Europa muss sich selbst verteidigen können

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Es ist alles angerichtet für Donald Trump. Wenn der amerikanische Präsident an diesem Dienstagabend in Den Haag eintrifft, wird er im Königsschloss tafeln. Am Mittwoch findet dann der NATO-Gipfel im Schnelldurchlauf statt: eine Arbeitssitzung, zweieinhalb Stunden, das war’s.

„Sweet and short“, so hat Washington sich das gewünscht, obwohl die Niederländer ursprünglich zwei volle Gip­feltage ausrichten wollten. Nun aber soll alles auf eine einzige Botschaft fokussiert werden: Die Verteidigungsausgaben werden auf fünf Prozent hochgeschraubt, Europa zieht endlich mit Amerika gleich.

Der Wunsch des amerikanischen Präsidenten war der Allianz Befehl – auch wenn einige murrten und knurrten, zuletzt vor allem noch Pedro Sánchez aus Spanien. Denn die Angst vor Trump ist inzwischen so groß wie die vor dem russischen Präsidenten.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Man kann das an zwei Entwicklungen ablesen. Zum einen haben alle acht Mitgliedstaaten, die bei den Ausgaben hinterherhinken, zugesagt, noch in diesem Jahr das alte Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen, darunter Spanien, Italien und Kanada.

Noch im vorigen Jahr hatten diese Staaten bei der Allianz Fahrpläne eingereicht, die bis ins Jahr 2030 gingen. Nach Trumps Wahl und dem Donnerauftritt seines Verteidigungsministers Pete Hegseth im NATO-Hauptquartier, Mitte Februar, war das Makulatur. Amerika werde sich künftig auf die Bedrohung aus China konzentrieren, hatte Hegseth seinen Kollegen eingehämmert, sie müssten nun selbst „die Verantwortung für die kon­ventionelle Sicherheit auf dem Kontinent übernehmen“. Kein Regierungschef wollte nach Den Haag fahren und dort er­klären müssen, warum es, ähem, noch Jahre dauern werde, um das Ziel einzuhalten, das seit 2024 die Untergrenze des NATO-Anspruchs ist.

Zum anderen haben die Staaten ein neues Ausgabenziel hingenommen, das sie zunächst für ein Hirngespinst oder eine Drohkulisse Trumps hielten: fünf Prozent. Zwar entfällt ein Drittel davon auf Ausgaben, die größtenteils schon in den Haushalten eingeplant sind: 1,5 Prozent für militärisch nutzbare Infrastruktur, Cyberabwehr, Grenz- und Küstenschutz, zivile Resilienz und manches mehr. Die Definition wurde so weit gefasst, dass hier nur wenig zusätzliche Mittel generiert werden.

Deutschland: Statt 90 Milliarden nun 160 Mil­liarden Euro

Auch für Deutschland dürfte das so sein, obwohl das Finanzministerium noch am Rechnen ist. Was wirklich Schmerzen verursacht, sind die 3,5 Prozent – für die meisten bedeutet das nahezu eine Verdoppelung der Militärausgaben. Allein das deutsche Verteidigungsbudget müsste von rund 90 Milliarden auf 160 Mil­liarden Euro steigen, wenn man die gegenwärtige Wirtschaftsleistung zugrunde legt. Bis das Ziel erreicht wird, dürfte das Bruttoinlandsprodukt deutlich gestiegen sein, was sich dann in noch einmal höheren Ausgaben niederschlägt.

NATO-Generalsekretär Rutte hat sich bemüht, die 3,5 Prozent rational abzuleiten – aus den neuen Verteidigungsplänen der Allianz. Wie genau er darauf gekommen ist, hat jedoch kein Verbündeter je gesehen. Fachleute im Bündnis sagen, die ehrliche Zahl liege näher an vier Prozent. Wobei das alles keine exakte Wissenschaft ist. Wer kann schon voraussagen, was ein neues Waffensystem kosten wird, wenn es in fünf oder zehn Jahren ausgeliefert wird?

