„Grüner Stahl aus Deutschland ist vorerst nicht wettbewerbsfähig“

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Herr Russwurm, Thyssenkrupp plant eine große Konzernumstrukturierung. Alle fünf Sparten sollen peu à peu selbständig werden. Ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür in diesen ohnehin sehr unruhigen Zeiten?

Das Ziel, den Konzern profitabel aufzustellen, ist ja nicht neu. Die Geschäfte müssen sich selbst tragen, eine Quersubventionierung kann keine dauerhafte Lösung sein. Das ist eine völlig normale unternehmerische Zielsetzung. Jetzt wird das Vorhaben konkreter. Die einzelnen Geschäfte sollen sich künftig auch am Kapitalmarkt selbst finanzieren können. Ist das ungewöhnlich? Nein, denn ein Unternehmen, das sich nur durch Eigenkapital trägt, ist ja die absolute Ausnahme. Entweder es ist extrem reich, oder es hat ein Finanzierungsproblem.

Vergangene Woche gab es eine außerordentliche Aufsichtsratssitzung. Es ging um die erste der geplanten Verselbständigungen – die Marinesparte soll zu 49 Prozent an die Börse gehen. Wie kontrovers diskutieren Sie mit der IG Metall die Frage, ob der Staat einsteigen sollte?

Zum Thema Staatseinstieg müssen Sie die Bundesregierung befragen. Klar ist: So wie die Dinge jetzt geplant sind, muss nicht über einen Einstiegspreis verhandelt werden. Der Kurs bildet sich an der Börse. Der Staat ist als Teilhaber hochwillkommen, wenn er sich dafür entscheidet.

Muss er sich nicht dafür entscheiden, mindestens eine goldene Aktie zu besitzen, um seine Interessen zu wahren?

Aus welchem Grund? Der deutsche Staat ist entweder direkter Kunde von TKMS oder Genehmigungsbehörde für alle anderen. Entweder kauft die Bundesmarine militärische U-Boote und Schiffe, oder der Bund muss einen Verkauf an andere Staaten genehmigen. Das wissen alle Beteiligten. Eine Diskussion über einen Staatseinstieg, um deutsche Interessen zu wahren, ist daher unnötig.

Wie viele der heute rund 96.000 Thyssenkrupp-Beschäftigten arbeiten in fünf Jahren noch in den dann teilverselbständigten Thyssenkrupp-Unternehmen?

Es gibt keine Gesamtzahl, weil in den Geschäftsbereichen die einzelnen Maßnahmen, die für ihre Wettbewerbsfähigkeit nötig sind, nicht von oben vorgegeben werden – weder vom Vorstand der AG noch vom Aufsichtsrat. Letztendlich sind es die Kunden, die mit ihrer Nachfrage entscheiden, wie viel Arbeit und damit auch wie viele Arbeitsplätze es bei uns gibt. Dass wir in verschiedenen Bereichen insbesondere durch die momentane Krise der Automobil- und Autozulieferindustrie unter Druck stehen, wird niemanden verwundern. Der Vorstand von Steel Europe hat bereits konkrete Zahlen definiert: 5000 Stellen sollen wegfallen und 6000 in andere Unternehmen überführt werden. Bei Automotive Technology gibt es einerseits sehr zukunftsstarke Geschäfte, andererseits auch solche, die wir selbst nicht fortführen können.

Siegfried Russwurm war lange Siemens-Chef und BDI-Präsident, heute ist er Chefkontrolleur des Thyssenkrupp-Konzerns.
Siegfried Russwurm war lange Siemens-Chef und BDI-Präsident, heute ist er Chefkontrolleur des Thyssenkrupp-Konzerns.dpa

Grund genug für Kontroversen mit der Arbeitnehmerbank. Steht im Protokoll der jüngsten Aufsichtsratssitzung, dass Herr Russwurm seine Doppelstimme ziehen musste, um den Vertrag von Vorstandschef Miguel López zu verlängern?

Aufsichtsratssitzungen sind vertraulich. Dazu darf und werde ich mich nicht äußern.

Der stellvertretende IG-Metall-Chef Jürgen Kerner, der im Aufsichtsrat auch Ihr Stellvertreter ist, hat nach der Abstimmung publik gemacht, dass er gegen die Vertragsverlängerung gestimmt hat. Ist das nicht höchst ungewöhnlich?

