Wenn der Amerikaner Chris Blackerby Besucher in der Zentrale der Astroscale Holdings in Tokio empfängt, führt er sie durch einen Gang, der aussieht wie die Filmkulisse eines Raumschiffs. Dahinter liegt ein Raum, der von einer durchsichtigen aufgeblasenen Kugel dominiert wird, in der viele kleine weiße und ein rotes Styroporbällchen herumschwirren. Die Besucher sollen ihren Arm in die Kugel stecken und versuchen, das rote Bällchen zu schnappen. „Gar nicht so einfach, was?“, sagt Blackerby.
Astroscale hat sich vorgenommen, den Weltraum aufzuräumen. Mehr als 60 Jahre nach dem Aufbruch der Menschheit ins All fliegen dort große Mengen an Schrott und abgeschalteten Satelliten herum. Sie gefährden neuere Satelliten und Raumfahrzeuge. Astroscale will die Trümmerteile mit kleinen Flugkörpern einsammeln und dann in der Erdatmosphäre verglühen lassen. Der Schrott sei schon mal so groß und schwer wie ein Stadtbus und bewege sich mit einer Geschwindigkeit von acht Kilometern in der Sekunde, erklärt Blackerby. Es sei also ungefähr so schwierig, wie die rote Styroporkugel mit der Hand aufzufangen.
Das junge japanische Unternehmen ist eines von unzähligen Start-ups auf der Welt, die im Weltraum Geschäftschancen wittern. Die Branche der „New-Space-Unternehmen“ wächst rasant, in Europa, in Asien und in den Vereinigten Staaten. Global wurden im vergangenen Jahr 6,9 Milliarden Euro in die jungen Weltraumunternehmen investiert, sechs Prozent mehr als 2023. Das rechnet das Europäische Institut für Weltraumpolitik (ESPI) in Wien in einer Marktstudie vor. Europa und vor allem China holen zu den traditionell führenden Vereinigten Staaten auf: Der amerikanische Anteil betrug zuletzt mit 2,9 Milliarden Euro weniger als die Hälfte. Europa mit 1,5 Milliarden Euro und China mit 1,9 Milliarden Euro setzten dagegen neue Rekorde.
In der öffentlichen Wahrnehmung ist die private Raumfahrtindustrie durch zwei Multimilliardäre bestimmt: Tesla-Chef Elon Musk und Amazon-Gründer Jeff Bezos. Musk dominiert den Sektor und ist in mancher Hinsicht unverzichtbar. Sein SpaceX-Konzern ist das einzige Unternehmen, das derzeit zuverlässig für die Raumfahrtbehörde der Vereinigten Staaten, NASA, Astronauten ins All bringen kann. Auch mit seinem Satelliteninternet Starlink ist SpaceX der Konkurrenz weit voraus. Bezos’ Blue Origin ist trotz Rückstand ein gleichsam wichtiger Partner der NASA.
Rückschläge gehören seit je dazu
Doch hinter den großen Vorbildern sehen Beobachter viel Raum für die neuen Start-ups. „Es gibt heute wahrscheinlich mehrere hundert Unternehmen, die die Chance haben, erfolgreich und profitabel zu werden“, beschreibt Laura Forczyk, die Gründerin der Beratungsgesellschaft Astralytical, die lebhafte Szene in den Vereinigten Staaten. Manche der Start-ups konkurrieren schon erfolgreich mit SpaceX und Blue Origin, andere bewegen sich auf anderen Gebieten. Gerade erst feierte das Unternehmen Voyager Technologies , das im Verbund mit Airbus einen Nachfolger für die internationale Raumstation ISS entwickelt, einen fulminanten Börsengang.
In Europa ist Daniel Metzler ein Gesicht der „New Space“-Szene, in der Gründergeist, Abenteuerlust und große Visionen stärker hervorscheinen als bei Jungunternehmern anderer Branchen. Der gebürtige Österreicher Metzler ist Geschäftsführer von Isar Aerospace , das er 2018 mit Kommilitonen von der TU München gründete. Isar Aerospace entwickelt eine neue Trägerrakete und will diese als erstes Unternehmen vom europäischen Festland in den Orbit schießen.