Tatsächlich gibt es für die 3,5 Prozent eine noch stärkere, nämlich politische Begründung: Der Wert liegt ganz nah an dem, was die USA schon ausgeben, nämlich 3,4 Prozent. Trump hatte eine klare Forderung aufgestellt: Die Europäer sollen so viel für ihre Sicherheit aufwenden wie die USA. Das wollen sich die Verbündeten nun in Den Haag versprechen.

Donnerauftritt: Der amerikanische Verteidigungsministers Pete Hegseth im Gespräch mit NATO-Generalsekretär Mark Rutte im Februar
Donnerauftritt: Der amerikanische Verteidigungsministers Pete Hegseth im Gespräch mit NATO-Generalsekretär Mark Rutte im FebruarAFP

Aber können sie es auch einhalten? Das ist nicht so sicher, weil es im Bündnis ein erhebliches Ost-West-Gefälle gibt. Je näher die Verbündeten an Russland dran sind, im Norden, im Osten und auch am Schwarzen Meer, desto größer sind ihr Bedrohungsgefühl – und ihre Ausgabenbereitschaft. Polen will in diesem Jahr 4,7 Prozent erreichen, Litauen strebt für 2026 bis zu sechs Prozent an, Schweden hat sich die 3,5 Prozent schon für 2030 vorgenommen. Diese Staaten verfügen außerdem über solide Staatsfinanzen – sie können sich die Aufrüstung leisten.

Schon in Belgien, einem Land mit 105 Prozent Staatsverschuldung, läuft die Debatte anders. Zwar hat sich die Vier-Parteien-Koalition zum neuen Ausgabenziel bekannt, voll dahinter stehen aber nur die flämischen Nationalisten. Der Vor­sitzende der wallonischen Liberalen, Georges-Louis Bouchez, zweitgrößter Partner in der Regierung, sagte dagegen diese Woche, fünf Prozent seien Ausdruck „kollektiver Hysterie“. In Frankreich, 113 Prozent Verschuldung, unterstützt Präsident Emmanuel Macron die Aufrüstung, ohne mit der Wimper zu zucken. Woher das Geld dafür kommen soll, hat er aber noch nicht erklärt. Eine eigene Mehrheit, um Sparpläne in der Nationalversammlung durchzusetzen, hat er nicht.

Zu schnell treiben die Ausgaben nur die Preise

In Spanien, fast genauso hoch verschuldet wie Belgien, haderte die Regierung bis zuletzt mit einer Festlegung auf fünf Prozent. „Spanien wird auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten seiner Verantwortung gerecht werden und weiterhin aktiv zur europäischen Sicherheitsarchitektur beitragen“, schrieb Ministerpräsident Sánchez dem NATO-Generalsekretär. „Allerdings kann Spanien auf diesem Gipfel keine konkrete Ausgabenziele in Bezug auf das BIP festlegen.“ Sánchez bat um eine „flexiblere Formel“.

Die hat er bekommen, zumal sich andere Staaten ebenfalls dafür stark gemacht haben – von Italien bis zum Vereinigten Königreich. Zum einen sollen alle Mitglieder mehr Zeit bekommen, um ihre Ausgaben zu erhöhen. Sieben Jahre hatte Rutte zunächst vorgeschlagen, inzwischen sind daraus zehn geworden.

Zum anderen verzichtet der Generalsekretär auf seine Forderung nach einem stetigen, linearen Ansteigen der Rüstungsausgaben. Jedes Land soll über den eigenen Weg entscheiden dürfen, muss das aber der Allianz verbindlich darlegen und es jährlich überprüfen lassen. Für die größere Flexibilität gibt es einen guten Grund. Wenn die Staaten das Geld zu schnell auf den Markt tragen müssen, könnten vor allem die Preise steigen statt die Zahl der erworbenen Waffensysteme. Das haben die Briten dargelegt, die schon seit Langem mehr als zwei Prozent ihrer Wirtschaftskraft in die Verteidigung stecken.