Ja, das ist außergewöhnlich. Aktienrecht und Mitbestimmung haben sehr klare Regeln, auch für das Vorgehen im Konfliktfall. Und unabhängig von der jüngsten Aufsichtsratssitzung bei Thyssenkrupp eine Bemerkung zur maximalen Eskalation, also der Doppelstimme des Aufsichtsratsvorsitzenden: Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem umfassenden Urteil zur Mitbestimmung 1979 ausdrücklich klargestellt, dass das Zweitstimmrecht des Vorsitzenden zur Wahrung des grundgesetzlichen Eigentumschutzes Voraussetzung für die Verfassungsmäßigkeit des Mit­bestimmungsgesetzes ist. Im Konfliktfall sichert es für die Anteilseignerseite das Letztentscheidungsrecht der Eigentümer, denn bei dem Unternehmen handelt es sich um das Eigentum der Aktionäre.

Ist denn gar nichts dran an der Argumentation der IG Metall, dass man mit der Vertragsverlängerung von Herrn López auch noch hätte warten können bis September – also bis die Planungen für die Konzernaufteilung fortgeschritten sind?

Unerfreulicherweise ist das Zukunftsmodell, das eigentlich erst im September im Aufsichtsrat behandelt werden sollte, bereits vorab öffentlich geworden. Dann hat sich natürlich auch der Aufsichtsrat in der Sitzung im Juni damit befasst. Es lag sehr nahe, dass die Vertragsverlängerung des Vorstandsvorsitzenden, der für diese Neuaufstellung verantwortlich zeichnet, dann ebenfalls zur Abstimmung gestellt wurde. An dem eigentlichen Konflikt hätte sich bis September aus meiner Sicht ohnehin nichts geändert. Es gibt offenkundig sehr unterschiedliche Sichtweisen darüber, was Herr López in den gut zwei Jahren, in denen er diese Funktion ausübt, geleistet hat. Herr Kerner behauptet, Herr López habe „noch nicht geliefert“. Die Anteilseignerseite sieht das fundamental anders. Zum Beispiel liegt die Tatsache, dass es in der Stahlsparte immer noch keinen finalen Beschluss über die Restrukturierung gibt, nun wirklich nicht an Herrn López. Der Plan des Stahlvorstands liegt den Arbeitnehmervertretern seit vergangenem Herbst vor.

Herr López gilt als Anpacker, der Managementfehler von früher ausbügeln soll. Welche Schuld sehen Sie im Aufsichtsrat? Sind nicht zu lange die falschen Manager in den falschen Positionen gewesen?

Ich bin der Letzte, der behauptet, der Aufsichtsrat oder ich hätten in der Vergangenheit nie Fehler gemacht. Wichtig ist, dass wir jetzt richtig handeln. Der deutliche Unterschied der vergangenen zwei Jahre zu früheren Zeiten liegt in der Umsetzung. Ob das Zukunftsmodell, das Herr López empfiehlt, der „Group of Companies“ ähnlich ist oder grundsätzlich anders, ist weniger erheblich. Wichtig ist, dass wir jetzt die entscheidenden Schritte des Vorstands bei der Umsetzung sehen. Es ist auch keine Hinterzimmergeschichte. Das Thema wird mit den Mitarbeitervertretungen intensiv besprochen, und es wird klar kommuniziert.

Und die widersprechen ziemlich laut . . .

Es gefällt natürlich nicht jedem, dass jetzt deutlich ausgesprochen wird: Die Performance der Einheiten ist heute nicht wettbewerbsfähig. Aber wir können dagegen etwas tun! Um beim Beispiel Stahl zu bleiben: Der Vorstandsvorsitzende zeigt auf, wie der Stahl unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zukunftsfähig werden kann. Herr Kerner dagegen bestreitet das. In einem kürzlich veröffentlichten Autorenbeitrag schreibt er wörtlich: „Den Weg nach vorne zu gestalten unter der zentralen Annahme, dass ein restrukturierter Stahl eigenständig diese Herausforderungen bewältigen kann, ist schlichtweg realitätsfern und falsch.“ Damit erklärt er öffentlich, der Stahl sei eigenständig nicht überlebensfähig. Dagegen hat Herr López einen Plan für den Stahl. Der Verteidiger des Stahls heißt López.

