Ein symbolischer Tag, mehr ist es nicht, aber er könnte ein denkwürdiges Bild von unserem Planeten liefern: der erste Tag in der jüngeren Zivilisationsgeschichte, an dem das Eis des riesigen Nordpolarmeers weggeschmolzen ist. Die Klimakrise und ihre drastischen Folgen in einer Momentaufnahme, aufgezeichnet per Satellit. Noch ist es nicht so weit. Die Arktis erwärmt sich zwar schon lange zwei- bis dreimal so schnell wie der Rest des Planeten, aber die Eismassen, die Zehntausende Jahre die Nordhälfte des Planeten mehr oder weniger bildfüllend bedeckt haben, lösen sich nicht von heute auf morgen in Luft auf – sollte man meinen. Und doch könnte es ganz schnell so kommen. Zwei Wissenschaftlerinnen, eine Schwedin und eine US-Amerikanerin, haben sich mit mehreren Hundert Klimasimulationen dem Tag X angenähert: wann genau also zum ersten Mal der Arktische Ozean tatsächlich vom dicken Packeis befreit sein könnte. Ihr Fazit: Theoretisch könnte es schon im August 2026 passieren, aber genauso gut ist möglich, dass es noch mehr als dreißig Jahre dauert bis zum ersten eisfreien Meereistag im hohen Norden.
Bisher war der erste eisfreie Tag kein Thema, weder für die ans Polarmeer angrenzenden Länder noch für Klimatologen. Viel interessanter waren längere eisfreie Perioden. Wann, fragten sich alle, werden die Nordwest- und die Nordostpassage – zwei wichtige Handelsrouten – im Sommer oder möglicherweise sogar ganzjährig befahrbar. Dazu muss das gefährliche Packeis möglichst über Wochen oder Monate verschwunden sein. In den Klimasimulationen spielten deshalb Meereis-Projektionen eine wichtige Rolle, in denen der Monatsdurchschnitt der Packeisbildung und -schmelze je nach Erwärmungsszenario ermittelt wurden. Ab der dritten und vierten Dekade oder spätestens zur Jahrhundertmitte sollte es diesen Berechnungen zufolge so weit sein. Zumindest in den späten Sommermonaten sollten dann die nördlichen Schifffahrtsrouten ohne größeres Vereisungsrisiko befahrbar sein.
Sommer 2023 als Vergleichswert
Vor etwas mehr als einem Jahr, im Rekordsommer 2023, hatte die Eisschmelze sommers zu einer Eisfläche von wenigen Millionen Quadratkilometern in der Arktis geführt. 3,39 Millionen Quadratkilometer waren es im September 2023, das hatten die Auswertungen der beiden Klimatologinnen ergeben. Kein Minusrekord, aber einer der niedrigsten Werte in einer Reihe von vielen Minusrekorden in der jüngsten Zeit. Große Teile der im Winter jeweils zunehmenden, aber sukzessive dünner und weniger werdenden schwimmenden Eisberge verschwinden allerdings in einigen polaren Regionen fast ganz im Laufe eines Sommers. Wenn die Eisdecke nicht mehr geschlossen ist und nur noch Reste auf Satellitenbildern zu sehen sind, sprechen die Forscher bereits von eisfreien Regionen. Das Meer wechselt auf Satellitenbildern in seiner Farbe gewissermaßen von Weiß zu Blau. Deshalb gilt die Arktis in der Definition beispielsweise der zwei Forscherinnen aus Schweden und den USA bereits als eisfrei, wenn die gesamte Eisfläche in den Nordpolarmeeren eine Million Quadratkilometer unterschreitet – im Vergleich zu 2023 also noch mal um mehr als zwei Drittel schrumpft.
Die Frage, die sich die beiden Forscherinnen nun für ihre in „Nature Communications“ veröffentlichte Modellierstudie gestellt haben, bezog sich auf dieses Meereis-Minimum: Wann unterschreitet bei unterschiedlichen Emissions-, sprich Erwärmungsszenarien die Meereisausdehnung dieses Limit. Die Unwägbarkeiten sind logischerweise stark abhängig nicht nur von der Geschwindigkeit, mit der sich der Planet von Jahr zu Jahr weiter erwärmt (und damit auch von den künftigen Emissionen an Treibhausgasen), sondern auch von vielen physikalischen Faktoren: von atmosphärischen Störungen, Sommerstürmen etwa, strengen Wintern mit viel Eiszuwachs oder von wochenlangen und aufeinanderfolgenden Hitzewellen, die unterschiedliche Ursachen haben können. Im Extremfall können solche „RILE“-Bedingungen („Rapid Ice Loss Events“) die ultimativen Trigger für einen plötzlichen Verlust an Meereis sein. Ausgeschlossen sind sie nicht, auch wenn die Wahrscheinlichkeiten dafür nicht exorbitant sind.
In neun der insgesamt 366 Simulationen, in denen das arktische Meereis innerhalb von drei bis sechs Jahren nach dem 2023-Minimum quasi weggeschmolzen und das Polarmeer also eisfrei geworden ist, wurde die Schmelze durch solche RILE-Events stark beschleunigt. Das Meer blieb dann nicht etwa nur für einen Tag eisfrei, sondern je nach Intensität der Sommerschmelze für 12 bis 53 Tage.
Wie wahrscheinlich solche Bedingungen in den nächsten Jahren sind, lässt sich den Forscherinnen zufolge letztlich nicht exakt beziffern. Klar herausgekommen war, dass die extremen Entwicklungen schon bei einer globalen Erwärmung von 1,5 Grad über dem vorindustriellen Wert theoretisch möglich sind. Drei oder vier Grad globaler Erwärmung sind offensichtlich gar nicht nötig. Die Wissenschaftlerinnen drehten diese Erkenntnis allerdings in ihrer Publikation ins Positive: „Das bedeutet auch, wenn wir die Temperaturerhöhung unter dem im Paris-Vertrag vereinbarten Zielwert von maximal 1,5 Grad halten, können wir den eisfreien Tag noch vermeiden.“