Sánchez hat die NATO in einige Nervositäten versetzt. Trotzdem ist schwer vorstellbar, dass er den Gipfel sprengen wird.
Sánchez hat die NATO in einige Nervositäten versetzt. Trotzdem ist schwer vorstellbar, dass er den Gipfel sprengen wird.EPA

Außerdem soll das neue Ausgabenziel 2029 überprüft werden. Dann kontrolliert die NATO ohnehin turnusgemäß ihre militärischen Fähigkeiten, das betrifft die gesamte Aufstellung der Streitkräfte und Hunderte Waffensysteme. Möglich, dass die Allianz dann zu dem Schluss gelangt, dass von Russland doch keine so große Gefahr mehr ausgehe, und sie ihre Ambitionen senkt. Allerdings glauben die meisten Fachleute, dass das Gegenteil eintreten wird, weil Russland weiter aufrüstet.

Sánchez behauptete, dass Spanien seine militärischen Fähigkeiten lediglich mit Ausgaben von 2,1 Prozent erreichen könne. Rutte widersprach ihm umgehend: „Die NATO ist absolut davon überzeugt, dass Spanien insgesamt 3,5 Prozent wird ausgeben müssen.“ Es gebe keine Ausnahme für Madrid und keine Seitenabsprachen. Man stimme darin überein, nicht übereinzustimmen – so fasste ein Diplomat das zusammen. Während Sanchez‘ Manöver durchaus ernst genommen wurde, scherte sich niemand um Robert Fico, den slowakischen Regierungschef. Zwar hatte der vergangene Woche einfach mal den Austritt aus der Allianz in den Raum gestellt. Man wolle sich nicht an „militärischen Abenteuern“ beteiligen, tat er kund und nannte die geforderten Mehrausgaben „absurd“. Doch saßen seine Vertreter kurz darauf brav am Verhandlungstisch und äußerten nichts dergleichen. Das Bündnis überging den po­pulistischen Anfall mit Schweigen.

„Erfolg, wenn die Hälfte der amerikanischen Soldaten bleiben“

Klar ist: Die Beschlüsse von Den Haag werden zur größten Aufrüstung Europas seit dem Kalten Krieg führen. Denn die Europäer müssen viel mehr für ihre Verteidigung leisten. Dagegen wird Amerika Truppen und Fähigkeiten abziehen. In welchem Umfang, das weiß bisher niemand.

Mindestens bis zum Herbst läuft die von Trump angeordnete Überprüfung der „Global Posture“, der Stationierung ihrer Streitkräfte in der ganzen Welt. Fest gerechnet wird damit, dass der amerika­nische Präsident danach jene 20.000 Soldaten zurückholt, die erst nach dem russischen Angriff auf die Ukraine nach Europa verlegt worden waren. Dabei dürfte es aber kaum bleiben.

Präsident Donald Trump während seiner ersten Amtszeit bei dem NATO-Gipfel in London 2019
Präsident Donald Trump während seiner ersten Amtszeit bei dem NATO-Gipfel in London 2019AP

Es wäre schon ein Erfolg, sagt ein NATO-Diplomat, wenn die Hälfte der derzeit 100.000 amerikanischen Soldaten auf dieser Seite des Atlantiks bliebe. Man brauche unbedingt den Nuklearschirm der USA mit Atombomben und nuklearer Teilhabe, die Air Force in Ramstein, die Raketenabwehr, etwa in Polen und Rumänien, und die Sechste Flotte mit ihrem Hauptquartier in Italien.

Sobald die amerikanischen Pläne feststehen, wird die NATO ihre Verteidigungspläne und Fähigkeitsziele daran anpassen müssen. Noch entfallen 44 Prozent aller NATO-Fähigkeiten auf die USA. Bis 2032 werde dieser Anteil auf 30 Prozent zurückgehen, stellte Rutte den Europäern in Aussicht. Intern heißt es, Washington habe zugesichert, dass es seinen Abbau mit Europas Aufbau von Fähigkeiten synchronisieren werde. Von Trump hat man das aber so noch nicht gehört.

