Wer in Poundbury wohnt, darf seinem Auto auf der Straße nicht die Reifen wechseln. Er darf auch seine Gartenmauer nicht höher ziehen als die Nachbarn. Wer in Poundbury wohnt und sein Haus in einer neuen Farbe streichen will, der muss vorher den König fragen. Oder genauer, den Prince of Wales. Denn der, Prinz William, hat die Siedlung mittlerweile formell von seinem Vater geerbt.
Aber Poundbury bleibt weiter ein Herzensanliegen von Charles III. Er hat vor dreißig Jahren den Anstoß gegeben zum Bau einer Stadt, die nicht neu wirken durfte, sondern altgewohnt von Anfang an, die Fußgängern mehr Raum zu bieten hatte als Autos und die statt aus Beton, Glas und Rechtecken lieber aus Ziegeln, Schindeln, Säulen und krummen Linien bestehen sollte.
Inzwischen leben 5000 Einwohner in Poundbury. Sie alle sind, mehr oder weniger bewusst, Bestandteil eines Experiments. Es muss die – jetzt dringende – Frage beantworten, ob das Leben in einer auf alt getrimmten, historische Fassaden, Gassen und Höfe imitierenden Gemeinde als angenehmer und praktischer empfunden wird als das Wohnen in neuen, zeitgenössischen Siedlungsformen.
Rückgriff auf die Nachkriegszeit
Denn die aktuelle britische Regierung hat die Bekämpfung der Wohnungsknappheit zu ihrer dringlichsten innenpolitischen Aufgabe gemacht und sich den Bau von eineinhalb Millionen Wohnungen in fünf Jahren vorgenommen – eine ehrgeizige Marke, die dem Ziel der vergangenen Bundesregierung gleichkommt (die es verfehlte).
Um diese Absichten in England zu erreichen, sollen nicht nur Baulücken geschlossen oder Industriebrachen besiedelt werden, sondern „Neue Städte“ entstehen. Der Begriff ist ein Rückgriff auf die unmittelbare Nachkriegszeit, in der vor achtzig Jahren eine gleichfalls von Labour geführte Regierung die Wohnungsnot mit groß geplanten Bauvorhaben linderte.
Viele dieser „New Towns“ wuchsen im Umkreis großer Zentren, die meisten trugen bald zu Recht das Attribut von Satellitenstädten. Anders als in kontinentaleuropäischen Ländern fielen sie zwar nicht durch architektonische Rekorde an Höhe und Dichte auf; Wohnsilos und Hochhäuser blieben selten, Doppel- und Reihenhäuser bestimmten auf den Reißbrettern der englischen Stadtplaner weiter das Bild.
Aber eine neue Aufteilung des städtischen Raums richtete sich auch auf den Britischen Inseln nach einer vom Auto bestimmten Mobilität – sie trennte großzügig Wohnviertel von Einkaufszentren und Gewerbegebieten. Stevenage, die erste Nachkriegs-Neubausiedlung nördlich von London, erschließt sich Besuchern nicht von einem Bahnhof, sondern von einer Autobahn-Abfahrt aus.
Die Stadt auf dem Hügel
Müssen nun wieder neue Visionen gesucht werden – oder bloß alte Maßstäbe angewandt? Von Ferne strahlt auch Poundbury eine missionarische Botschaft aus. Der Ort grenzt an die Kleinstadt Dorchester, für deren Gründung vor 2000 Jahren die Römer verantwortlich waren.
Wer von dort nach Poundbury will, muss aus einem Talgrund die Straße hinaufziehen und sieht dann die neue Stadt auf der Höhe vor sich liegen. Sie wirkt wie eine Verkörperung der „Stadt auf dem Hügel“, eine Auserwähltheitsmetapher, der vor vierhundert Jahren puritanische Siedler nach Amerika folgten, entlehnt aus der Schilderung der Bergpredigt nach Matthäus: „Eine Stadt, die auf dem Berge liegt, kann nicht verborgen bleiben.“ Das trifft auf Poundbury auf jeden Fall zu.

