Victor Muller Ferreira stand kurz vor seinem ersten Durchbruch, als sein Kartenhaus zusammenfiel. Der Brasilianer mit einem Abschluss von der Johns-Hopkins-Universität im amerikanischen Baltimore hatte eine Praktikumsstelle beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag erhalten. Doch als Ferreira im April 2022 in Amsterdam ankam, verweigerten die niederländischen Behörden ihm die Einreise und schickten ihn nach Brasilien zurück. Zur selben Zeit erhielt die brasilianische Bundespolizei eine Warnung vom amerikanischen Geheimdienst CIA, dass es sich bei Ferreira nicht um einen Brasilianer, sondern um einen russischen Geheimagenten namens Sergej Tscherkassow handle. Den brasilianischen Behörden blieb keine Zeit, um den Spion am Flughafen abzufangen. Stattdessen überwachten sie ihn nach seiner Rückkehr. Als der Haftbefehl vorlag, nahmen sie Tscherkassow wegen des Vorwurfs der Dokumentenfälschung fest.
Tscherkassow beharrte darauf, Brasilianer zu sein. Seine Dokumente ließen zunächst keinen anderen Schluss zu. Der Mann hatte einen Pass, einen Wählerausweis und sogar eine Bescheinigung über den geleisteten Militärdienst. Und er sprach fließend Portugiesisch. Nichts deutete auf seine russische Herkunft hin.
Auf der Suche nach „Geistern“
Dann überprüften die Ermittler die Geburtsurkunde. Früher war es üblich, dass Geburtsurkunden von verstorbenen Kindern zu Betrugszwecken verwendet wurden. Doch ein „Victor Muller Ferreira“ hatte nie existiert. Seine Geburtsurkunde war allerdings echt. Ihr zufolge war er 1989 in Rio de Janeiro geboren und hatte eine Mutter, die vier Jahre nach seiner Geburt verstorben war. Erst als die Polizei die Familie der vermeintlichen Mutter aufsuchte, erfuhr sie, dass diese nie ein Kind hatte. Tscherkassow war überführt.
Es war der Startschuss einer mehrjährigen Operation der brasilianischen Bundespolizei, die nach ähnlichen „Geistern“ zu suchen begann, also nach Leuten mit Geburtsurkunden, die plötzlich als Erwachsene auftauchen, ohne zuvor Spuren hinterlassen zu haben. Millionen Urkunden und Dokumenten wurden durchforscht. Dabei wurden mindestens neun mutmaßliche russische Agenten enttarnt.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Die Ermittler stießen auch auf Hinweise, dass ihre Geburtsurkunden teilweise schon vor Jahrzehnten in die brasilianischen Datenbanken eingespeist worden sein mussten.
Bei den enttarnten Spionen handelte es sich um ganz besondere Geheimdienstmitarbeiter, um sogenannte „Illegale“. Diese „Schläferagenten“, von denen es weltweit weniger als hundert geben soll, leben oft jahrelang unter falscher Identität im Ausland. Dort führen sie ein unauffälliges Leben, studieren oder haben einen Beruf, Beziehungen und in einigen Fällen sogar eine Familie. Es handelt sich um Topagenten des Auslandgeheimdienstes SWR und des militärischen Geheimdienstes GRU, die eine jahrelange Ausbildung hinter sich haben. Während dieser Zeit perfektionieren die Agenten die Sprache der jeweiligen Länder und konstruieren eine „Legende“, eine erfundene Lebensgeschichte, eine Fassade.
Immer viel Geld zur Verfügung
Ihre Mission besteht darin, eine neue Identität anzunehmen und diese anschließend als Tarnung für ihre Spionageaktivität in anderen Ländern zu nutzen. Anders als im Westen, wo Agenten für bestimmte Missionen oder Dienstreisen falsche Identitäten annehmen können, erhalten die russischen „Illegalen“ ihre Tarnungen oft jahrzehntelang aufrecht.
Einer dieser russischen Agenten in Brasilien war Artjom Schmyrjow – oder Gerhard Daniel Campos Wittich, wie man ihn in Rio de Janeiro kannte. Er hatte ein gut laufendes Geschäft, das sich auf 3-D-Druck spezialisiert hatte. Er hatte eine Freundin, mit der er sich eine Wohnung im Stadtteil Botafogo teilte, einen Hund und einen überschaubaren Freundeskreis. Er sprach perfekt Portugiesisch mit einem leichten Akzent, den er mit seiner Kindheit in Österreich erklärte. Er arbeitete viel, hatte beruflich Erfolg, reiste hin und wieder ins Ausland.