Deutschland wird dann eine noch größere Rolle spielen müssen, um die Lücken zu schließen. Schon jetzt schultert Berlin knapp zehn Prozent aller Lasten – das zweitgrößte Paket aller Verbündeten. Was genau da drin ist, unterliegt der Geheimhaltung. Doch ließ Verteidigungsminister Boris Pistorius schon durchblicken, dass die Bundeswehr bis zu 60.000 Soldaten mehr benötige; derzeit sind es gut 180.000. Die Debatte, ob dafür die Wehrpflicht wieder eingesetzt werden muss, hat begonnen. Auch Reservisten werden wieder eine viel größere Rolle spielen. Für den Verteidigungsfall plant das Ministerium mit 460.000 Soldaten.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, hier beim G7-Gipfel in Kanada, muss sich beim diesjährigen Nato-Treffen mit einer Ne­benrolle begnügen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, hier beim G7-Gipfel in Kanada, muss sich beim diesjährigen Nato-Treffen mit einer Ne­benrolle begnügen.dpa

So kurz wie das Gipfeltreffen soll auch die Abschlusserklärung werden. Eine Seite Papier, mehr nicht. Für die NATO eine echte Herausforderung, denn zu jedem Gipfel gehören wochenlange Verhandlungen über ein Kommuniqué, das dann doch kaum jemand liest. In Vilnius 2023: 90 Absätze. In Washington 2024: 44 Absätze. In Den Haag: Vier bis fünf Absätze. Trump hätte wohl auch ein Satz gereicht, ist aus Verhandlungskreisen zu hören: Die Verbündeten geben mindestens fünf Prozent ihrer Wirtschaftskraft für Verteidigung aus. Das reichte den Europäern allerdings nicht.

Lieber gar nichts sagen

In der Washingtoner Erklärung letztes Jahr kam Russland an 45 Stellen vor. Jetzt soll es ein, zwei Sätze geben, die zum Ausdruck bringen, dass die NATO das Land als ihre unmittelbarste und gefährlichste Bedrohung ansieht. Andernfalls komme man in Begründungsnot, hatte Pistorius zuletzt gesagt. Wie soll man sonst die gigantischen Verteidigungsausgaben erklären? Trotzdem musste der Satz den Amerikanern erst abgerungen werden.

Noch schwieriger war es mit der Ukraine. Deren engste Partner wollten unbedingt die NATO-Perspektive des Landes bekräftigen – wie bei den vorigen Gipfeltreffen auch. „Die Zukunft der Ukraine ist in der NATO“, hatte es noch in Washington geheißen. Jetzt wird das Bündnis darüber kein Wort verlieren. Die neue amerikanische Regierung will Friedensverhandlungen mit Russland nicht einengen.

Die Verbündeten sind zu dem Schluss gekommen: Dann lieber gar nichts dazu sagen, der Beschluss von Washington gilt schließlich fort. Geplant sind nur ein paar Worte zur weiteren Unterstützung des Landes. Eine finanzielle Zusage wird es nicht geben. 2024 hatten die Verbündeten Kiew noch 40 Milliarden Euro Militärhilfe für ein Jahr versprochen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj muss sich diesmal mit einer Ne­benrolle begnügen. Der niederländische König hat ihn wie alle anderen Staats- und Regierungschefs zum „Social Dinner“ eingeladen. Einen NATO-Ukraine-Rat wird es nur auf Ebene der Außenminister geben, als paralleles Abendessen. Das alles zeigt, auf welch dünnem Eis sich das Bündnis inzwischen bewegt. Den Europäern kommt „sweet and short“ deshalb gut gelegen. Sie möchten lieber nicht zu viel Zeit mit Trump im selben Raum verbringen.