Dem „Design- und Gemeinschaftskodex“, jenem Gebotskatalog, der das Aussehen seiner Stadt bestimmt, hat Prinz Charles vor Jahren schon eine Einführung vorangestellt. „Ich war entschlossen, dass dies hier nicht nur irgendein weiterer seelenloser Siedlungskomplex mit angetackertem Gewerbepark werden sollte“, schrieb er, sondern „eine lebendige und nachhaltige Gemeinde“. Und mittlerweile, bemerkte er noch, „ist das ja auch offenkundig für alle zu sehen“.
„Wir dachten anfangs, das ist hier ein Rentnerparadies“, erzählt Prudence Wintrip, eine rüstige Siebzigjährige, die mit ihrem Mann schon so lange in Poundbury wohnt, dass sie im Ort schon einmal umgezogen ist, „so wie in Florida“. Dorset, die Grafschaft, der Dorchester den Namen gibt, liegt im beschaulichen und wohlhabenden englischen Süden, nicht allzu weit von der Kanalküste.
Mrs Wintrip hat mit ihrem Mann Bill jahrzehntelang in einer hergerichteten Scheune am Meer gewohnt, dann waren die Kinder aus dem Haus, und die beiden zogen in die Stadt auf dem Hügel. Hier sei alles so bequem zu erreichen: Apotheke, Doktor, sogar ein Krankenhaus gebe es in der Nähe. „Und man kann sich hier sicher fühlen“, sagt Prudence auch, obwohl es so viele Sozialwohnungen gebe.

Ein gutes Drittel der Häuser und Wohnungen in der Siedlung sind für sozial Schwache reserviert. Jason Bowerman, Poundburys Planungschef, beteuert, von Beginn an, vor dreißig Jahren, seien die Wohnungen für Sozialmieter in den allgemeinen Gebäude- und Ortsplan „integriert“ worden, man könne gar nicht erkennen, „wo die genau sind“.
Und nicht nur der Chefplaner, der von der Duchy of Lancaster bezahlt wird, der Vermögens- und Grundstücksverwaltung des Prince of Wales, sondern auch die Einwohner, mit denen man auf der Straße ins Gespräch kommt, erzählen gerne davon, dass es so einen hohen Anteil von Sozialwohnungen gebe im Ort. Vielleicht sind sie umso lieber stolz darauf, weil man sie tatsächlich nicht lokalisieren kann, weil alle Viertel in Poundbury gleichermaßen aufgeräumt, ordentlich, verspielt und gesittet wirken.
Verspielte Architektur
An vielen Straßenecken und Plätzen erweckt der Ort den Eindruck, er sei von einer Modelleisenbahnplatte gezogen und in den Maßstab eins zu eins vergrößert worden. Das gilt für den zentralen Platz, den Queen Mother Square, der von einem Bronzedenkmal der Königinmutter Elisabeth, Charles’ Großmutter also, bewacht wird und den im nördlichen Eck ein fünfgeschossiger Stadtturm dominiert, Neorenaissance, mit Kuppelhaube und Dachlaterne. Es gilt aber auch für die Häuserreihe, die rings um ein ovales Grün gesetzt ist und die einen würdigen, zweihundert Jahre alten Klassizismus ausstrahlen soll – georgianischer Stil.
Kaum ein (älteres) Kapitel aus dem Katalog der Architekturgeschichte, für das sich in Poundbury kein Beispiel fände, selbst gotische Spitzbögen tauchen in den Hausfassaden auf, viktorianische Lauben, barocke Simse und Geländer, klassizistische Säulenkapitelle. Es kann kein Zweifel daran bleiben, dass der Ideengeber hier sich selbst verwirklicht hat: So wie der Monarch sich gern kleidet, so lässt er auch bauen: verspielt und variantenreich, mit Nelke im Knopfloch, Einstecktuch und farbiger Krawatte.
