Entwicklungsministerin Reem Alabali Radovan im Interview

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Frau Alabali Radovan, als Sie Ministerin wurden, war klar, dass die deutsche Entwicklungshilfe zurückgefahren wird. Das war kein Grund, das Amt abzulehnen?

Mit der Entscheidung, dass es weiterhin dieses Ministerium gibt, haben wir ein wichtiges Signal für die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) und für Deutschlands Rolle in der Welt gesetzt. In Zeiten globaler Krisen und Kriege und weiterer Herausforderungen wie Hunger und Armut ist das wichtig. Daher habe ich das Amt mit großer Freude und Demut angenommen. Klar ist, dass wir einen sehr hohen Konsolidierungsdruck haben. Das betrifft alle Politikbereiche.

Wie ist das, wenn Sie morgens ins Haus kommen: Wundern Sie sich da manchmal noch selbst, dass Sie jetzt die Chefin sind?

Dazu komme ich gar nicht, dazu sind die weltweiten Herausforderungen zu groß. Mit den Haushaltsberatungen ging es los. Parallel muss ich die Frage beantworten: Wie stelle ich dieses Ministerium auf, dass es zukunftsfähig ist? Damit habe ich mich vom ersten Tag an beschäftigt.

Jetzt bekommt Ihr Ministerium knapp eine Milliarde Euro weniger als im vergangenen Jahr. Wenn man weniger Geld hat, muss man noch genauer schauen, was man damit macht. Wo werden Sie kürzen?

Es ist bitter, dass uns in einer Zeit, in der die globalen Probleme immer größer werden, weniger Mittel zur Verfügung stehen. Aber wir werden Wege finden, zu unserer Verantwortung zu stehen. Mir war es wichtig, dass wir ein verlässlicher Partner in der Welt bleiben, wenn andere wie die USA sich zurückziehen. Ich habe schon Ideen, wie wir unsere Arbeit effizienter machen können. So sehen wir, dass in einigen Ländern oder Themen die Zusammenarbeit mit den multilateralen Organisationen besser funktioniert.

Das klingt so, als wenn Sie sich aus einigen Ländern ganz zurückziehen wollen?

Nein, wir ziehen uns nicht zurück, sondern fokussieren die Themen in den Ländern nach dem Motto: Wer braucht was? Da kommt auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit ins Spiel. Es gibt zum Beispiel Staaten wie Marokko oder Südafrika, bei denen es sinnvoll ist, noch stärker in die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu gehen.

Im Nahen Osten fliegen Raketen hin und her. Wie kann man in einer solchen Region Entwicklungsaufbau betreiben? Wird da nicht alles gleich wieder kaputtgeschossen, was man gerade aufgebaut hat? Werden Sie dort eher reingehen oder rausgehen?

Der gesamte Mittlere und Nahe Osten wird mehr in meinem Fokus stehen. Die Geschehnisse in der Region betreffen auch uns. Deswegen müssen wir uns dort noch stärker engagieren. Trotz der aktuell sehr schwierigen Lage gibt es dort auch Erfolgsbeispiele, wie den Irak oder Jordanien. Im Irak haben Binnenflüchtlinge wieder eine Perspektive, sie können in ihre Heimatorte zurückkehren. Dort passiert viel Wiederaufbau. Das wollen wir auch in Syrien weiter vorantreiben.

Frauen sind seit der Taliban-Herrschaft in Afghanistan wieder stark benachteiligt.
Frauen sind seit der Taliban-Herrschaft in Afghanistan wieder stark benachteiligt.AFP

Eine große Misserfolgsgeschichte ist Afghanistan. Nirgendwo hat sich der Westen so engagiert. Das ist mit einem Knall gescheitert. Haben Sie eine Erklärung, was da schiefgelaufen ist?

Ich würde nicht sagen, dass die Entwicklungszusammenarbeit dort gescheitert ist oder umsonst war. Frauen und Mädchen wurden beschult. Das bleibt richtig.

Aber für die nachfolgenden Mädchen ist nichts erreicht.

