In Gießen überlegen Abiturienten, unter welchem Motto sie sich von der Schule verabschieden können. „Abi macht frei“ oder „NSDABI – Verbrennt den Duden“ ist unter den Vorschlägen. In Auschwitz fotografieren Schüler aus Görlitz sich in rechtsextremer Pose vor dem Vernichtungslager. In Oelsnitz, einer Kleinstadt in Sachsen, lässt sich eine Lehrerin nach einer mutmaßlich rechtsextremen Bedrohung versetzen.
Allein in den vergangenen drei Monaten wurde über einige solche Fälle berichtet, mit der immer gleichen Botschaft: Schulen haben offenbar ein Problem mit Rechtsextremismus. Nur wie verbreitet dieses Problem ist, bleibt bislang schwer zu beziffern. Denn wenn mutmaßlich rechtsextreme Vorfälle an Schulen gemeldet werden, heißt das noch lange nicht, dass sie auch statistisch erfasst werden. Erst recht nicht einheitlich in allen Bundesländern.
Die F.A.S. hat deshalb bei mehr als 150 Schulämtern in ganz Deutschland nachgefragt. Erstens, wie viele rechtsextreme Fälle es in ihrem Zuständigkeitsbereich in den vergangenen Jahren gab, und zweitens, um was für Fälle es sich dabei handelte – ob um Hakenkreuz-Schmierereien, Hitlergrüße oder gar um körperliche Angriffe.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Rund 50 Ämter haben der F.A.S. geantwortet. Zehn schrieben, Vorfälle wie diese gebe es bei ihnen nicht. Alle anderen gaben an, darüber keine Statistik zu führen und verwiesen auf übergeordnete Ebenen wie das Kultusministerium. Doch auch mehrere Kultusministerien erklärten, ihnen lägen keine Zahlen vor. Sie verwiesen auf die Innenministerien, von denen wiederum Bayern und Berlin das jeweilige Landeskriminalamt als zuständigen Kontakt nannten.
Der F.A.S. liegen Zahlen aus fast allen Ländern vor
In Hessen sind für 2022 zwei Vorfälle erfasst. Ein Jahr später waren es 37, im vergangenen Jahr dann das Vierfache: 172. Darunter waren vor allem Hakenkreuz-Schmierereien, das Zeigen des Hitlergrußes, das Singen rechtsextremer Lieder und Posts mit rechtsextremen Inhalten in den sozialen Medien. Eine Sprecherin des Kultusministeriums schreibt: „Die gesellschaftliche Polarisierung 2024 wirkte sich auch auf die Schulen aus.“
Zehn Vorfälle an jedem Schultag
Diese Zahlen sind nicht direkt miteinander vergleichbar – auch weil die Länder teils verschiedene Regeln für sogenannte Meldepflichten haben. Während manche Fälle erst statistisch erfasst werden, wenn es zur Anzeige kommt, reicht es in anderen Ländern für eine Registrierung schon aus, dass offizielle Maßnahmen von der Schule ergriffen wurden – etwa Unterrichtsausschlüsse oder Schulverweise. Manche Ämter erfassen zudem „rechtsextremistische Vorfälle“, andere schreiben von Vorfällen mit „vermutetem extremistischem Hintergrund“ oder von „politisch motivierten Straftaten im Phänomenbereich rechts mit Tatörtlichkeit Schule“ – die nicht zwangsläufig rechtsextrem sind, es aber sein können. Diese Einordnung erfolgt aber immer erst nach weiteren Ermittlungen, also nicht, wenn die Anzeige erstattet wird.
Hinzu kommt: Die Bundesländer sind unterschiedlich groß, manche haben mehr Schulen und dementsprechend auch mehr Schüler als andere. Trotzdem lässt sich ein Trend erkennen. Denn die Zahlen steigen in fast allen Ländern oder stagnieren auf hohem Niveau, wie etwa in Sachsen. Insgesamt gab es in Deutschland im vergangenen Jahr durchschnittlich mindestens zehn rechtsmotivierte Vorfälle an jedem einzelnen Schultag. Die allermeisten waren Propagandadelikte.
