Wie Klimaschutz zur Mogelpackung werden kann

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Es ist ein Zugeständnis, das Kritiker milde stimmen und Unternehmen entlasten soll: Die EU-Kommission will der Industrie und Verbrauchern künftig erlauben, dass Klimaschutzprojekte in Drittstaaten auf die eigenen Klimaschutzbemühungen angerechnet werden. So soll es für sie einfacher werden, dass CO2-Einsparziel von 90 Prozent bis 2040 zu erreichen, dass die EU-Kommission am Mittwoch offiziell verkündet hat. Die Anrechnung soll auf drei Prozent der Emissionen von 1990 begrenzt werden. Gutschriften könnten gewährt werden, wenn in Drittstaaten neue Klimaschutzprojekte entstehen, die Emissionen vermeiden. Allerdings war ein entsprechendes Gutschriftensystem in der Vergangenheit nach Ansicht von Fachleuten fundamental gescheitert. Die Kommission steht damit vor der Herausforderung, ein wasserdichtes System zu etablieren, das die Versprechen auch einhält und alles andere als trivial ist.

Die Kommission geht diesen Weg nicht ohne Druck. Sie reagiert auf den wachsenden Widerstand unter den Mitgliedstaaten gegen aus ihrer Sicht zu ehrgeizige Ziele. Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte am vergangenen Donnerstag auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs davor gewarnt, das die Wirtschaft überfordert werde. Unterstützt vom polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, wollte er durchsetzen, dass der Klimavorschlag ganz verschoben wird. Damit konnte er sich zwar nicht durchsetzen, aber es sprachen sich auch nur wenige Staaten ausdrücklich für ein striktes Klimaziel aus. Das 2040-Ziel ist ein Zwischenschritt auf dem Weg zu dem schon beschlossenen Ziel, Europa bis 2050 klimaneutral zu machen.

Klimakommissar Wopke Hoekstra verteidigte die umstrittenen CO2-Gutschriften. „Das ist groß, das hat fantastisches Potential“, sagte er. In der EU werde übersehen, dass es auf der Südhalbkugel ein enormes Interesse an solchen Gutschriften gebe. Diese Länder suchten die Zusammenarbeit mit der EU. Dem Planeten sei es egal, wo Emissionen reduziert werde. Zugleich verschaffe der Ansatz den europäischen Unternehmen etwas Flexibilität beim Erreichen der letzten Prozentpunkte der Klimaziele. Direkt auf den europäischen Emissionshandel (ETS) sollen die Unternehmen die Gutschriften aber nicht anrechnen können.

Dem Klima wurde damit kaum geholfen

Die Idee der Gutschriften wirkt auch deshalb überzeugend, weil Klimaschutz in Entwicklungsländern viel günstiger zu haben ist. Was in der Theorie gut klingt, hat in der Praxis bislang aber nicht funktioniert: 1997 schuf die Staatengemeinschaft im Kyotoprotokoll den „Clean Development Mechanism“ (CDM). Wer in Ländern wie Indien oder China Photovoltaikparks oder andere klimafreundliche Anlagen baute, konnte sich für die eingesparten Emissionen Zertifikate ausstellen lassen und sie an Unternehmen im Westen verkaufen. Die konnten sich Einsparungen in ihrer Klimabilanz gutschreiben lassen. Das geschah im großen Stil. Nach Angaben des Umweltbundesamtes wurden Gutschriften für knapp 2,3 Milliarden Tonnen Kohlendioxid-Äquivalent verkauft. Das ist dreieinhalb mal so viel, wie Deutschland 2024 ausgestoßen hat. Die meisten Käufer stammten aus der EU.

Doch dem Klima wurde damit kaum geholfen, sind sich Fachleute einig. „Die Bilanz ist jenseits von einzelnen guten Projekten sehr durchwachsen und unzureichend“, sagt Lambert Schneider, Forscher am unabhängigen Öko-Instituts und als Mitglied des CDM-Exekutivrats ein genauer Kenner der Materie. Das Kernproblem: Das Klima profitiert nur dann, wenn die Projekte in den ärmeren Ländern wirklich zusätzlich entstehen, also nicht ohnehin geplant worden wären. Ansonsten rechnen sich die reichen Länder ihre Treibhausgasbilanzen schön, ohne dass sie die Einsparung eines einzigen Gramms CO2 bewirkt haben.

Und genau das scheint passiert zu sein. Nur 16 Prozent der ausgestellten Kohlenstoffzertifikate führten zu realen Emissionsminderungen, schätzt das Autorenteam einer Metastudie, die vergangenes Jahr im Fachmagazin „Nature“ veröffentlicht wurde. Sprich: Ein überwältigender Teil der Projekte halfen dem Klima nicht, erlaubten den Unternehmen hierzulande aber, Milliarden Tonnen mehr CO auszustoßen. Der CDM-Mechanismus lief Ende 2020 weitgehend aus, im Pariser Abkommen 2016 wurde ein strengeres Nachfolgeregelwerk auf den Weg gebracht, in dem aber noch keine Klimagutschriften gehandelt werden. Das Öko-Institut empfiehlt, diese strengeren Regeln nun auch zur Grundlage für das im Klimaziel 2040 geplanten Zertifikatesystems zu machen.