Ein Gebäude hat Charles in Poundbury sogar eigenhändig entworfen – die Feuerwache. Sie liegt am westlichen Ortsausgang. Es ist ein neoklassizistischer Quaderbau mit Dreiecksgiebel und einer angefügten Garage, hinter deren hohen Rolltoren die Feuerwehrautos stehen. Dem Schlauchturm hat der königliche Architekt die Form eines römischen Campanile gegeben. Nach der Fertigstellung vor 15 Jahren erntete er böse Kritiken: Die Fachwelt schüttelte den Kopf, und die Zeitung „Daily Mail“, ein schadenfrohes, aber königstreues Blatt, ließ einen ungenannten Passanten mit der Vermutung zu Wort kommen, da habe sich der Kronprinz wohl seinen eigenen Buckingham-Palast hingesetzt.

Die Rentner Prudence und Bill waren in Poundbury zuerst in einer Art Villa zu Hause, jetzt wohnen sie in einem dörflichen Cottage in einer Seitenstraße, außen mit Bruchsteinen verkleidet, innen mit kühler Neubau-Atmosphäre. Ob sie solch ein bauhistorischer Widerspruch nicht stört? „Sie meinen, ob es mir was ausmacht, in einem Fake-Haus zu wohnen“, fragt der Hausherr grinsend zurück und beteuert rasch, das sei mitnichten der Fall, im Gegenteil. Sie hätten auch schon in echten Altbauten gewohnt; „glauben Sie mir, es ist wunderbar, wenn die Elektrokabel nicht brüchig sind und die Heizung zuverlässig läuft“. Aber Bill hat auch zu meckern. In dem Gärtchen hinterm Haus durfte er keinen Kunstrasen verlegen, das erlauben die Regularien nicht. Und die Garagentore seien viel zu schmal geraten. Sein Auto passe da jedenfalls nicht durch.
In der Tat, die Einfahrten sind eng. Es gibt erstaunlich viele Garagen in der Siedlung, meist sind sie um Innenhöfe gruppiert, mitunter liegt im ersten Stock eine Wohnung darüber – so wie es in vielen Londoner Stadtvierteln Brauch war, wo einst die Kutscher nach hinten hinaus über den Pferdeställen logierten. Dafür, dass Poundbury eine Stadt der kurzen Wege sein will, ist den Unterkünften der Autos sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. Charles und seinem Planungsteam war wohl vor allem wichtig, dass sie nicht vor den Häusern auf den Bürgersteigen parken.
„Man muss es sich leisten können, hier kein Auto zu haben“, stellt Kathy fest, eine junge Mutter, die mit ihren beiden Kindern und einer Freundin auf dem Rasen in der Grünanlage sitzt. Es gebe zwar eine Weinhandlung und einen Lebensmittelladen (eine Filiale der gehobenen Handelskette Waitrose, die Charles 2011 persönlich eingeweiht hat, eine Erinnerungsplakette am Eingang zeugt davon), aber einen richtigen Supermarkt oder Discounter gebe es nicht. Aldi oder Lidl sind zwar in Großbritannien verbreitet, aber in Poundbury hätten sie mindestens auf ihre groß dimensionierten Leuchtreklamen verzichten müssen – der Gestaltungskodex untersagt dergleichen ausdrücklich.

Kathy beschwert sich übrigens auch über die Holzfenster in ihrer Wohnung, deren Einbau gleichfalls von der Satzung vorgeschrieben ist. Die hätten nicht lang gehalten, vielleicht seien sie aus zu weichem Holz gezimmert, und es sei teuer, sie zu erneuern. Im „Poundbury-Magazin“, dem Monatsblättchen des Ortes, in dem Hersteller von Treppenliften, Reisebüros, Bestattungsunternehmer, Chiropraktiker, Gartendesigner und die Rotarier inserieren, hat auch ein Glaser eine Anzeige untergebracht mit dem Hinweis, er sei auf den Austausch von Holzfenstern spezialisiert.