Afghanistan zeigt, dass Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik besser für eine gute Sicherheitspolitik verzahnt werden müssen. Ich arbeite gut und eng mit Johann Wadephul und Boris Pistorius zusammen. Mit dem geplanten Nationalen Sicherheitsrat wird die Verzahnung noch enger.

Die Amerikaner ziehen sich weitestgehend aus der Entwicklungspolitik zurück. Briten, Franzosen, Niederländer kürzen ihre Mittel signifikant. Was heißt das für die Entwicklungszusammenarbeit insgesamt und für Deutschland?

Die globale Entwicklungszusammenarbeit ist bedroht. Der Rückzug der USA wird massive Folgen haben, die wir auch sehen werden. So gefährden Krankheiten wieder ganz akut das Leben von Millionen Menschen auf dem afrikanischen Kontinent. Wir können das nicht kompensieren. Weder Deutschland noch die Europäischen Union. Aber wir müssen das Schlimmste verhindern. Und deshalb setze ich jetzt darauf, dass wir in der EU enger zusammenarbeiten. Ich setze aber auch mehr auf multilaterale Organisation.

Damit kommt Deutschland verstärkt unter Rechtfertigungsdruck nach dem Motto: Warum machen wir das noch, wenn die anderen sagen, das bringt doch nichts.

Durch den Rückzug der USA aus der Entwicklungszusammenarbeit sind wir nun in vielen Bereichen der größte Geber. Das bringt Deutschland in eine bedeutende Position. Entwicklungszusammenarbeit ist wichtig für unsere Sicherheit, für unseren Wohlstand und geostrategische Positionierung. Deswegen sollten wir eine Führungsrolle übernehmen und uns noch stärker einbringen.

Gibt es konkrete Ideen, in welche Richtung Sie gehen wollen?

Die Vereinten Nationen befinden sich gerade in einem großen Reformprozess. Da werde ich mich stärker einsetzen und Allianzen knüpfen. Dabei sollten wir die Länder des globalen Südens nicht vergessen, sondern einbeziehen. Wir werden eine Nord-Süd-Kommission auf den Weg bringen für langfristige Partnerschaften zum gegenseitigen Nutzen.

Wenn wir von Ländern des globalen Südens sprechen, ist an erster Stelle meist Afrika gemeint. Viele Ministerien haben schon für den Kontinent eigene Strategien entwickelt. Planen Sie eine weitere?

Mir geht es nicht um eine weitere Strategie, mir geht es jetzt vor allem darum, ins Machen zu kommen – zumal man auf dem afrikanischen Kontinent stark unterscheiden muss. Wir haben zum einen Länder mit großen Krisen. Im Sudan ereignet sich aktuell die größte humanitäre Katastrophe der Welt. Es ist völlig klar, dass wir dort unterstützen müssen, um Hunger und Armut zu lindern. Gleichzeitig können wir mit aufstrebenden Volkswirtschaften wie Nigeria, Marokko oder Südafrika anders, stärker wirtschaftlich zusammenarbeiten. Ein Beispiel ist auch Namibia, wo grüner Wasserstoff produziert werden wird. Da sieht man, wie gut Entwicklungszusammenarbeit und wirtschaftliche Zusammenarbeit Hand in Hand gehen.

In der Wüste Namibias soll ein grünes Wasserstoff-Projekt enstehen. Dieser Messmast erfasst Wind- und Sonnenintensität.
In der Wüste Namibias soll ein grünes Wasserstoff-Projekt enstehen. Dieser Messmast erfasst Wind- und Sonnenintensität.Claudia Bröll

Aber gerade aus der Wirtschaft hört man, dass das nicht gut Hand in Hand geht. Investitionsbereite Unternehmen fühlen sich vernachlässigt und fordern mehr Unterstützung durch Kredite oder Risikoabfederung. Wo sollte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) besser werden?

