Nicht nur Rüstungsvertreter im Schlepptau

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In dem Wohnblock klafft ein Loch. Acht Stockwerke, verkohlte Fassaden am Rand und geblümte Tapeten in aufgerissenen Ruinen sind zu sehen, die einst Wohnzimmer waren. Sofas, Reste von Schrankwänden und Bücherregalen. Vor knapp zwei Wochen ist eine ballistische Rakete der Russen am frühen Morgen in dem Wohnblock in ­Kiew eingeschlagen, 23 Menschen wurden getötet, mehr als 100 verletzt. Die Druckwelle hat im ganzen Hof Fenster aus den Rahmen und Türen aus den Angeln gedrückt, die Klettergerüste auf dem Spielplatz sind verbogen. Der deutsche Außenminister ist offensichtlich beeindruckt von dem Anblick.

Auch die Wohnung von Natalia, einer Mitarbeiterin der deutschen Botschaft, hat die Druckwelle heftig getroffen, an diesem Montagvormittag kann sie Johann Wadephul davon erzählen. Sie war mit ihrer Tochter in einen Schutzraum geflüchtet, selbst dort haben die Wände gewackelt. Wadephul sagt, hier zeige sich, dass der russische Machthaber Putin versuche, den Durchhaltewillen der Ukrainer zu brechen. Putin ziele darauf ab, „dass wir alle müde werden, frustriert werden, das dürfen wir uns nicht erlauben“. Zusammen mit dem ukrainischen Außenminister Andrij Sybiha legt er rote Rosen nieder vor dem Loch, ein Teddybär sitzt da schon.

Am Montagmorgen ist Wadephul zu seinem Antrittsbesuch in der ukrainischen Hauptstadt eingetroffen, in seinen knapp acht Wochen im Amt ist es sein zweiter Besuch in dem angegriffenen Land. Dabei will der Außenminister in Gesprächen mit Sybiha und Präsident Wolodymyr Selenskyj ein besseres Gefühl für die Wünsche der ukrainischen Führung bekommen und versuchen, den Fokus nach der Kon­zen­tra­tion in den vergangenen Wochen auf den Nahen Osten wieder auf den Abwehrkrieg der Ukraine zu lenken. „Putin nutzt diese Situation aus“, sagt Wadephul. „Diese Auseinandersetzung und die Lösung dieses Konflikts ist die zentrale Aufgabe der deutschen und der europäischen Außenpolitik.“ Er sagt: „Hier gewinnen wir miteinander oder hier verlieren wir miteinander.“

500 Geschosse in einer Nacht

Was Wadephul meint, wenn er vom Ausnutzen spricht, hatte sich gerade am Wochenende wieder gezeigt. Mehr als 500 Drohnen, Raketen und Marschflugkörper habe Russland in der Nacht auf die Ukraine abgefeuert, teilten die Luftstreitkräfte mit. In ukrainischen Medien hieß es, dies sei die höchste Zahl seit Kriegsbeginn. In den vergangenen Wochen hatten die Angriffe auf Ziele in der ganzen Ukraine massiv zugenommen, in Kiew verbringen Menschen wieder viele Nachtstunden in Schutzräumen oder U-Bahn-Stationen. Sybiha erzählt bei einer Pressekonferenz, in der ersten Hälfte des Jahres habe es im Land nur zwei Tage ganz ohne Luftangriffe gegeben.