Auch die Gewerkschaft sagt: „Stahl ist Zukunft.“ Aber was wäre Ihrer Meinung nach die Konsequenz aus Herrn Kerners Argumentation?

Die Konsequenz wäre, dass wir nicht länger in ein aussichtsloses Geschäft investieren dürften. Im Übrigen dürfte der Aufsichtsrat Investitionen, für die es keinen Rückfluss gibt, auch gar nicht genehmigen. Wir sehen das fundamental anders als Herr Kerner und sehen eine Chance für den Stahl. Deswegen wird investiert. Wenn Sie sich die jüngsten Jahresberichte von Thyssenkrupp unter diesem Aspekt ansehen, werden Sie bemerken: Der Konzern investiert jedes Jahr dreistellige Millionenbeträge in den Stahl. Übrigens auch in die Direktreduktionsanlage zur Herstellung von grünem Stahl. Wir sind sehr dankbar für die Subventionen, aber wir investieren auch deutlich über eine Milliarde Euro aus Eigenmitteln.

Für die Direktreduktionsanlage (DRI-Anlage) haben der Bund und das Land Nordrhein-Westfalen rund zwei Milliarden Euro Fördergeld zugesagt. Ihr Konkurrent Arcelor Mittal hat gerade Fördermittel für gleich mehrere Grünstahlprojekte zurückgegeben, weil er derzeit kein Geschäftsmodell in der Produktion von klimafreundlich hergestelltem Stahl in Deutschland sieht. Thyssenkrupp hat mehrfach betont, seine geplante Grünstahlanlage zu Ende zu bauen. Aus welchem Grund?

Spätestens ab Mitte der 2030er Jahre ist die Hochofenroute unter den gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht mehr aufrechtzuerhalten, denn der CO2-Ausstoß ist extrem hoch. Daher gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir verzichten gänzlich auf die Roheisenproduktion und machen aus dem Hüttenwerk de facto ein Walzwerk. Oder wir finden Wege, wie wir klimaneutral Roheisen und Stahl in gewissen Mengen weiter produzieren können. Das ist aus heutiger Sicht nur über eine Direktreduktionsanlage, wie sie in Duisburg geplant ist, möglich. Beruhigend finde ich dabei, dass diese Anlage, die eigentlich mit grünem Wasserstoff laufen soll, technisch gesehen auch mit Erdgas funktionieren wird. Schon der Einsatz von Erdgas reduziert den CO2-Ausstoß drastisch, nämlich um die Hälfte, bei grünem Wasserstoff wird er völlig vermieden.

Mehr als eine halbe Milliarde Euro an Subventionen ist schon geflossen. Der Rest ist großteils davon abhängig, dass die Anlage mit grünem Wasserstoff betrieben wird, nicht mit Erdgas. Ein Dilemma, oder?

Das ist politisch noch zu klären. Der Plan sieht vor, zunächst mit Erdgas zu starten und später auf Wasserstoff umzustellen, sobald dieser in den erforderlichen Mengen und zu vertretbaren Kosten verfügbar ist. Wir vertrauen diesbezüglich auf die Einsicht der Politik. Dieses Zugeständnis benötigen wir aus Düsseldorf, Berlin und Brüssel. Wenn es nicht so kommen würde – ich spreche hier im größtmöglichen Konjunktiv –, dann wären wir in einer sehr schwierigen Situation. Arcelor Mittal hat sich in Deutschland offensichtlich anders entschieden. Für eine solche Entscheidung sehen wir heute bei uns keinen Anlass und wollen sie auch in Zukunft vermeiden.

Gibt es für den Bau der Direktreduktionsanlage das Motto „Whatever it takes“? Je länger es dauert, umso teurer wird es auch. Und zumindest die Förderung ist gedeckelt. Wird die Anlage auf jeden Fall zu Ende gebaut?

Was heißt „auf jeden Fall“? Es gibt ein stringentes Projektmanagement, um die Mehrkosten bei der Errichtung in Grenzen zu halten. Natürlich handelt es sich um ein neuartiges Großprojekt, das zu Beginn in der Größenordnung von drei Milliarden Euro beziffert wurde. Dass der Bau am Ende etwas mehr kosten wird als veranschlagt, war ja beinahe erwartbar.

Wie viel mehr ist tolerierbar?

