Gedenkfeier für Lothar Gall: Der Bürger als Forscher

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Althistoriker haben etwas Geistessenatorisches, Mediävisten sind religiös, Frühneuzeithistoriker neigen zur Leibesfülle: Dass Gelehrte dem Gegenstand ihrer Forschung auch persönlich ähneln, ist ein Klischee, das gelegentlich dann doch einmal zutrifft. Selten aber trifft es in so umfassender Weise zu wie im Fall von Lothar Gall (1936 bis 2024). Dass dieser das Bürgertum des neunzehnten Jahrhunderts nicht nur erforschte, sondern in idealisierter Form nachgerade verkörperte, war der Tenor einer akademischen Gedenkfeier, die an Galls erstem Todestag von der Frankfurter Goethe-Universität ausgerichtet wurde. Hier hatte der Historiker von 1975 an dreißig Jahre lang gelehrt.

Vielleicht mag schon die unwahrscheinliche Vielfältigkeit seines Wirkens als Ausweis von Bürgerlichkeit gelten, verstand sich doch der klassische Bürger immer auch im Gegensatz zum reinen Spezialisten. Gall, so betonte gleich zu Beginn Dieter Hein, könne alles vorzeigen, was einen bedeutenden Gelehrten auszeichne: eine erfolgreiche akademische Laufbahn, ein thematisch breites Œuvre, zahlreiche Schüler, wichtige Positionen in der Wissenschaftsorganisation, Einfluss im Fach und in einer breiteren Öffentlichkeit.

In dieser sorgte er vor allem mit zwei umfangreichen Büchern für Aufsehen. Galls Bismarck-Biographie von 1980 verkaufte sich mehr als zweihunderttausendmal, wohl auch, wie Hans-Werner Hahn ausführte, weil sie gekonnt Struktur und Individuum zueinander in Beziehung setzte und ihren Protagonisten weder verherrlichte noch verdammte. Selbst wer die 800 Seiten nicht gelesen hat, kennt heute den Untertitel des Buchs, der Galls Hauptthese genial verdichtet: Er präsentiert Bismarck als „weißen Revolutionär“, als einen konservativen Staatsmann also, der wider Willen die Grundlagen der modernen Welt schuf. Außenpolitisch wollte Bismarck Preußen stärken und gründete dabei das vereinte Deutschland, worin Preußen schließlich auf- und untergehen sollte. Innenpolitisch förderte er die Sozialisten, indem er sie bekämpfte.

Ein Vermittler zwischen den Lagern

Das zweite opus magnum Galls, „Bürgertum in Deutschland“ von 1989, beschäftigte sogar den damaligen Bundeskanzler: Helmut Kohl soll das Buch während eines Krankenhausaufenthalts gelesen und Gall anschließend am Telefon mit Fragen gelöchert haben. Dessen zentrales Anliegen war es, erläuterte Dieter Langewiesche, das Bürgerideal des frühen neunzehnten Jahrhunderts zu rekonstruieren und zu rehabilitieren. Damals habe sich das Bürgertum keineswegs als geschlossene Gruppe in Abgrenzung zu anderen verstanden, sondern als Vorhut der Gesamtgesellschaft: Die von ihm gelebten Vorstellungen von Freiheit und Unabhängigkeit sollten in nicht allzu ferner Zukunft für alle und von allen zu verwirklichen sein. Erst mit der gescheiterten Revolution von 1848 sei „Bürgertum“ vom Ideal zur Klasse geworden und der Liberalismus zunehmend eine Vertretung von Standesinteressen. Ob die „geistig-moralische Wende“ von Kohls „bürgerlicher Koalition“ mehr Substanz gehabt hätte, wenn das Buch einige Jahre früher erschienen wäre?

„Bürgertum in Deutschland“ präsentiert diese Entwicklung nicht als abstrakte Ideen- oder quantifizierende Sozialgeschichte, sondern illustriert sie anhand einer Mannheimer Bürgerfamilie, der Bassermanns. Später legte Gall weitere Biographien „in allgemeiner Absicht“ nach, so zu Hermann Josef Abs und zu Walther Rathenau. Auch bei solchen Unternehmerfiguren, so jedenfalls das Urteil von Werner Plumpe, war Gall dort am stärksten, wo es um sie als Repräsentanten des Bürgertums ging.

