Abu Muhammad al-Golani hat in Idlib pragmatisch regiert

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Um zu verstehen, wie aus dem früheren Al-Qaida-Kämpfer Abu Muhammad al-Golani jener Ahmed al-Scharaa werden konnte, der sich jetzt in Interviews als gemäßigt-islamistischer Staatenlenker präsentiert, lohnt ein Besuch in Idlib. Jahrelang war das Gouvernement mit der gleichnamigen Stadt die Machtbasis Golanis. Hier hat er seine Herrschaftsmethoden verfeinert und seinen Imagewechsel zum Pragmatiker 2017 mit der Gründung der sogenannten Syrischen Heilsregierung eingeleitet, nachdem er sich 2016 von Al-Qaida losgesagt hatte.

Die meisten der früheren Minister sind Golani nach Damaskus gefolgt. Doch ei­ner ist noch da: Ahmed al-Hassan al-Dschadid, zuständig für Bildung. Der Behördenchef empfängt Besucher in einem modern eingerichteten Büro. Routiniert präsentiert er auf seinem Computer Grafiken und Statistiken. Zum Beispiel jene, wonach 50,4 Prozent der Lehrer in Idlib Frauen seien. Fragen nach möglichen islamistischen Inhalten im Lehrplan kontert er mit dem Verweis auf UNICEF. Man habe sich strikt an die Lehrpläne des UN-Kinderhilfswerks gehalten. „Wir haben nur die Inhalte gestrichen, die das Assad-Regime verherrlichten. Hinzugefügt haben wir nichts“, sagt Hassan.

40 Hilfsorganisationen seien nach 2018 in Idlib aktiv gewesen. „Niemand hätte uns weiter un­terstützt, wenn wir HTS-Inhalte gelehrt hätten.“ HTS steht für Hayat Tahrir al-Sham, jenes Milizenbündnis, das nun in Syrien das Sagen hat. Die Form seines Bartes verrät, dass Hassan salafistischen Ideen zuneigt. Aber er betont, dass er kein Mitglied der HTS sei. „Ich bin Zivilist. Bis ich 2022 den Job übernommen habe, war ich Schuldirektor.“ Die Trennung zwischen ziviler Expertenregierung und dem Militär sei der Grund für den Erfolg der HTS, sagt der Behördenchef.

Drusen und Christen wurden auch versorgt

Ein lokaler Journalist bestätigt das. Die Technokraten hätten Ängste in der Bevölkerung gedämpft. „Das sind lokale, angesehe Leute“, sagt er. Golani kooptierte die lokale Elite für sein Projekt „Heilsregierung“, das den Anspruch hatte, eine Alternative zu Assad zu sein. „Nachdem die ‚Heilsregierung‘ gegründet wurde, haben sie Mitarbeiter von humanitären Organisationen angeworben und Leute aus dem Ausland zurückgeholt, auch aus Deutschland“, sagt ein Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation, die seit Jahren in Idlib aktiv ist. Sein Name wird hier nicht genannt, weil seine Organisation keine Interviews wünscht.

Straßenverkehr in Idlib im Dezember
Straßenverkehr in Idlib im DezemberReuters

Er hat mehrfach den Chef der syrischen Übergangsregierung, Muhammad al-Ba­shir, getroffen, als dieser in Idlib noch die Behörde für humanitäre Hilfe leitete. Gespräche mit ihm seien konstruktiv gewesen, sagt der Entwicklungsexperte. Die Behörde sei viel professioneller gewesen als Funktionäre in anderen Rebellengebieten. Zum Vergleich nennt er Azaz, wo de facto die türkische Nothilfebehörde Afad das Sagen hat.

Dort hätten die lokalen Funktionäre Geld in die eigene Tasche gesteckt und persönliche Interessen verfolgt. Die Türkei habe Einfluss darauf genommen, welche Dörfer am meisten un­terstützt werden – nämlich jene der turkmenischen Minderheit. In Idlib sei das nicht der Fall gewesen. „Wenn es Einflussversuche gab, sind wir einfach eine Ebene höher gegangen. Dann wurde das abgestellt.“ Die Behörden in Idlib seien fachlich spezialisiert gewesen. „Sie waren gut organisiert.“

Dörfer, in denen Drusen und Christen leben, seien genauso versorgt worden. „Das war Teil des Imagewechsels. Sie wussten, dass die internationalen Organisationen dort genau hinschauen würden“, sagt der Entwicklungshelfer. „Sie mussten immer fürchten, dass die NGOs ihre Ar­beit einstellen und die Leute dann protestieren. Das haben wir als Druckmittel benutzt.“ Die Trennung zwischen Miliz und „Heilsregierung“ sei der einzige Weg gewesen, Unterstützung zu bekommen. Kein Geber wollte sich schließlich nachsagen lassen, eine Terrororganisation zu finanzieren. Das letzte Worte hatte freilich trotzdem die HTS.