Zu erobern gibt es im All viel: Das ESPI erwartet, dass das Marktvolumen des globalen Raumfahrtgeschäfts sich bis zum Jahr 2040 auf eine Billion Dollar verdoppelt. Ein wichtiger Treiber sind weltraumgestützte Anwendungen für Sicherheit und Militär. Im vergangenen Jahr standen sie nach der ESPI-Analyse für 40 Prozent aller Investitionen in europäische „New Space“-Unternehmen. Größte Transaktion war demnach die 220 Millionen Euro schwere Übernahme von Preligens , das KI-Algorithmen zur Analyse von Satellitenbildern vor allem für militärische Zwecke entwickelt, durch Frankreichs teilstaatlichen Safran -Konzern. Die wachsende Bedeutung von Sicherheit und Militär erklärt, warum die öffentliche Hand in Europa zuletzt ein wichtigerer Geldgeber für die „New Space“-Branche war als private Investoren.
Dazu passt, dass der NATO-Innovationsfonds im Juni 2024 als Kapitalgeber bei Isar Aerospace einstieg. Im März dieses Jahres hob dann die Rakete der Münchner erstmals in Andøya in Norwegen ab, ehe sie nach 30 Sekunden ins Meer stürzte. Metzler sprach dennoch von einem „großen Erfolg“. Rückschläge gehören auf dem technisch anspruchsvollen Weg ins All seit je dazu, beim Apollo-Programm der Amerikaner auf dem Weg zum Mond in den 1960-er Jahren wie bei SpaceX heute. Schon wenn bei Testläufen nichts schiefgeht, haben die Ingenieure ein Funkeln in den Augen. Es wäre eine Sensation gewesen, hätte Isar Aerospace auf Anhieb den Orbit erreicht.
Die Liste ist schier endlos
Rocket Factory Augsburg (RFA) kam nicht einmal in die Nähe eines 30-Sekunden-Flugs. Ihre Rakete explodierte im August 2024 in Schottland noch vor dem Abheben. Hyimpulse aus Neuenstadt bei Heilbronn wiederum blickt auf einen geglückten ersten Testflug im Mai 2024 zurück. In den Weltraum, der per Definition in 100 Kilometern Entfernung von der Erde beginnt, drang ihre Rakete nach dem Start in Australien nicht. Das war auch nicht geplant. Das Innovative bei Hyimpulse ist der Antrieb, für den neben flüssigem Sauerstoff auch festes Paraffin – Kerzenwachs – genutzt wird. Das nimmt einige Explosionsrisiken, die bei Einsatz von zwei flüssigen Treibstoffen bestehen.
Die Ansätze der deutschen Raketengründer unterscheiden sich. RFA etwa entwickelt wenig selbst und kauft viel von Zulieferern ein. Die drei Newcomer eint die Abgrenzung von den etablierten Konzernen Arianegroup und Avio , die bislang als einzige europäische Hersteller Raketen von Französisch-Guayana aus ins All schickten. Aus Sicht der Start-ups sind die Konzerne viel zu träge und teuer, weil sie von industriepolitischen Interessen dominiert sind. Was die jungen Wilden noch eint: der Wille, Flüge ins All günstiger zu machen. Gern ist von einer „Demokratisierung der Raumfahrt“ die Rede. Zunächst geht es darum, mit kleinen Raketen Satelliten und Fracht für Raumstationen zu transportieren. Eines Tages könnten daraus große Raketen erwachsen und gar Touristen befördert werden.
Rund ein Dutzend vielversprechender Start-ups für Trägerraketen zählen Fachleute derzeit in Europa. Auf der Luft- und Raumfahrtmesse in Le Bourget präsentierten sich einige von ihnen gerade mit wachsendem Selbstbewusstsein. Neben den drei deutschen Akteuren gelten als führend Orbex aus Großbritannien, PLD Space aus Spanien sowie Latitude und Maiaspace aus Frankreich. Letzteres profitiert als Tochtergesellschaft von Arianegroup stark von französischem Staatsgeld. Die Raketen sind nur ein „New Space“-Segment unter vielen. Auch Iceye wird großes Innovationspotential attestiert. Das Start-up aus Finnland gilt als führender Anbieter der satellitengestützten Erdbeobachtung. Das hat das Interesse von Rheinmetall geweckt, mit dem ein Gemeinschaftsunternehmen geplant ist.
Look Up , das von ehemaligen französischen Militär- und Raumfahrtbeamten gegründet wurde, entwickelt ein globales Netzwerk von Radarsystemen zur Überwachung von Objekten im All. OQ Technology aus Luxemburg fasst als Satellitenkommunikationsbetreiber Fuß, Pulsar Fusion aus Großbritannien bastelt an einer nuklearen Fusionsrakete. Die Liste der Start-ups im New Space ist schier endlos: Endurosat aus Bulgarien, D-Orbit aus Italien, Unseenlabs und Exotrail aus Frankreich, Sinergise aus Slowenien, Nanoavionics aus Litauen, Aerospacelab aus Belgien, Ororatech und The Exploration Company aus Deutschland, All.Space und Open Cosmos aus Großbritannien oder Blackshark.AI aus Österreich – das All zieht Gründer aus ganz Europa in seinen Bann.