Das BMZ hat gute Instrumente für die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Aber wir wollen mit der deutschen Wirtschaft zu einer besseren Kooperation kommen. Das wird einer meiner Schwerpunkte sein. Ich möchte dafür werben, dass deutsche Unternehmen in Schwellenländern investieren.

Würden Sie Ihren Erfolg daran messen lassen, ob mehr deutsche Unternehmen sich in Afrika engagieren?

Ich denke nicht, dass man das so messen kann. Französische Unternehmen bieten zum Beispiel ganze Systeme an, etwa komplette Häfen oder Metrolinien. Deutsche Unternehmen sind stärker in der Zulieferung. Sie sind oft an Investitionen beteiligt, aber nicht so sichtbar. Ich werde mir das ganz genau anschauen und enger mit der Wirtschaft zusammenarbeiten.

Wird es also mehr interessengeleitete Entwicklungspolitik geben, wie Unternehmerverbände fordern?

Es geht darum, besser zu ermitteln, wo es gemeinsame Interessen gibt. Dazu habe ich beispielsweise mit dem nigerianischen Außenminister gesprochen. Es geht um eine Win-win-Situation für beide Länder – für Deutschland und das Partnerland. Mir ist genauso wichtig, die Menschen vor Ort nicht zu vergessen, dass Arbeitsplätze entstehen mit Löhnen, von denen die Menschen leben können, und dass Menschenrechte eingehalten werden.

Viel Kritik gibt es an der Durchführungsbehörde GIZ (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit), die das Monopol auf die Vergabe von Entwicklungsprojekten hat. Im Koalitionsvertrag steht, dass es in Zukunft mehr Wettbewerb geben soll. Wie sehen Ihre Pläne aus?

Die GIZ ist eine wichtige Organisation, die sehr erfolgreich Projekte in den Partnerländern durchführt und viel Expertise hat. Ihre Arbeit wird schon jetzt systematisch auf Wirksamkeit überprüft. Wenige Politikbereiche sind so transparent und werden so evaluiert wie die deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Es ist aber klar, dass es mehr Wettbewerb geben muss. Aktuell ist es noch zu früh, um über konkrete Maßnahmen zu sprechen.

Der GIZ wird zu viel Bürokratie und fehlende Wirkung vorgeworfen. Werden Sie da ein Machtwort sprechen?

Erst einmal werde ich in meinem eigenen Haus anfangen. Wir schauen auch im BMZ, wie wir Bürokratie abbauen können. Fragen sind zum Beispiel, welche Vorgaben bei den Aufträgen notwendig sind und welche nicht. Es wird harte Einschnitte geben müssen, auch schmerzhafte.

Soll also die deutsche EZ „chinesischer“ werden?

Nein, bitte nicht. Alles, was wir tun, muss im Rahmen unserer Werteordnung passieren. Aber in der allgemeinen Debatte um deutsche Entwicklungszusammenarbeit darf man nicht aus den Augen verlieren, dass wir nicht die einzigen Player sind. China und Russland sind gerade auf dem afrikanischen Kontinent, aber auch in Nahost sehr aktiv. Und wenn wir mit afrikanischen Ländern weiter zusammenarbeiten und auch für Deutschland und für Europa werben möchten, dann müssen wir auf Partnerschaft auf Augenhöhe setzen. Das unterscheidet uns von China und Russland.

Kakaoernte in der Elfenbeinküste
Kakaoernte in der ElfenbeinküsteReuters

Aufbauhilfe ist das eine, humanitäre Hilfe das andere. Gerade jetzt, nach dem Rückzug der Amerikaner, brennt es überall lichterloh. Wo müssen wir mehr leisten, weil die Not zu groß ist?

Die internationale Lage ist dramatisch. Wenn wir die globalen Herausforderungen in den Griff bekommen wollen, müssen wir einen stärkeren Fokus auf die Bekämpfung von Hunger, Armut, sozialer Ungleichheit und auf den Klimaschutz legen. Nächste Woche treffen wir uns zur vierten UN-Finanzierungskonferenz in Sevilla mit vielen Staats- und Regierungschefs. Das zeigt, wie wichtig diese Konferenz ist, wie groß die Herausforderung in der Entwicklungsfinanzierung. Und ich sage zu, dass wir multilaterale Organisationen auch zukünftig verlässlich finanzieren werden. Wir bleiben weiterhin ein verlässlicher Partner in der internationalen Zusammenarbeit.