Lothar Gall (l.) mit Bundespräsident Roman Herzog in einer von ihm kuratierten Ausstellung zur Revolution von 1848, am 18. Mai 1998
Lothar Gall (l.) mit Bundespräsident Roman Herzog in einer von ihm kuratierten Ausstellung zur Revolution von 1848, am 18. Mai 1998Barbara Klemm

Diese Werke würden genügen, um Gall einen bedeutenden Platz in der Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung zu sichern. Und doch war damit nur ein Bruchteil seines Wirkens berührt und gerade einmal die Hälfte des Nachmittags verstrichen. Andreas Wirsching und Andreas Fahrmeir nahmen Gall als Wissenschaftsorganisator in den Blick, als Vorsitzenden des Historikerverbands, als Kuratoriumsvorsitzenden des Historischen Kollegs in München und als den bis heute am längsten amtierenden Herausgeber der „Historischen Zeitschrift“.

In diesen und vielen weiteren Funktionen habe es Gall vermocht, zwischen den Lagern der politisch und methodisch stark polarisierten Geschichtswissenschaften der Achtziger- und Neunzigerjahre zu vermitteln. Er selbst schrieb Sozialgeschichte einerseits, die Biographien großer Staatsmänner andererseits – aber nie ganz so, wie die Vertreter der „reinen Lehre“ sich das wünschten. Womöglich mag man auch in dieser disziplinären Mittelstellung eine Parallele zu Galls Forschungsgegenstand sehen, hat doch der Liberalismus nicht selten eine politische Mittelstellung eingenommen.

Stets korrekt gekleidet

Ganz gewiss zum bürgerlichen Habitus gehört die Zurückhaltung und Skepsis gegenüber den lauten Tönen, die Horst Möller in seinem Vortrag zu Lothar Gall als „public historian“ hervorhob. Gall sei zwar immer wieder in der Öffentlichkeit in Erscheinung getreten, aber nicht indem er in fachfremden Debatten interveniert, sondern indem er geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse ohne feste Agenda einem breiteren Publikum vermittelt habe. Neben den genannten Büchern verwies Möller auf Galls Anteil an der Gründung des Bonner Hauses der Geschichte und die zahlreichen von ihm kuratierten Ausstellungen. „Fragen an die deutsche Geschichte“ im Berliner Reichstagsgebäude wurde zwischen 1971 und 1994 von 17 Millionen Menschen besucht.

Ein noch etwas lebensnäheres Bild vom Bürger-Forscher konnte man sich bei Marie-Luise Reckers Referat zu „Lothar Gall und Frankfurt am Main“ sowie beim anschließenden Empfang machen. Da waren einerseits seine stets klassisch-korrekte Kleidung, eine gewisse höfliche Distanz und eine Gründerzeitvilla in Wiesbaden – Bürgertum als Klasse oder Lebensform, wenn man so möchte. Da waren andererseits sein Fleiß, sein zivilgesellschaftliches Engagement und sein liberaler, großzügiger Geist, der aufrichtig an anderen Menschen und Argumenten interessiert gewesen sei – Bürgertum als Idee und Ideal. Immer wieder wurde von den „Mittwochsrunden“ seines Lehrstuhls erzählt, gemeinsamen Mittagessen beim Italiener, bei denen der Professor die Diskussionen seiner Mitarbeiter ungezwungen animierte, sei es zu den jüngsten Forschungs- oder Fußballergebnissen.

Gegen Ende seines Lebens soll sich Gall um das Schwinden des Bürgerbewusstseins gesorgt haben, des Verständnisses dafür, dass individuelle Freiheit und gesellschaftliche Verantwortung zusammengehören. Wer ein solches Bewusstsein wiederbeleben möchte, findet reichlich Anregung in diesem Leben und diesem Werk.