Welche Vorteile das hätte, macht Forscher Schneider an einem Beispiel deutlich: Im alten CDM-System wurde die Zusätzlichkeit eines Klimaschutzprojektes daran gemessen, ob das Projekt auch ohne das Geld aus den Zertifikaten rentabel gewesen wäre. Es sei ein offenes Geheimnis gewesen, dass die Investoren zwei Rechnungen führten – eine interne für das Management, die zeigt, dass das Projekt auch ohne Zusatzeinnahmen rentabel ist, eine für die CDM-Aufseher, die zu einem anderen Ergebnis kommt. „Das war sogar erlaubt“, sagt Schneider. Die Pariser regeln machten damit Schluss. Schneider bemängelt zudem, dass im CDM-System die Akkreditierungsorganisationen von den Investoren bezahlt wurden. „Niemand hat ein ökonomisches Eigeninteresse, dass die Zertifikate eine hohe Qualität haben“, sagt Schneider. Trotz der Negativerfahrung ist er „verhalten zuversichtlich“, dass das künftige System besser funktionieren wird: „Es ist wahnsinnig schwierig die Regeln wasserdicht zu machen, aber im Schnitt dürfte die Qualität steigen.“

Doppelte Zählung von Reduktionen verhindern

Die EU-Kommission verbreitet ebenfalls Zuversicht. Mit der bei der letzten internationalen Klimakonferenz in Baku vereinbarten Einführung eines neuen Mechanismus für verlässliche internationale Gutschriften, der auf dem Pariser Abkommen basiert, habe sich der Rahmen geändert. Auf diesen „Artikel-sechs-Gutschriften“ will die Kommission aufbauen. Konkrete Vorschläge dazu, wie das genau funktionieren soll, will sie in der zweiten Jahreshälfte vorlegen. Es sei zunächst eine Reihe komplexer Fragen zu klären, heißt es. Die Kommission werde erst einmal eine genaue Folgenabschätzung machen. Die EU müsse sicherstellen, dass es ein robustes System gebe, das die doppelte Zählung von CO2-Reduktionen verhindere, nur hochwertige Projekte fördere und gesichert zu zusätzlichen Minderungen führe. Zudem müsse ausgeschlossen sein, dass Staaten mit solchen Projekten Geld machten und ihre eigenen Klimabemühungen parallel zurückführten, heißt es in der Kommission.

Weil das hohe Hürden seien, wolle die Kommission die Anrechnung von Gutschriften erst von 2036 an erlauben, sagte ein hochrangiger Beamter. Ebenso wenig habe es vor diesem Hintergrund Sinn, die Anrechnung von mehr als drei Prozent der Emissionen von 1990 zu erlauben. „Wir wissen ja noch nicht einmal, ob es überhaupt genug Zertifikate dafür geben wird“, sagte der Beamte. Im Übrigen dürfe die EU nicht nachlassen, auf ihrem Gebiet in die Senkung des CO2-Ausstoßes zu investieren. Die Gefahr bestehe, wenn die Anrechnung von Projekten in Drittstaaten zu leicht werde. Die Anrechnung von Klimaprojekten in Drittstaaten wird, zumindest zunächst, auf das 2040-Ziel begrenzt bleiben. Das 2050-Ziel soll weiterhin allein auf dem Engagement in der EU beruhen.

Das 90-Prozent-Reduktionsziel ist ein gesamteuropäisches Ziel. Es muss somit nicht in jedem einzelnen Land erreicht werden, sondern im Durchschnitt. Die Bundesregierung hatte in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, kein Klimagesetz zu unterstützen, das Deutschland zu mehr als der schon beschlossenen Reduktion um 88 Prozent bis 2040 verpflichtet. „Deutschland muss sein Klimaziel nicht erhöhen“, teilte das Bundesumweltministerium am Mittwoch mit. Das EU-Ziel und das deutsche Klimaziel seien in der Höhe vergleichbar, weil das EU-Ziel etwas anders berechnet werde. Inwieweit nationale Ziele 2040 überhaupt noch eine Rolle spielen, ist schwer zu sagen. Mit der Einführung des Emissionshandels für Gebäude und Verkehr sind bis auf die Landwirtschaft künftig ohnehin alle Sektoren von dem europäischen System abgedeckt.

Mitgliedstaaten und Europäisches Parlament müssen das Klimagesetz nun beraten und annehmen. Das soll rechtzeitig vor dem Beginn der nächsten internationalen Klimakonferenz im brasilianischen Belem im November geschehen. Die EU-Institutionen könnten dabei auch vereinbaren, noch über die drei Prozent für die Anrechnung von Klimaprojekten in Drittstaaten hinauszugehen. Die Bundesregierung allerdings hat sich im Koalitionsvertrag genau für diese drei Prozent ausgesprochen. Die Entscheidung kann im Rat allerdings mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden, also auch gegen Deutschland.