Westliche Blicke auf das chinesische Füßebinden

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Gegen die westlich-fetischistische Deutung spricht, dass oft nicht einmal die Gatten die Füße ihrer Frauen ohne Binden und Schuhe sahen. Das Einschnüren der Füße nahmen Frauen an Frauen vor. Westliche Reisende und Fo­tografen rüttelten am Blicktabu. Jasmin Mersmann erläutert die Fußmanie unter Anatomen zwischen 1830 und 1920: Röntgenbilder, Abgüsse, Modelle und Präparate waren unter Kolonialbedingungen erlangtes Material. Anatomen sahen Füßebinden als Langzeitexperiment der Verformung gesunder Knochen unter Druck. Hans Virchow, Nachfolger seines Vaters Rudolf Virchow im Vorsitz der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, nutzte 1905 den Auftritt einer „Chinesentruppe“ im Circus Schumann in Berlin zu einem Röntgentermin.

Britta Lange analysiert Karl Figdors Abenteuerroman „Die Herrin der Welt“, der in einem Blumenboot (schwimmenden Bordell) in Kanton spielt, und Joe Mays Verfilmung „Die Freundin des gelben Mannes“. Die Produktion populärer Klischeebilder deutet sie als Unsichtbarmachen weißen Begehrens und Exhibitionismus zweiter Ordnung.

Das Buch möchte mit biographischen Zugängen einen Weg zum Umgang mit sensiblen Sammlungen weisen. Oral Histories, die Frauen als Akteurinnen innerhalb repressiver Lebenswelten ernst nehmen, zeichnen den Wandel vom Schönheitsideal zum Makel nach: vom Ende der Kaiserzeit, als zwischen White-savior-Komplex und mütterlichem Imperialismus eine westlich gestützte Anti-Fußbinde-Bewegung aufkam, bis zur Kul­turrevolution, als Lotusfüße feudalis­ti­sche Relikte wurden. Durch die Trans­parenz in der Frage „Wer spricht?“ verschiebt der Band den Fokus von aneignender Objektivierung zu einem sub­jektiv-polyphonen Ansatz im Blick auf die Füße der Anderen.