezeichnete Demonstrationen, bei denen offen zur Vernichtung der Juden im Nahen Osten aufgerufen wird.
Nach Angaben des Bundeskriminalamtes ist die Zahl der antisemitischen Straftaten 2024 gegenüber dem Vorjahr um fast 21 Prozent gestiegen. Dabei hat die Zahl der Fälle, die nicht dem Rechts- oder Linksextremismus zuzuordnen sind, sondern einer, wie es in der Statistik des BKA heißt, „ausländischen Ideologie“, besonders stark zugenommen.
Antijüdische Klischees unter Muslimen stärker verbreitet
Auch in den Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach wird dieses Problem sichtbar: Im Frühjahr 2024 führte es im Auftrag des Instituts für Soziologie der Universität Düsseldorf eine umfangreiche Untersuchung in Nordrhein-Westfalen zum Thema Antisemitismus durch. Dort zeigte sich eindeutig, dass antijüdische Klischees und der Hass auf Israel im muslimischen Teil der Bevölkerung wesentlich stärker verbreitet waren als in der übrigen Bevölkerung.
Doch stimmt es, dass, wie oft angenommen wird, der Antisemitismus in der Gesellschaft insgesamt in den letzten Jahren stark zugenommen hat? Die Ergebnisse der aktuellen Bevölkerungsumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der F.A.Z., die vom 1. bis zum 12. Juni durchgeführt wurde, also noch vor den israelischen Angriff auf Iran, weisen nicht darauf hin. Nahezu seit seiner Gründung im Jahr 1947 hat sich das Institut für Demoskopie Allensbach auch der Aufgabe gewidmet, zu erforschen, wie es passieren konnte, dass Deutschland von einer freien Gesellschaft in eine blutige Diktatur abdriften konnte, welches Denken der Despotie Vorschub leistete und wie weit es auch noch nach dem Ende des Dritten Reiches in der Bevölkerung verbreitet war.
Die erste Umfrage zu diesem Thema stammt aus dem Jahr 1949. Diese und diverse Nachfolgeuntersuchungen zeigen, dass der Antisemitismus mit dem Ende des Dritten Reiches nicht verschwunden war, sondern dass Erziehung und Prägung weiter Teile der Bevölkerung im Dritten Reich noch jahrzehntelang nachwirkten. Erst ganz allmählich schleiften sich die Vorurteile gegenüber Juden ab und wuchs das Bewusstsein über das ganze Ausmaß an Verantwortung, das sich aus den Verbrechen des NS-Regimes ergab.
Das Institut für Demoskopie kann heute, wenn es das Thema Antisemitismus untersuchen will, auf eine Reihe von Trendfragen zurückgreifen, die schon vor Jahrzehnten gestellt wurden, und damit die langfristige Entwicklung dieses Themas nachverfolgen. Einige dieser Trendfragen wurden in die aktuelle Umfrage erneut aufgenommen. Sie zeigen deutlich, dass zumindest die traditionellen antisemitischen Klischees in der Bevölkerung heute nicht auf mehr Resonanz stoßen als in früheren Jahren. Ein Beispiel hierfür ist die Anfälligkeit für antisemitische Verschwörungsideologien. Der Meinung, wonach Juden auf der Welt zu viel Einfluss hätten, stimmten im Juni 2025 21 Prozent der Bevölkerung zu. 1992 waren es mit 33 Prozent noch wesentlich mehr.
Aufgeschlossener gegenüber Aufarbeitung von NS-Verbrechen
Auch die Vorstellung, dass Juden zu viel Macht in der Wirtschaft und im Finanzwesen hätten, ist nur bei einer recht kleinen Minderheit der Bevölkerung vorhanden: 15 Prozent der Befragten stimmten in der aktuellen Umfrage dieser These zu, die damit heute deutlich weniger weit verbreitet ist als in der Nachkriegszeit. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass sich die Bevölkerung mehr als früher gegen die Aufarbeitung der Verbrechen des NS-Regimes sperrt, im Gegenteil: Der Anteil derjenigen, die sagen, man sollte nun, nachdem so lange Zeit seit dem Kriegsende vergangen sei, nicht mehr so viel über die Nazivergangenheit sprechen und stattdessen „endlich einen Schlussstrich ziehen“, ist seit vier Jahrzehnten rückläufig: 1986 stimmten noch 66 Prozent der Befragten dieser Aussage zu, aktuell sind es noch 43 Prozent. Umgekehrt ist der Anteil derjenigen, die der These ausdrücklich widersprechen, von 24 auf 42 Prozent gestiegen.
Auf die Frage „Wird heutzutage in Zeitungen, im Radio und Fernsehen eigentlich zu viel oder zu wenig über die Judenverfolgung im Dritten Reich berichtet?“ antworteten in der aktuellen Umfrage 27 Prozent, es werde darüber zu viel, 10 Prozent meinten, es werde zu wenig darüber berichtet. Eine relative Mehrheit von 41 Prozent hält den Umfang der Berichterstattung über dieses Thema für gerade richtig. Diese Zahlen unterscheiden sich nicht wesentlich von denen, die bei anderen Umfragen in den letzten Jahrzehnten ermittelt wurden.
Die Anzahl der Bürger, die den Holocaust leugnen, ist nach wie vor sehr gering. Auf die Frage „Glauben Sie, das meiste, was über Konzentrationslager und Judenverfolgung berichtet wird, ist wahr, oder ist da vieles übertrieben dargestellt worden?“ antworteten in der aktuellen Umfrage 83 Prozent, das meiste an der Berichterstattung über dieses Thema sei wahr. Nur 4 Prozent widersprachen. Auch an diesen Zahlen hat sich in den letzten Jahrzehnten nichts Wesentliches geändert.
