Wie die Briten kriegstüchtig werden wollen

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Mehr als drei Jahre nachdem der deutsche Begriff „Zeitenwende“ Eingang in den britischen Wortschatz gefunden hat, erleben die Briten jetzt einen ähnlichen Moment. Damals, nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, war der britische Premierminister Boris Johnson den Angegriffenen noch rascher und entschiedener beigesprungen als der deutsche Kanzler Olaf Scholz; die sicherheitspolitischen Konsequenzen der russischen Aggression aber rückten auf den Britischen Inseln erst allmählich ins Bewusstsein.

Nun aber dokumentieren mehrere staatliche Analysen und die neue NATO-Verpflichtung, die Verteidigungsausgaben auf dreieinhalb oder gar fünf Prozent der Wirtschaftsleistung zu steigern, auch im Vereinigten Königreich die dramatische Wende der Sicherheitslage.

Der Gegner schafft schon Grundlagen

Die aktuelle strategische Lagebeurteilung, die von der Regierung in der abgelaufenen Woche veröffentlicht worden ist, hält „erstmals seit vielen Jahren“ direkte Angriffe eines anderen Staates auf britisches Staatsgebiet für eine wachsende Bedrohung; die offizielle Sicherheitsanalyse hält fest, gegnerische Staaten – das zielt vor allem auf Russland – „schaffen schon Grundlagen für künftige Auseinandersetzungen“, indem sie sich in die Lage versetzten, wichtige Energie- und Versorgungsstränge Großbritanniens zu unterbrechen, „um uns davon abzuhalten, gegen ihre Aggression anzugehen“. In den vergangenen Monaten gab es unter anderem häufig Meldungen über Aktivitäten russischer Spionageschiffe vor den britischen Küsten.

Das Verteidigungs-Weißbuch, das Premierminister Keir Starmer Anfang Juni präsentierte, empfiehlt die Aufrüstung aller Teilstreitkräfte. Die Royal Navy soll zusätzliche Fregatten und U-Boote bekommen, die Royal Air Force ein neues Geschwader mit zwölf amerikanischen F-35-Kampfjets, die (amerikanische) taktische Atombomben ins Ziel tragen können. Damit erweitern die britischen Streitkräfte ihr nukleares Abschreckungsarsenal, das seit 25 Jahren allein aus den Atom-U-Booten der Vanguard-Klasse und ihren Trident-Interkontinentalraketen bestand. Premierminister Keir Starmer begründete diese Rückkehr in die nukleare Teilhabe mit den Amerikanern mit der Feststellung, es gebe „eine wachsende nukleare Bedrohung“.

Bemannte Systeme liefern nur noch 20 Prozent der Wirkung

Die tiefgreifendsten Änderungen stehen dem britischen Heer bevor. Dessen Generalstabschef Roly Walker legte auf der internationalen Konferenz für Landstreitkräfte in London kürzlich dar, wie dessen Kampfkraft in den kommenden Jahren vervielfacht werden soll. Das jährliche Londoner Strategietreffen, das an den früheren Charakter der Münchener Sicherheitskonferenz erinnert und vom wichtigsten britischen militärischen Strategie-Institut RUSI organisiert wird, befasste sich vor allem mit der Frage, in welchem Ausmaß Drohnen künftig das Kampfgeschehen bestimmen werden.

Walker zeichnete das Bild einer Armee, in der bemannte Systeme, also gepanzerte Fahrzeuge oder Kampfhubschrauber, zwar weiterhin den Kern der Streitmacht bilden, aber selbst nur noch 20 Prozent der tödlichen Wirkung liefern. 40 Prozent der Kampfkraft soll von automatischen unbemannten Systemen gestellt werden, die eine höhere Reichweite mit dem höheren Risiko in Kauf nehmen, selbst vernichtet zu werden; weitere 40 Prozent sollen von „Einwegsystemen“ stammen, die gleichfalls automatisch programmiert oder ferngesteuert würden.

Walker machte eine Rechnung auf: Man könne beispielsweise die Kampfkraft verdoppeln, wenn man vier statt zwei Kampfhubschrauber zum Einsatz bringe, die dann auf 16 Kilometer Reichweite die zweifache Menge an Gegnern töteten. Man könne aber mit dem gleichen finanziellen Einsatz, der zwei Hubschraubern entspreche, abnutzbare Transportdrohnen und Einwegflugkörper beschaffen, die dann aus 50 Kilometer Entfernung eine zehnfache tödliche Wirkung entfalten könnten. Das sei „nachhaltiger und kosteneffektiver“.

Viele Erfahrungen von den Schlachtfeldern der Ukraine

Mit der Entwicklung solcher automatisierten Systeme hat die britische Armee begonnen, das Projekt mit dem Namen Asgard soll zunächst bei dem in Estland stationierten Kampfbataillon eingeführt, getestet und weiterentwickelt werden. Der Generalstabschef stellt in Aussicht, Asgard werde die britische Einheit an der NATO-Ostflanke von einem „strategischen Stolperdraht“ in eine Macht verwandeln, „die eine Invasion stoppen kann“.

Und Walker deutete an, dass in die Entwicklung dieser Technologie viele Erfahrungen und Erkenntnisse einfließen, die von den aktuellen Schlachtfeldern in der Ukraine stammen. Er malte selbst ein Schlachtbild: „Wenn russische Soldaten irgendwann in ihre Kasernen am östlichen Ufer der Narva zurückkehren, dann werden sie dort dieselben tödlichen Aufklärungs- und Kampfsysteme vorfinden, die im Donbass solch ein Gemetzel unter ihnen verursacht haben.“

Der Wandel hin zu einer umfassenden Kriegstüchtigkeit, der sich selbst in der Wortwahl des Armeechefs manifestiert, hat sogar die anglikanische Kirche erfasst. Der Militärbischof der Church of England, Hugh Nelson, sagte der Zeitung „Times“, er registriere in den Streitkräften die wachsende Sorge vor der Bedrohung „durch einen sehr, sehr ernsten Konflikt, der auch das Vereinigte Königreich betreffen könne“. Und während die Kirche alles tun müsse, um für Frieden zu beten und darauf hinzuwirken, müsse sie sich doch auch vorbereiten auf die Frage „wie wir reagieren, wenn es zum Krieg kommt“.

Die Kirche werde zwar nicht in einen formellen „Kriegsmodus“ versetzt werden, doch „wollen wir auch nicht in eine Lage kommen, wie wir das – als Kirche und als Gesellschaft insgesamt – zu Beginn der Covid-Pandemie waren, die von Fachleuten zuvor immer prophezeit worden war und für die keiner von uns irgendwelche Vorkehrungen getroffen hat“.