Musks „zwielichtige Geschäftspraktiken“
In den USA reifen derweil Pläne für kommerzielle Raumstationen als Ersatz für die ISS, auf denen die Staaten nur noch Kunden oder Mieter wären. Neben Voyager Technologies sind in diesem Feld Vast Space und Axiom Space aktiv. Viel Interesse unter den Start-ups finden Raumsonden zur Erforschung des Mondes. Firefly Aerospace gelang im März als erstem privatem Unternehmen eine erfolgreiche Mondlandung. Intuitive Machines meldet Teilerfolge: Zwei Mal brachte es Sonden zum Mond, die dort umkippten. Ähnlich erging es Ispace aus Japan.
SpaceX gilt in der Branche als Wegbereiter, seine Rolle ist aber umstritten. „Gäbe es SpaceX nicht, würden wir nicht existieren“, sagt Max Haot, der Vorstandschef von Vast Space, das mit Musks Konzern zusammenarbeitet. Vast Space ist wie SpaceX und Blue Origin das Projekt eines Milliardärs. Der Gründer und alleinige Finanzier Jed McCaleb hat sein Vermögen vor allem in der Kryptoindustrie gemacht. Vast Space bemüht sich nach eigenen Angaben um weitere Investoren. Der Erfolg von SpaceX öffne bei der Suche viele Türen, sagt Haot. Im Mai 2026 will Vast Space seine erste Version einer Raumstation ins All bringen. Einige Wochen später sollen Astronauten mit einem SpaceX-Raumschiff dahin fliegen.
Andere Start-ups werfen Musks Konzern ruppige Methoden vor, um Wettbewerber klein zu halten. Peter Beck, der Vorstandschef von Rocket Lab , nannte SpaceX in der Zeitung „New York Times“ einen „Monopolisten“ mit „zwielichtigen Geschäftspraktiken“. Rocket Lab war bisher darauf spezialisiert, mit kleineren Raketen Satelliten in den erdnahen Orbit zu transportieren. Das Unternehmen entwickelt aber auch eine größere Rakete, die zum direkten Wettbewerber für die Falcon 9-Rakete von SpaceX werden könnte.
Forczyk von Astralytical sieht die amerikanische Start-up-Szene im Vergleich zum Rest der Welt deutlich im Vorsprung. In den Vereinigten Staaten gebe es mehr staatliches Geld. Unter Präsident Donald Trump seien neue Projekte wie das Raketenabwehrsystem „Golden Dome“ angestoßen worden, von dem die Branche profitieren könnte. Andererseits hat Trump eine Budgetkürzung von fast 25 Prozent für die NASA vorgeschlagen.
Im fernen Tokio hat das auf die Arbeit von Chris Blackerby keine Auswirkungen mehr. 2014 arbeitete er dort noch als Asien-Attaché der NASA in der US-Botschaft. Die Pläne von Astroscal zur Räumung von Weltraumschrott hatte er zunächst für eine nette, aber kaum umsetzbare Idee gehalten. Jetzt ist er begeistert. „Es gibt Tech-Unternehmen, die viel mehr für kluge Ingenieure bezahlen können. Aber wir können mit einer aufregenden Mission punkten“, sagt Blackerby. Damit Astroscale als Müllabfuhr im Weltraum Geld verdienen kann, müssen sich freilich erst noch Auftraggeber auf der Erde finden.
Dem schnellen Wachstum tut das keinen Abbruch. Der Amerikaner, der im Astroscale-Vorstand die Strategie verantwortet, traf 2017 auf 25 Mitarbeiter. Heute sind es 650. Im vergangenen Jahr ging Astroscale in Tokio an die Börse und verzeichnete kurz danach ein Kursplus von 65 Prozent. Verschobene Fristen und schlechtere Prognosen verschreckten danach viele Aktionäre, sodass der Kurs wieder unter der Erstnotierung liegt. Doch einen Überzeugungstäter wirft das nicht aus der Bahn. „Der Weltraum ist ein langatmiges Spiel“, sagt Blackerby. „Wer in uns investiert, muss Geduld mitbringen.“