Niemand ahnte auch nur im Geringsten, dass ihr Freund Daniel ein russischer Topagent sein könnte. Erst im Nachhinein ergaben kleine Details Sinn: dass er nicht gerne fotografiert wurde, seinen Computer nicht mit dem Internet verbunden ließ, wenn er ihn nicht brauchte, oder scheinbar mehr Geld zur Verfügung hatte, als er einnahm.
Nicht enden wollendes Warten auf den Einsatz
Was im Agenten hinter der Maske vorging, geht aus Archiven eines sichergestellten Telefons hervor. Schmyrjow hatte eine Frau, ebenfalls eine „Illegale“, die sich als Mexikanerin ausgab und in Griechenland stationiert war. Ihr erzählt er von seiner Ungeduld, seiner Frustration über das nicht enden wollende Warten in Brasilien auf seinen Einsatz. Er komme nicht voran, schrieb er ihr, er sei nicht dort, wo er eigentlich schon seit zwei Jahren sein sollte. Sie antwortete ihm, dass er sich falsch entschieden habe, wenn er ein normales Familienleben gewollt hätte, und dass die Versprechungen nicht immer eingehalten würden.
Seine eigentliche Mission hat Schmyrjow vermutlich nie angetreten. Er war einer der ersten Agenten nach Tscherkassow, die von den brasilianischen Ermittlern enttarnt wurden. Ob er es selbst geahnt oder einen Befehl zum Abzug erhalten hatte, ist unklar. Kurz bevor die Bundespolizei den Agenten enttarnte, hatte dieser das Land verlassen.

Einem Freund hatte er beim Mittagessen von einer einmonatigen Reise nach Malaysia erzählt. Er blieb noch eine Weile mit seinem Umfeld in Rio in Kontakt. Dann kamen keine Antworten mehr, und es verlor sich seine Spur. Das letzte Lebenszeichen war eine Nachricht an seine Freundin in Rio, in der er ihr schrieb, dass sie bald viele Dinge über ihn hören werde, und beteuerte, nie etwas Schlimmes getan zu haben.
Auch andere enttarnte Agenten gingen der brasilianischen Polizei durchs Netz. Die Behörden haben jedoch alle Informationen mit anderen Geheimdiensten und auch mit Interpol geteilt, wodurch die russischen Spione nun weltweit zur Fahndung ausgeschrieben und dadurch teilweise neutralisiert sind. Doch wie viele sind noch im Land?
Die Ermittler gehen davon aus, dass Brasilien vermutlich über einen längeren Zeitraum eines der wichtigsten Sprungbretter für russische Geheimagenten war. Es gibt sogar Hinweise auf eine Planung, die bis in die Zeit der Sowjetunion zurückreicht. Mehrere der Geburtsurkunden der Agenten stammen nachweislich aus den späten Achtzigerjahren.
Ideale „Nistplätze“ für russische Agenten
Das hat die Ermittler auf die etwas abenteuerliche These gebracht, dass die Dokumente in den letzten Jahren der Sowjetunion von KGB-Agenten angefertigt und in die brasilianischen Datenbanken eingepflegt worden sein könnten – in der Hoffnung, dass sie für eine künftige Generation von Spionen irgendwann von Nutzen sein könnten.
Auch ohne hinterlegte Geburtsurkunden aus den Achtzigern scheinen sich Brasilien und andere Länder Lateinamerikas zu idealen „Nistplätzen“ für die russischen Agenten entwickelt zu haben. Lange hatte Kanada diese Rolle, weil der kanadische Pass relativ einfach mit einer falschen Identität zu erschleichen war und viele Türen öffnete. Die große Zahl von in den vergangenen Jahren enttarnten russischen Spionen mit lateinamerikanischen Pässen deutet laut Fachleuten darauf hin, dass nun Länder wie Brasilien, Mexiko oder Argentinien diese Rolle einnehmen.

Da in einigen Ländern die Geburtsdatenbanken nicht mit den Datenbanken verstorbener Menschen verknüpft sind, lassen sich meist unbemerkt Identitäten verstorbener Personen übernehmen. Außerdem ist Korruption in diesen Ländern verbreitet. Tscherkassow soll sich beispielsweise einige offizielle Bescheinigungen mit einer Halskette im Wert von 400 Dollar von einem lokalen Beamten gekauft haben. Fachleute weisen auch darauf hin, dass die Spionageabwehr in den meisten Ländern Lateinamerikas schwach ist.
