Der britische Premierminister Keir Starmer hat in letzter Minute weitere Zugeständnisse machen müssen, um seiner Sozialhilfereform im Unterhaus eine Mehrheit zu sichern. Abgeordnete seiner eigenen Labour-Partei kritisierten das Vorgehen als chaotisch. Schon vergangene Woche hatte Starmer hektischen Korrekturen an dem Gesetzentwurf zugestimmt, nachdem mehr als 100 Abgeordnete der Regierungsfraktion gedroht hatten, sie wollten gegen das Vorhaben stimmen. Damit geriet die parlamentarische Mehrheit in Gefahr.
Die Reformvorschläge, mit denen bis zum Ende des Jahrzehnts Einsparungen an Behinderten- und Krankenbeihilfen von umgerechnet rund sechs Milliarden Euro pro Jahr hätten erreicht werden sollen, wurden daraufhin von Sozialministerin Liz Kendall deutlich abgemildert. Die Sozialleistungen sollten demnach nicht für jene eingeschränkt werden, die sie gegenwärtig beziehen, sondern nur noch für jene gelten, die sie demnächst neu beantragen.
Diese Konzessionen zehrten nicht nur die Hälfte der beabsichtigten Einsparsumme auf, sie bewirkten auch nur ein vorübergehendes Einlenken der widerständigen Abgeordneten aus den eigenen Reihen. Viele von ihnen argumentierten, nun wolle Labour offenbar zwei Klassen von Behinderten schaffen; jene mit und jene ohne auskömmliche staatliche Hilfen.
Mehr Geld für Integration in Arbeitsmarkt
Am Montag machte die Sozialministerin dann weitere Vorschläge, um die Kritiker zu besänftigen. Kendall stellte etwa einige hundert Millionen Pfund zusätzlich in Aussicht, um Behinderte zurück in den Arbeitsmarkt zu bringen. Am Dienstag wurde der Regierung aus der Labour-Fraktion gleichwohl deutlich gemacht, dass nach wie vor so viele Abgeordnete entschlossen seien, gegen die Novelle zu stimmen. Die Mehrheit sei weiterhin nicht gesichert.
Daraufhin entschloss Starmer sich dazu, weitere Teile seiner Reform aufzugeben. In der schon laufenden Debatte über den Regierungsentwurf verkündete der zuständige Parlamentarische Staatssekretär, dass nun auch die Absicht aufgegeben werde, die Behindertenbeihilfe für neue Antragsteller zu beschränken. Stattdessen sollten erst die Empfehlungen einer Kommission abgewartet werden, die eruieren soll, wie Menschen mit Einschränkungen wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Falls der Entwurf nach den Ausschussberatungen in dieser Form verabschiedet wird, werden sich damit keine wesentlichen Einsparungen erzielen lassen. Vielmehr könnten zusätzliche Ausgaben für die Arbeitsintegrationsprogramme entstehen.
Starmer beteuerte am Mittwoch, sein Gesetzentwurf zeige nach wie vor „den richtigen Weg“, um Kranke und Behinderte zur Aufnahme von Beschäftigungen zu motivieren. Der Entwurf stehe „in Übereinstimmung mit den politischen Prinzipien, die ich immer wieder genannt habe.“ Er bringe „Verbesserungen für die Menschen und den Haushalt“. Die konservative Oppositionsführerin Kemi Badenoch warf Starmer vor, er habe versprochen, seine Reformen sparten Geld; nun verursachten sie zusätzliche Kosten.
Starmer trotzdem Stolz auf das Erreichte
Badenoch zählte mehrere Fälle auf, in denen die Labour-Regierung in ihrem ersten Amtsjahr eigene Entscheidungen wieder zurücknahm, etwa bei der Abschaffung der Heizkostenbeihilfe für Rentner, die nun wieder eingeführt wird, oder bei der Ablehnung einer Untersuchung zum Missbrauch von Teenagern durch pakistanisch-stämmige Banden, die jetzt doch stattfinden soll.
Starmer beteuerte, er sei stolz auf die Leistungen seiner Regierung in ihrem ersten Amtsjahr, das am 5. Juli vollendet wird. Die Wartelisten für Patienten im Nationalen Gesundheitsdienst seien erstmals seit zwei Jahren gesunken. Die Regierung habe die Rechte von Arbeitnehmern gestärkt, die Verteidigungsausgaben erhöht und die Schulspeisungen für Kinder armer Familien ausgedehnt.
Die Labour-Abgeordneten begrüßten Starmer am Mittwoch im Plenum mit extra lautem Jubel. Dennoch muss der Premierminister damit rechnen, dass nach dem Widerstand gegen die Sozialkürzungen der Druck aus der eigenen Partei steigt, weitere soziale Wohltaten zu gewähren. Eine Forderung, die von Teilen der Labour-Partei propagiert wird, betrifft die Aufhebung der Kindergeldsperre für Familien, die mehr als zwei Kinder haben.