Die Grünstahlanlage darf kein zweites Stuttgart 21 werden. Irgendwo ist eine Grenze dessen, was der Konzern stemmen kann, erreicht. Derzeit befinden wir uns jedoch in einem vertretbaren Korridor.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass es aus Berlin und Brüssel grünes Licht gibt für den anfänglichen Erdgasbetrieb?

Ich habe da, ehrlich gesagt, wenig Zweifel. Unsere Bundeswirtschaftsministerin kommt schließlich aus der Energiebranche und kennt die Voraussetzungen sehr gut. Die Forderung, bereits 2027 in der DRI-Anlage Stahl mit grünem Wasserstoff zu produzieren, der zudem den EU-Vorgaben genügt, ist nicht realistisch. So viel grüner Wasserstoff wird bis dahin nicht einmal annähernd verfügbar sein. Außerdem möchte ich mir das politische Erdbeben nicht vorstellen, wenn bei Thyssenkrupp Ähnliches passieren würde wie bei Arcelor Mittal. Schließlich sind wir der größte Stahlproduzent in Deutschland und haben sehr große regionale Bedeutung im Ruhrgebiet.

Sie haben die Alternative zur Grünstahlproduktion in der Direktreduktionsanlage angedeutet. Man könnte in der Wertschöpfungskette beim Stahl später ansetzen, also ein besseres Walzwerk werden und Brammen oder Eisenpellets aus dem Ausland importieren. Warum machen Sie das nicht?

Aus Gründen der Resilienz wäre das allein keine Lösung. Ich halte es für sinnvoll und wichtig, dass wir in Deutschland in einem gewissen Umfang Stahl selbst produzieren können. So behalten wir die Prozesskompetenz und die strategische Souveränität. Das hat jedoch im wahrsten Sinne des Wortes seinen Preis. Der Stahl aus der Duisburger Direktreduktionsanlage wird teurer sein als der heutige Hochofenstahl – und auch teurer als grüner Stahl aus anderen Regionen der Welt. Es ist daher eine politische Frage. Wollen wir das? Rein marktwirtschaftlich ist grüner Stahl aus Deutschland auf absehbare Zeit nicht wettbewerbsfähig. Trotzdem sollten wir auch in Deutschland in einem gewissen Umfang Stahl produzieren. Seinen Anteil an dieser Aufgabe will Thyssenkrupp Steel übernehmen. Wir sind hinsichtlich der DRI-Anlage sehr dankbar für die zwei Milliarden Euro an Investitionsunterstützung von Bund und Land. Aber die brauchen wir auch.

Wie viel Stahl sollten wir hierzulande in fünf oder zehn Jahren noch herstellen?

Für Thyssenkrupp nehme ich auf das Stahlkonzept vom vergangenen November Bezug. Die einfache Rechnung mit gerundeten Zahlen lautet: Unsere Kapazität liegt heute bei knapp 12 Millionen Jahrestonnen. Wir verkaufen aber seit Jahren nicht mehr als neun Millionen Tonnen. Also müssen wir der Realität ins Auge schauen und ein Viertel der Kapazität stilllegen. Von den verbleibenden neun Millionen Tonnen werden in Zukunft knapp 30 Prozent von der Direktreduktionsanlage mit einer Kapazität von rund 2,5 Millionen Tonnen abgedeckt werden. Welche Menge für die strategische Souveränität in Deutschland die richtige ist, muss letztendlich die Politik entscheiden. Wichtig ist, dass wir diese Technologie in Deutschland industriell beherrschen. Wir bauen in Duisburg eine solche Großanlage.

Grünstahlproduktion ist mit einem immens hohen Stromverbrauch verbunden. Wie sehen Sie in dem Zusammenhang die EU-Pläne zum Industriestrompreis?

Die Pläne dafür, dass eine europäische Industrie zu halbwegs weltmarktfähigen Energiekosten arbeiten können muss, sind grundsätzlich gut und dringend notwendig. Für Thyssenkrupp hat die Umstellung auf grünen Stahl aber enorme Auswirkungen über den Strompreis hinaus. Das Problem, wo die enormen Mengen an wettbewerbsfähigem grünem Strom herkommen sollen, die für den Betrieb der DRI-Anlage und alle nachfolgenden Prozesse benötigt werden, ist noch nicht gelöst. Denn durch das Abschalten der bisherigen Hochofenroute werden wir keinen eigenen Strom mehr aus unseren Hochofengasen erzeugen, sondern müssen ihn zukünftig einkaufen. Diese Frage ist nach wie vor offen. Auf dem Gelände in Duisburg stehen zwei Gaskraftwerke, die sich aus diesen Hochofengasen speisen und für uns Strom produzieren. Die Abwärme aus den Kraftwerken versorgt nebenbei große Teile von Duisburg mit Fernwärme. Es handelt sich um ein ausgeklügeltes System, dessen Umstellung nicht trivial ist.