Viele Geschäftsleute, die mit Annoncen auf sich aufmerksam machen, Anwälte, Makler, Innenausstatter, ein Nähstudio, haben ihr Büro oder ihre Werkstatt im Ort. Es ist ein Indiz dafür, dass die Siedlung auf dem Hügel nicht nur Wohnungen, sondern durchaus auch Arbeitsplätze beherbergt. Das soziale Leben spiegeln die Seiten der Anzeigenzeitung nicht einmal vollständig wider. Es gibt mehrere Fußballclubs, Spielplätze, eine Kricket-Wiese und eine Schule. Auf die Schule sind in Poundbury alle stolz, schließlich kann sie als Beweis gelten, dass das Image des Rentner-Reservats mit der Wirklichkeit nichts mehr gemein hat. Oder jedenfalls nicht mehr allzu viel.
Ruth und William sind nach ihrer Pensionierung aus London hergekommen. Auch sie loben die Ausstattung ihres neuen Häuschens, die Wärmeisolierung, und die gepflegten Grünanlagen. Aber es stimme einfach nicht, dass Poundbury bloß ein Ort für wohlhabende Snobs sei, sagt William, nebenan sei gerade erst ein junges Paar eingezogen, „first-time-buyers“. So heißen im britischen Immobilien-Sprachgebrauch jene, die sich in jungen Jahren auf die unterste Sprosse der Eigentumsleiter schwingen können. Doch dass die vielen Vorschriften und Verbote, die das Siedlungsleben regulieren, auch verhindern, dass Kinder an der Hauswand nebenan mit dem Ball kicken dürfen – sei das nicht doch abschreckend? „Auf keinen Fall“, sagt Ruth, „die können doch unten auf den Sportplatz gehen.“
Letzte Straßenzüge werden vollendet
Unterdessen wachsen die Hauswände im letzten Bauabschnitt auf dem Stadthügel. Beim Gang durch die Rohbauten lässt sich ablesen, dass die mittelalterliche Stadtromantik, die bei der Gründung Poundburys Pate stand, mittlerweile von den kommerziellen Interessen und Zwängen der großen Planungs- und Baufirmen ziemlich abgehobelt wurde, die dort jetzt die letzten Straßenzüge vollenden.
Die Preise im Hochglanzprospekt schwanken, in Euro gerechnet, um die Ein-Millionen-Marke, dafür bekommt man ein freistehendes Backsteinhaus (viktorianisch) 170 Quadratmeter, vier Schlafzimmer, eine Doppelgarage und (in der Kaufbroschüre) den Hinweis, dass man „in bloßen vier Minuten mit dem Auto im lebendigen Stadtzentrum von Dorchester“ sei, wo sich einige der besterhaltenen römischen Ruinen Englands besichtigen ließen.
Der König baut unterdessen schon anderswo. Nansledan heißt sein zweites Großvorhaben, gelegen in Cornwall bei Newquay. Neulich hat er den Premierminister und die Bauministerin zu einem Besuch dort überredet.
Einen ganzen Tag lang stapfte Charles mit den beiden durch seine zweite neue Altstadt – und balancierte dabei auf der fein gezogenen Linie seiner verfassungsmäßigen Rechte, nach denen der Monarch Politiker nicht lenken, sie aber „ermutigen“ darf. Premierminister Keir Starmer bedankte sich mit dem Lob, er sei von der Qualität der Neubauten beeindruckt gewesen, und beteuerte, er habe sich das unbedingt auch aus eigenem Antrieb ansehen wollen.
In wenigen Wochen will Bauministerin Angela Rayner bekannt geben, wo die ersten „Neuen Städte“ entstehen sollen. Es wird Ausschreibungen geben und Wettbewerbe, und es wird Jahre dauern, bis man sehen kann, ob ihre Konturen in irgendeiner Weise denen von Poundbury ähneln.
Unter den Eigentümern privater Ländereien hat König Charles hingegen jetzt schon Nachahmer gefunden. In Hampshire nahe Portsmouth errichtet der Gutsbesitzer Mark Thistlethwayte gerade auf eigenem Grund und Boden die Siedlung Welborne, 6000 Häuser und Wohnungen in architektonischer Anlehnung an das 18. Jahrhundert, mit Walmdächern und Schiebefenstern. Die Gegner, die sich weniger gegen die historische Anmutung als generell gegen den Zuzug Tausender neuer Nachbarn wehren, haben das Vorhaben in „Hellborne“ – in der Hölle geboren – umgetauft.