Nicht immer führen DNA-Spuren am Tatort zwangsläufig zum Täter. In den USA kann die Polizei daher auf Daten aus der Familienforschung zugreifen – häufig mit Erfolg. Das ist nun auch in den ersten EU-Ländern zulässig.
Immer mehr Familienforscherinnen und -forscher nutzen auch ihre DNA zur Suche nach Verwandten und Vorfahren. Das macht sich seit einigen Jahren die Polizei in den USA zunutze: Sie hat viele lang zurückliegende Mordfälle mithilfe der Daten unbeteiligter Familienforschenden aufgeklärt.
Jetzt ist diese Forensische DNA-Genealogie auch in der Europäischen Union angekommen: In Schweden und Dänemark sind am 1. Juli entsprechende Gesetze in Kraft getreten.
Aufklärung nach 16 Jahren Fahndung
2004 wurden im südschwedischen Linköping ein kleiner Junge und eine Frau ermordet. Die Polizei vernahm 9.000 Zeugen, analysierte 6.500 DNA-Proben von Männern aus Linköping und sichtete 40.000 Dokumente – ohne Erfolg. 2020 erfuhren die Ermittler dann aus den Medien, dass in den USA nach 40 Jahren ein Serien-Mörder und -Vergewaltiger, der “Golden State Killer”, mithilfe der DNA-Genealogie gefasst werden konnte. Recherchen in Datenbanken, in denen Familienforscherinnen und -forscher mithilfe ihrer DNA nach Verwandten und Vorfahren suchen, hatten auf seine Spur geführt.
Die Ermittler in Schweden witterten eine Chance und beauftragten einen Genealogen mit entsprechenden Recherchen. Nur fünf Wochen später war der Täter gefunden.
Der Pilotfall führt jetzt, fünf Jahre später, zu einem Gesetz, das diese Methode unter strengen Voraussetzungen, für Ermittlungen in lange ungelösten Fällen von Mord und schwerer Vergewaltigung, zulässig macht. In Dänemark gilt ein vergleichbares Gesetz für Mord, Terrorismus und andere schwere Straftaten.
Die Ahnen führen zum Mörder
Weltweit erlauben nur zwei Familienforschungs-Datenbanken Polizei-Ermittlungen in ihren Daten: Family Tree DNA und GEDmatch. Beide lassen dies aber nur in den Daten zu, die die Nutzer für Polizeirecherchen freigegeben haben.
Für die Recherchen beauftragt die Polizei einen Genealogen oder eine Genealogin. Der erste Schritt ist die Suche nach Personen, die aufgrund der am Tatort gefundenen DNA als entfernte Verwandte der gesuchten Person zu erkennen sind – zum Beispiel Cousins oder Cousinen zweiten bis vierten Grades. Nun gilt es, das Paar zu finden, von dem alle diese Menschen abstammen. Das können etwa die Urururgroßeltern sein. Sind sie gefunden, richtet sich der Blick wieder in die andere Richtung der Geschichte: Nun müssen sämtliche Nachfahren dieses Paars gefunden werden – auch alle Geschwister der Menschen, die man für den Weg in die Vergangenheit gebraucht hat, und deren Kinder, Enkel und so weiter.
So entsteht ein riesiger Stammbaum, in dessen gegenwärtiger Generation der Name der gesuchten Person zu finden ist. Bei der Recherche braucht man neben DNA-Vergleichsdaten auch Dokumente mit Geburts-, Heirats- und Sterbedaten. Bei den jüngeren Generationen helfen auch Facebook und ähnliche öffentliche Plattformen.
Die letzten Recherchen sind dann wieder Aufgabe der Polizei. “Die Genealogie ist ein stumpfes Werkzeug, es braucht auch reguläre Polizeiarbeit”, sagt Ricky Ansell vom Forensikzentrum der Schwedischen Polizei. Sie liefert die DNA-Spur, aus der sich auch Angaben zu Geschlecht, Aussehen, Herkunft und Alter der gesuchten Person ermitteln lassen. Nach den genealogischen Recherchen sucht sie dann nach den Personen in der gegenwärtigen Generation und fragt: Wer kann am Tatort gewesen sein? Wer kann die Tat begangen haben? Verhöre werden geführt und DNA-Proben genommen, bis feststeht: Ja, die Spur am Tatort stammt von dieser Person.
Genealogie als letzte Chance
In Schweden erlaubt das neue Gesetz diese Art der Ermittlung nur unter strengen Voraussetzungen, erklärt Ricky Ansell: “Es ist die letzte Möglichkeit: Alle forensischen Werkzeuge und Ermittlungsmethoden müssen ausgeschöpft und gescheitert sein. Außerdem sagt der Gesetzgeber: Weil diese Recherche so sensibel ist und man so viele Daten braucht, muss ein Erfolg zu erwarten sein.”
Das heißt: Die gesuchte Person muss aus einer Weltregion kommen, in der viele Menschen sich für die Ahnenforschung begeistern und auch ihre DNA in entsprechende Datenbanken einspeisen. Diese sogenannte biogeographische Herkunft lässt sich aus der DNA ablesen. In Dänemark sind die Voraussetzungen vergleichbar.
Erfolg in den USA – weltweite Pilotprojekte
Die USA sind wie Schweden ein gutes Terrain für die Verbrechersuche im Stammbaum. Dort betreiben viele Menschen Familienforschung, häufig auch mittels DNA. So finden sich genug Daten von Verwandten, mit denen sich der Täter schnell identifizieren lässt, wie der Fall in Linköping gezeigt hat.
Dass die DNA-Probe an eine DNA-Datenbank im Ausland übermittelt werden muss – FamilyTreeDNA und GEDmatch werden in den USA betrieben – ist für die Strafverfolgung zulässig. “Dafür gelten spezielle Regeln in der Datenschutz-Grundverordung der EU”, erklärt Ricky Ansell.
In den USA wurden inzwischen über 300 Gewaltverbrecher mithilfe der DNA-Genealogie gefasst, oft viele Jahre nach der Tat. Auch in Kanada, Australien, Neuseeland, Frankreich und Norwegen wurden alte Mordfälle geklärt. Weitere Pilotprojekte laufen in den Niederlanden, Estland und Tschechien.
“Familiensuche” in der deutschen Polizei-Datenbank
In Deutschland gab es noch keine Initiative, einen “Cold Case” mithilfe der Ahnenforschung aufzuklären.
Möglich ist – wie in anderen Ländern auch – das “Familial Searching” in der DNA-Datenbank der Polizei. Wenn eine DNA-Spur vom Tatort dort einen Beinahe-Treffer erzielt, heißt das: Es wurde ein enger Verwandter der gesuchten Person gefunden: ein Elternteil, ein Kind oder ein Geschwister. Mehr geht nicht, weil die Polizei ihre DNA-Proben anders analysiert als die Familienforscher-Datenbanken.
Ansonsten darf die Polizei anhand einer Tatort-DNA zwar Augen-, Haar- und Hautfarbe sowie das Alter der Person ermitteln. Aber diese Analyse basiert auf einer Datenbank, die vor allem hellhäutige Europäer enthält. Rechtsmediziner würden gern auch die Herkunft ermitteln, um zu wissen, wie sicher sie Aussagen zum Aussehen treffen können. Die meisten Justizminister der Länder lehnen das allerdings ab.