Das Lieferkettengesetz steht bei vielen Unternehmen in der Kritik. Sie beklagen zu viel Bürokratie und Benachteiligung gegenüber Firmen in anderen Ländern. Wie stehen Sie dazu?

Wir haben eine klare Vereinbarung in der Koalition mit dem Bekenntnis zur EU-Lieferkettenrichtlinie. Wir dürfen in dieser gesamten Debatte nicht vergessen, worum es im Kern geht. Wir wollen verhindern, dass Produkte, die in Deutschland zugänglich sind, durch Sklaverei, Kinderarbeit oder Ausbeutung entstanden sind und deshalb so günstig sind.

Viele Unternehmen stöhnen, dass sie die Nachweise entlang der Lieferkette nicht leisten können. Auch vielen Kleinstunternehmern wie Kakaobauern in der Elfenbeinküste fällt das schwer.

Diese Bedenken nehmen wir ernst. Das ist ja auch ein Grund, warum wir das deutsche Lieferkettengesetz aussetzen. Ich bin sicher, dass wir einen guten Weg finden, das Ganze so zu gestalten, dass es nicht in Bürokratie erstickt. Bei der EU-Lieferkettenrichtlinie müssen wir uns weiter für gute Regelungen starkmachen.

Aber macht es sich die Politik nicht zu einfach, wenn sie sagt, die Unternehmen und auch ihre Zulieferer und deren Zulieferer sollen sich um die Bedingungen entlang der Lieferketten kümmern? Sollte nicht die Politik sagen, es gibt keinen Handel mehr mit Ländern wie Kongo oder Bangladesch, wenn dort die Standards nicht eingehalten werden?

Das würde den Unternehmen auch nicht gefallen. Wir müssen gemeinsam einen Weg finden, und ich bin überzeugt, dass das geht. Ich finde es richtig, dass wir an der EU-Lieferkettenrichtlinie festhalten. Sie gilt erst für Unternehmen ab einer bestimmten Größe, und diese haben die Möglichkeiten, ihre Lieferketten zu prüfen. Das ist auch im Sinne der Verbraucher. Und ich würde es sehr begrüßen, wenn wir dann auch wieder zu einem guten deutschen Lieferkettengesetz kommen.

Einer Ihrer Vorgänger, Dirk Niebel von der FDP, sagte einmal, sein Ziel sei, sein Ressort langfristig überflüssig zu machen. Würden Sie das unterschreiben?

Natürlich wünsche ich mir eine Zukunft in einer gerechten Welt ohne große Krisen, Hunger, Armut und Ungleichheit. Davon sind wir aber leider weit entfernt. Deshalb ist mein Ziel, dieses Ministerium zukunftsfähig aufzustellen. Daran arbeite ich.

Reem Alabali Radovan

Die am 1. Mai 1990 in Moskau geborene Reem Alabali Radovan ist die drittjüngste Bundesministerin in der Geschichte Deutschlands (nach Claudia Nolte 1994 und Kristina Schröder 2009). Bevor sie das Ressort Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung übernahm, bekleidete die SPD-Politikerin das Amt der Staatsministerin für Migration im Kanzleramt. Ihre Eltern, die der christlichen Minderheit im Irak angehörten, waren Gegner des Regimes von Saddam Hussein. Sie studierten Ingenieurwissenschaften in Moskau. 1996 floh die Familie nach Mecklenburg-Vorpommern, wo sie Asyl erhielt. Alabali Radovan studierte Politikwissenschaften in Berlin und war ab 2018 im Ministerium für Soziales, Integration und Gleichstellung in Mecklenburg-Vorpommern als Büroleiterin der Integrationsbeauftragten tätig.