Länder wie Brasilien oder Mexiko sind zudem Russland gegenüber neutral, selbst in Bezug auf den Angriff auf die Ukraine. Russische Propaganda, verbreitet von Kanälen wie Russia Today oder Sputnik, hat in Lateinamerika überdies ein empfängliches Publikum.
Gerade Mexiko war schon im Kalten Krieg einer der Hotspots für den sowjetischen Geheimdienst KGB. Die russische Botschaft in Mexiko-Stadt zählt auch heute noch zu den größten weltweit. Obwohl Russland nicht einmal unter den 15 wichtigsten Handelspartnern Mexikos rangiert, ist die dortige russische Botschaft personell weitaus besser besetzt als die amerikanische. Die Vermutung liegt nahe, dass sich darunter auch zahlreiche Geheimdienstmitarbeiter befinden. Vor drei Jahren sagte der damalige Kommandeur des US-Nordkommandos, General Glen VanHerck, dass Russlands militärischer Geheimdienst GRU nirgends mehr Mitarbeiter stationiert habe als in Mexiko.
Die eigentliche Aufgabe begann in Europa
Als halbe Mexikanerin gab sich auch Anna Dulzewa aus, als sie unter dem Namen María Rosa Mayer Muñoz 2009 in Argentinien ankam und mit ihren gefälschten Papieren den argentinischen Pass beantragte. In Buenos Aires traf sie Ludwig Gisch, der eigentlich Artjom Dulzew hieß und ihr Mann war. Auch er war ein Agent des SWR. Gemeinsam richteten sie sich in Buenos Aires ein, sie führten ein unauffälliges Leben. Er war IT-Unternehmer, sie Kunsthändlerin. 2015 heirateten sie ein weiteres Mal in Argentinien, da hatten sie schon zwei Kinder. 2017 war ihre Tarnung gut genug, um nach Europa entsandt zu werden. Nach einigen isolierten Reisen zogen sie in die slowenische Hauptstadt Ljubljana, wo ihre eigentliche Aufgabe begann.
Von Slowenien aus bereisten die beiden Agenten Europa. Auch in Deutschland sollen sie mehrere Male gewesen sein, zum Beispiel auf einer IT-Messe in Baden-Württemberg. 2018 reiste die Familie gemeinsam nach Russland. Möglich war das nur unter dem Deckmantel der Fußball-WM, die damals in Russland ausgetragen wurde. Ein Spiel „ihrer“ argentinischen Nationalmannschaft brachte die Dulzews gar nach Nischni Nowgorod, woher Anna Dulzewas Familie stammt.
Später erzählten die beiden in einem Interview, dass es nicht einfach gewesen sei, als Argentinier ihre Heimat zu besuchen. Zudem seien die Kinder traurig gewesen, da Argentinien das Spiel gegen Kroatien mit 3:0 verloren hatte.
Ewig sollte das Glück jedoch nicht währen. Im Dezember 2022 flogen die Dulzews auf und wurden festgenommen. Die beiden noch minderjährigen Kinder kamen zunächst in staatliche Obhut. Es heißt, dass der entscheidende Hinweis an den slowenischen Geheimdienst von den britischen Kollegen kam. Die argentinischen Behörden tappten indes weiter im Dunkeln. Erst als die vermeintlichen Landsleute den angebotenen konsularischen Beistand wiederholt ablehnten und die slowenischen Ermittler in der Wohnung der Familie große Mengen Bargeld sicherstellten, schöpften auch die Argentinier Verdacht.
Doch die Dulzews blieben in der mehr als anderthalb Jahre dauernden Haft standhaft, bis sich ein Ausweg öffnete: Die beiden wurden im August des vergangenen Jahres in den größten Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen seit dem Ende des Kalten Krieges einbezogen. Kurz zuvor hatten sie ein Geständnis abgelegt.
Als die Dulzews mit ihren Kindern in Moskau das Flugzeug verließen, wartete am Ende der Treppe Wladimir Putin. Der russische Präsident überreichte der Frau und der Tochter je einen Blumenstrauß und umarmte sie. Zu den Kindern sagte er „buenas noches“. Das war das Einzige, was die beiden verstanden. Denn bis zu ihrer Reise nach Moskau hatten sie noch geglaubt, ihre Eltern seien Argentinier. Sie sprachen weder Russisch, noch wussten sie, wer sie gerade begrüßt hatte. So gut war die Tarnung, in der sie aufgewachsen waren.