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Gleich nach Ankunft mit dem Nachtzug besucht Wadephul eine Stellung eines deutschen Iris-T-Systems zur Luftverteidigung der Hauptstadt. Deutschland hat bis Mitte Mai insgesamt zehn solcher Systeme an die Ukraine geliefert sowie drei Patriot-Systeme. Seitdem wird die Liste der Lieferungen nicht mehr aktualisiert, strategische Ambiguität nennt die Bundesregierung das. Man will weniger ausrechenbar sein für Moskau. Wadephul verweist aber in Kiew auf einen Brief, den er gemeinsam mit Verteidigungsminister Boris Pistorius an die Partner geschickt hat mit der Bitte, in den eigenen Beständen zu prüfen, ob man nicht etwas abgeben könne – das hatte seine Vorgängerin im Amt schon getan. Auch wird geprüft, ob man nicht in Amerika Patriot-Systeme für die Ukraine kaufen kann. Ihm sei, sagt Wadephul, bei dem Besuch noch einmal sehr deutlich geworden, wie dringlich das Thema sei. Es gebe in diesem Sommer Handlungsbedarf.

Sybiha bedankt sich für die deutsche Hilfe und begrüßt, dass die Unterstützung für sein Land künftig auch von der Schuldenbremse ausgenommen ist. Er erwähnt freilich nicht, dass im Jahr 2025 dafür zwar gut 8,5 Milliarden Euro eingeplant sind, diese Summe im Gegensatz zum Verteidigungshaushalt laut den Plänen aber erst mal nicht weiter steigen soll.

Lastwagen und Rüstungsvertreter

Etwas hat Wadephul aber schon dabei für die Ukraine. Unter der „Mutter Ukraine“-Statue übergibt er feierlich zehn von insgesamt 65 zugesagten Unimog-Lastwagen an den ukrainischen Grenzschutz. Was Wadephul auch mitgebracht hat, ungewöhnlich für einen Außenminister, sind hochrangige Vertreter von deutschen Rüstungsunternehmen. Die sollen mit ukrainischen Partnern im Land Rüstungsgüter produzieren, schneller und effektiver als in Deutschland. Und, so ist die Hoffnung in Berlin, so nicht nur der Ukraine helfen, sondern auch viel von der Ukraine lernen. „Unsere Rüstungszusammenarbeit ist ein echter Trumpf“, sagt Wadephul an Sybiha gerichtet. „Mit eurem Ideenreichtum, eurer Erfahrung werden auch wir besser.“ Der Außenminister merkt allerdings auch an, dass es noch Hürden gebe, bürokratische zum Beispiel. Die Rüstungsvertreter nimmt er daher auch zum Gespräch mit Selenskyj mit, damit sie das vortragen können.

Wadephul sagt weitere Unterstützung zu und mehr Druck auf Russland durch Sanktionen. Tatsächlich konnten sich die Regierungschefs der EU aber gerade nicht auf ein 18. Sanktionspaket gegen Russland einigen. Auch Washington lehnt bislang weitere Sanktionen ab. Ein Ultimatum, das Bundeskanzler Friedrich Merz bei seinem Antrittsbesuch in Kiew zusammen mit den Staats- und Regierungschefs aus Frankreich, Großbritannien und Polen gestellt hatte, sollte Russland nicht einem Waffenstillstand zustimmen, war so weitgehend folgenlos verstrichen. In Berlin und Kiew hofft man auf einen Gesetzentwurf im amerikanischen Kongress, der am Ende aber nur mit Zustimmung des amerikanischen Präsidenten Donald Trump verabschiedet werden dürfte. Zumindest die technischen Gespräche in der Türkei würde man gerne fortgeführt sehen, um einen Weg zu einem Waffenstillstand vorzubereiten. Sybiha bekräftigt die Bereitschaft der Ukraine zu Gesprächen. „Wir sehen keine Bereitschaft Russlands für einen Waffenstillstand“, sagt er aber auch. „Russland verstärkt nur den Terror.“

Natalia, die Mitarbeiterin der deutschen Botschaft, hat ihre zerborstenen Fenster nach dem Raketeneinschlag mit Klarsichtfolie abgeklebt und eine ukrainische Fahne daran geklebt. Sie sagt, sie wolle den Außenminister bitten, die Ukra­ine weiter mit Waffen zu unterstützen, damit so etwas wie hier, mit dem Loch im Wohnblock, nicht weiter passiere.