Wahrnehmung des Antisemitismus hat sich geändert
Von einem Anstieg des Antisemitismus in der breiten Bevölkerung kann also keine Rede sein. Was sich aber verändert hat, ist die Wahrnehmung von Antisemitismus. Auf die Frage „Wie ist Ihr Eindruck: Hat Antisemitismus, also Judenfeindlichkeit, in Deutschland in den letzten Jahren eher zugenommen oder eher abgenommen, oder hat sich da nicht viel verändert?“ antworteten im Juni 2025 56 Prozent der Befragten, ihrer Ansicht nach habe Antisemitismus eher zugenommen. 2019 hatten noch 36 Prozent diese Antwort gegeben.
Vermutlich sind diese Antworten teilweise eher eine Reaktion auf die gestiegene Anzahl antisemitischer Straftaten und die Berichterstattung darüber als das Resultat eigener Beobachtungen, denn tatsächlich hat ja, wie beschrieben, der Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung insgesamt nicht zugenommen.
Geradezu dramatisch verändert hat sich dagegen das Image des Staates Israel. Auf die noch vor dem Angriff auf Iran gestellte Frage „Haben Sie ganz allgemein ein gutes oder ein schlechtes Bild vom Staat Israel?“ antworteten 20 Prozent, sie hätten ein gutes oder sehr gutes Bild dieses Landes, 2022 waren es noch 54 Prozent. Gleichzeitig ist die Anzahl derjenigen, die ein eher schlechtes oder sogar sehr schlechtes Bild des Landes haben, von 23 auf 57 Prozent gestiegen.
Mehrheit verneint besondere Veranwortung für Israel
Diese Entwicklung ist auch deswegen bemerkenswert, weil sich ganz im Kontrast dazu die von der Tagespolitik unabhängige Grundhaltung der Deutschen gegenüber Israel nicht verändert hat. Eine Frage in der aktuellen Umfrage lautete: „Würden Sie sagen, Deutschland hat für das Schicksal Israels eine besondere Verantwortung, oder würden Sie das nicht sagen?“ 28 Prozent der Bürger sprachen Deutschland diese besondere Verantwortung zu, 52 Prozent widersprachen. Diese Zahlen gleichen fast auf das Prozent genau denen, die im August 2014 erhoben wurden.
Auch bei der Frage, von welchen Ländern die größte Bedrohung für den Frieden auf der Welt ausgehe, sind keine auffälligen Veränderungen im Zeitverlauf zu verzeichnen. Die Antworten auf diese Frage schwanken stark, je nach tagespolitischer Lage. Im Juni 2025 sagten 37 Prozent, von Israel gehe mit die größte Bedrohung aus. Das sind wesentlich mehr als im Januar 2021, als nur elf Prozent diese Angabe machten, doch immer noch weniger als im September 2014 nach der israelischen Militäroperation im Gazastreifen in den Monaten zuvor.
Damals hielten 42 Prozent Israel für eine der größten Gefahren für den Weltfrieden. Insgesamt bewegen sich die aktuellen Antworten in der Bandbreite des seit Jahrzehnten Bekannten. Von einer grundsätzlich wachsenden Israelfeindlichkeit ist nichts zu erkennen.
Israelkritik und Antisemitismus werden selten vermischt
Doch die aktuelle Politik der israelischen Regierung lehnen offensichtlich wachsende Teile der deutschen Bevölkerung ab. Dies zeigen die Antworten auf die Frage „Wie empfinden Sie das Vorgehen Israels gegen die Hamas im Gaza-Streifen: Finden Sie das Vorgehen Israels alles in allem angemessen oder nicht angemessen?“
Schon im Januar 2024, gerade drei Monate nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auf das Supernova-Festival und israelische Militärposten, Siedlungen und Städte in Grenznähe mit fast 1.200 Todesopfern, hielt eine relative Mehrheit von 43 Prozent der Deutschen die Reaktion Israels auf das Massaker für nicht angemessen, nur 27 Prozent bezeichneten sie als angemessen. Aktuell halten nur noch 13 Prozent das Vorgehen Israels für angemessen, 65 Prozent vertreten die gegenteilige Meinung.
Wie groß die Ablehnung weiter Teile der Bevölkerung gegenüber dem Vorgehen der israelischen Regierung im Gazastreifen ist, zeigen die Antworten auf die Frage „Neulich sagte uns jemand: ‚Was Israel gerade in Gaza macht, ist in meinen Augen Völkermord.‘ Würden Sie sagen, da ist etwas dran, oder würden Sie das nicht sagen?“ 73 Prozent meinten, ihrer Ansicht nach sei etwas an der Aussage dran, nur neun Prozent widersprachen ausdrücklich.
In der öffentlichen Diskussion gehen Israelkritik und Antisemitismus oft durcheinander. Nicht selten erlebt man es in intellektuellen Diskussionen, dass Judenhass hinter scheinbar sachlicher Kritik an der israelischen Regierung verborgen wird. Doch die Bevölkerung scheint beides tatsächlich recht sauber voneinander zu trennen. Israel hat heute ein wesentlich schlechteres Image als noch vor wenigen Jahren, doch die Grundhaltung gegenüber Juden hat sich nicht wesentlich verändert.