Das hört sich an wie beim Verbrennungsmotor. Da hatte Deutschland auch lange die Ingenieurskompetenz bis zur letzten Schraube – und muss jetzt schauen, wie man sich auf neue Gegebenheiten einstellt.

Das ist in der Tat vergleichbar mit der Umstellung vom Verbrenner- auf den Elektromotor im Auto. Verbrenner haben im Winter kein Problem mit der Heizung des Fahrzeugs, da im Kühler heißes Wasser entsteht, das genutzt wird, um die Heizung zu betreiben. Im Elektroauto muss die Batterie zusätzlich Energie liefern, damit es im Wagen nicht kalt wird. Ähnlich ist es im Stahlwerk, allerdings im ganz großen Stil.

Für den Stahl haben Sie sich den Investor Daniel Křetínský als Partner geholt, übrigens auch per Doppelstimme. Langfristig soll er 50 Prozent an der Stahlsparte halten, momentan hält er ein Fünftel. Wie laufen Ihre Gespräche?

Künftig werden die Energiekosten die Hälfte der Kosten in der Stahlproduktion ausmachen. Daher ist es sinnvoll, die Zukunft zusammen mit einem Energieversorgungsunternehmen zu gestalten. EPG von Daniel Křetínský ist das zweitgrößte Unternehmen in diesem Bereich in Europa. Ich kann gut verstehen, dass er derzeit abwartet und darum bittet, vorab ein paar Dinge zu klären, bevor er sich für eine Aufstockung der Anteile auf 50 Prozent entscheidet.

Was ist wahrscheinlicher: die Aufstockung seiner Beteiligung – oder dass er wieder rausgeht?

Ich freue mich, dass er nach wie vor dabei ist. Die Verzögerung wichtiger Entscheidungen im Stahlgeschäft liegt nicht an ihm, sondern unter anderem an den offenen Fragen zur Restrukturierung in den dafür notwendigen Verhandlungen bei Thyssenkrupp Steel.

Ob als Siemens-Vorstand oder BDI-Präsident, Sie haben tiefe Einblicke in die deutsche Wirtschaft gehabt. Bei Thyssenkrupp sind Sie seit 2019 Aufsichtsratschef – aber wundern Sie sich trotzdem manchmal, welche Aufregung dieses Unternehmen aus Essen erzeugen kann?

Aus rein rationaler Sicht ist der Weg für Thyssenkrupp nach vorne gradlinig, zum Beispiel der Grundsatz, dass jedes Geschäft eigenständig sein Geld verdienen muss. Aufgrund seiner langen Geschichte im Ruhrgebiet und seiner Bedeutung sind das Unternehmen und sein Umfeld jedoch sehr emotionsgeladen.

Wie begegnen Sie dieser Emotionalität?

Anfang Februar 2020 durfte ich meine erste Hauptversammlung bei Thyssenkrupp leiten. Ein Aktionär hat mich damals gefragt, welches Ziel ich für den Konzern habe. Meine Antwort gilt bis heute: „Ich möchte dazu beitragen, dass Thyssenkrupp ein ganz normales Unternehmen wird.“ Dazu gehört eine ordentliche Kapitalverzinsung. Wir mussten die Aufzugsparte für einen deutlich zweistelligen Milliardenbetrag verkaufen. Die Aktionäre haben davon keinen Cent gesehen. Das ist nicht üblich. Die Ausgliederung unserer Marinesparte werden wir anders gestalten. Die Aktionäre erhalten TKMS-Aktien in ihre Depots. Das heißt: Wenn wir TKMS noch in diesem Geschäftsjahr an die Börse bringen, dann gehört das Unternehmen nach wie vor denselben Aktionären wie vorher. Und auch das weitere Zukunftskonzept, das der Vorstand verfolgt, ist so schlüssig, wie es nur sein kann.