Noch Juli gab es Proteste gegen die HTS

Obwohl die Rebellenregierung darum bemüht war, das radikale Image abzustreifen, verbreitete sie im vergangenen Jahr den Entwurf eines „Moralgesetzes“. Es verbietet zum Beispiel den Konsum von Alkohol und Shishas und das Spielen von Musik in Restaurants und Cafés. Es verlangt, dass Mädchen über 12 Jahren sich „sittsam“ kleiden und dass in Restaurants die Bereiche für Männer und Familien strikt getrennt sind. Ein Mann darf demnach nicht mit einer fremden Frau allein sein. In dem Gesetzentwurf ist von Pa­trouillen der Moralpolizei die Rede. „Es diente der Einschüchterung“, sagt der Entwicklungsexperte. Es sei aber nur sporadisch umgesetzt worden. Trotzdem habe seine Organisation ihre Richtlinien für das eigene Personal angepasst.

Im Chocolate Corner Café in Idlib werden Frauen durch mobile Stellwände von fremden Blicken abgeschirmt. In der Stadt herrscht ein konservativer Geist. Viele Gesprächspartner vermeiden es, Frauen in die Augen zu schauen. Zum Beispiel im Informationsamt, in dem Journalisten sich anmelden sollen. Auf den Straßen sind viele Frauen unterwegs, auch noch nach Einbruch der Dunkelheit. Manche sind vollverschleiert, andere tragen ein einfaches Kopftuch. Frauen ohne Kopftuch sieht man anders als im benachbarten Aleppo nicht, wohl auch weil es in der Region nur wenige christ­liche und dru­sische Dörfer gibt. Eine Krankenschwester vor dem Chocolate-Café berichtet, dass es für Frauen gute Arbeitschancen in Idlib gebe. Viel mehr will sie nicht sagen. Ihr Mann drängt zur Eile.

„Ich glaube nicht, dass Golani ein solches Moralgesetz in ganz Syrien durchsetzen könnte“, sagt der in London ansässige Politikberater Malik al-Abdeh. „Wenn er das versuchen würde, wäre er schnell mit viel Widerstand konfrontiert.“ So wie in der Vergangenheit. Noch im Juli dieses Jahres gab es in Idlib Massenproteste gegen die HTS. Ein Grund dafür war eine interne Säuberungskampagne. Rund 300 HTS-Kader, teils aus dem Umfeld Golanis, seien nach Vorwürfen, für die Vereinigten Staaten spioniert zu haben, festgenommen worden, sagt Abdeh. Manche seien zu Tode gefoltert worden. Angehörige der Gefangenen organisierten daraufhin Demonstrationen. Die HTS habe mit Einschüchterung und Kooption reagiert, sie habe aber keine tödliche Gewalt eingesetzt.

Mehr als die Hälfte der Bewohner sind Flüchtlinge

Für Unzufriedenheit sorgte auch, dass die HTS Steuern von Bauern und Unternehmern erhob. Vieles war in Idlib deshalb teurer als in anderen Oppositions­gebieten. Dafür nutzten die Rebellen die Einnahmen, um Dienstleistungen bereitzustellen. Teils im Verbund mit privaten Unternehmen. Im Vergleich zur Nachbarstadt Aleppo, die jahrelang vom Assad-Regime kontrolliert wurde, gibt es in Idlib eine stabile Stromversorgung. Die Ampeln funktionieren. Das mobile Internet auch. Es gibt Einkaufszentren. „Vor 2018 gab es kein Wasser, keinen Strom, keine funktionierenden Schulen“, sagt der Englischlehrer Hassan im Chocolate Corner Café. „Dass es jetzt anders ist, halten die Leute der HTS zugute.“

Golani profitierte davon, dass die Türkei ihm die Kontrolle über den Grenzübergang Bab al-Hawa zugestand, und davon, dass türkische Truppen seit einem Abkommen von 2020 zwischen der Türkei und Russland das Gebiet von außen sicherten. Auf den Hügeln rund um die Stadt reihen sich Lager für Binnenflüchtlinge aneinander. Mehr als die Hälfte der 3,5 Millionen Einwohner ist aus anderen Landesteilen vor dem Assad-Regime hierher geflohen.

Einer, der noch in diesem Jahr gegen Golani demonstriert hat, will jetzt kein böses Wort mehr über ihn sagen. „Die Leute haben nach der stärksten Kraft gesucht, die Assad stürzen kann, weil die EU und die USA die Syrer im Stich gelassen haben. Diese stärkste Kraft war die HTS.“