Die steigenden Zahlen sind die eine Seite. Lillian Mettler aber sagt, es gebe noch weitere Veränderungen. Mettler arbeitet in der mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Düsseldorf. Sie fährt in Nachbarschaften, Vereine oder Schulen, die ihre Hilfe anfordern, und berät die Menschen. Die Fallzahlen in ihrem Team hätten sich in den vergangenen zwei Jahren verdoppelt, sagt Mettler. Ein Grund sei die erhöhte Sensibilität für das Thema. Aber eben nicht nur. Mettler sagt, die „Qualität“ habe sich verändert. Es gebe ein neues Selbstbewusstsein bei rechtsextremen Jugendlichen. „Einige von ihnen treten in der Schule aggressiv mit ihrer Ideologie auf. Das ist eine ganz andere Dimension als noch vor zwei Jahren.“
Militäruniformen, Glatze, Springerstiefel
Jugendliche kommen teils in Militäruniformen in die Schule. Mit Glatze oder dem sogenannten deutschen Scheitel. Manche tragen Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln. Ihr Aussehen erinnert an die Rechtsextremen der Neunzigerjahre. Dabei hat Mettler in ihrer Beratung lange Zeit zu erklären versucht, dass Rechtsextreme nicht unbedingt direkt zu erkennen sind. Dass sie wie andere auch Adidas- oder New Balance-Sneaker tragen. Mettler sagt, das gebe es noch immer. „Aber was es auch gibt, sind Jugendliche, die rechtsextrem sind – und die aussehen wie der klassische Nazi.“ Nicht nur die Parolen der Neunziger sind zurück, sondern auch die Ästhetik dieser „Baseballschlägerjahre“.
Mettler erzählt von Schülern, die sich ganz selbstverständlich mit Hitlergruß begrüßen. Das sei an einigen Schulen „schon fast an der Tagesordnung“, ebenso wie Hakenkreuz-Schmierereien. Immer wieder gebe es Memes in den Chatgruppen der Klassen, in denen der Nationalsozialismus verherrlicht werde. Auch bei jüngeren Kindern kommt es mittlerweile, wenn auch deutlich seltener, zu rechten Parolen, warnen Experten. Selbst Kitas hätten sich bereits bei der Beratung gemeldet, sagt Lillian Mettler. Sie berichtet von einem Kind, das ein anderes vom Spielen ausschließen wollte, weil es schwarz ist.
Auch die Anfragen von Grundschulen nehmen zu, wie in dem Fall einer Grundschullehrerin aus Sachsen-Anhalt. Einer ihrer Schüler malte Hakenkreuze in sein Deutschheft und das Heft eines Mitschülers. Er ist in der dritten Klasse, neun Jahre alt. Die Lehrerin unterrichtet seit 13 Jahren an der Schule und möchte anonym bleiben. „Alle Kinder wussten, was das Hakenkreuz ist. Alle Kinder wussten auch, dass es verboten ist“, sagt sie. Der Schüler selbst habe angegeben, das nationalsozialistische Symbol bei seinen Eltern gesehen zu haben. Offenbar kein Einzelfall. Die Lehrerin berichtet von weiteren Schülern der dritten und vierten Klasse, die mit der Sprache von Rechtsextremen und ihren Codes vertraut seien. Die wüssten, was „HH“ oder die Zahl 88 bedeuten. Schon Drittklässler zeigten auf dem Schulhof den Hitlergruß, sagt die Lehrerin. „In der Grundschule sind Hakenkreuze und Hitlergrüße als latente Symbolik präsent.“
Schüler sind eine leichte Beute
Doch steckt dahinter bereits ein extremes Gedankengut? Kinder, sagt Lillian Mettler von der mobilen Beratung, übernähmen erst einmal das, was ihre Eltern ihnen vorlebten. Und viele Eltern versteckten ihre Gesinnung mittlerweile nicht mehr. Wenn sie auf Vorfälle in der Schule angesprochen würden, erzählten sie dasselbe wie ihre Kinder. Dann heiße es gleich wieder, linke Lehrer wollten nur indoktrinieren.
Mettler beobachtet seit ungefähr zwei Jahren, dass sich mehr Jugendliche militanten rechtsextremen Gruppen wie „Deutsche Jugend voran“ oder „Deutscher Störtrupp“ anschließen. Dabei sind diese Gruppen nicht nur auf Tiktok unterwegs, sondern auch im analogen Leben, wie ausgewählte Fälle zeigen: In Sachsen-Anhalt sollen die „Nationalrevolutionäre Jugend“ und die Partei „Der III. Weg“ Flugblätter an Schulen verteilt haben.
Die AfD soll während der Europawahl im Landkreis Stendal einen Infostand direkt gegenüber einer Schule platziert haben. In mehreren Bundesländern sind im Mai Flugblätter der „Identitären Bewegung“ aufgetaucht. Im baden-württembergischen Sinsheim berichtet ein Schulleiter von einem AfD-Politiker, der Jugendliche gezielt auf dem Schulweg anspreche, um sie vor der „Indoktrinierung“ ihrer Lehrer zu warnen. Solche Gruppen wollen schon die Jüngsten aufhetzen, in der digitalen wie in der analogen Welt. Schüler sind für sie eine leichte Beute.