Seit gut hundert Tagen sitzt der Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, in Untersuchungshaft. Nun bringt Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Justiz gegen einen weiteren Rivalen in Stellung: den Chef der Republikanischen Volkspartei (CHP), Özgür Özel. Noch genießt Özel als Abgeordneter Immunität. Am Mittwochabend wurde jedoch bekannt, dass das Präsidialamt einen Prozess zur möglichen Aufhebung seiner Immunität in Gang gesetzt hat.
Falls es zur Abstimmung kommt, reichen die Stimmen von Erdoğans AKP, um Özel dem Zugriff der Justiz zuzuführen. Konkret geht es um den Vorwurf der „Beleidigung eines Staatsbediensteten“, die mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden kann. „Soll er (Erdoğan) mich ruhig auch ins Gefängnis stecken“, sagte Özel. „Und was dann? Wird er dann sagen ‚Ich habe gewonnen‘?“
Der CHP-Vorsitzende hat im Kampf für eine Freilassung des Präsidentschaftskandidaten İmamoğlu an Statur gewonnen. In Umfragen kommt er inzwischen auf höhere Zustimmungswerte als Erdoğan, was für İmamoğlu schon länger gilt. Sollte dieser bei der nächsten Präsidentschaftswahl nicht antreten können, gilt Özel als wahrscheinlicher Ersatz. Die nächste reguläre Wahl ist aber erst 2028 vorgesehen.
Festnahmewelle in Izmir
Erdoğan spielt erkennbar auf Zeit. So hat die Staatsanwaltschaft noch keine Anklageschrift gegen İmamoğlu wegen der Korruptionsvorwürfe vorgelegt, wegen derer er in Haft ist. In regierungsnahen Medien werden derweil Interna aus den Vernehmungen veröffentlicht. Ein anderes Verfahren, das zu einer Absetzung von Parteichef Özel und der Bestellung eines Zwangsverwalters für die Partei führen könnte, wurde in dieser Woche auf September vertagt.
Özel eilte am Mittwoch in die Hafenstadt Izmir, wo es am Dienstag zu einer weiteren Festnahmewelle gegen die CHP gekommen war: Mehr als 130 Personen, darunter amtierende und frühere Mitarbeiter der Stadtverwaltung und kommunaler Unternehmen, wurden wegen Korruptionsverdachts frühmorgens aus ihren Wohnungen geholt. Darunter waren der frühere Bürgermeister Tunç Soyer und der Provinzparteichef Şenol Aslanoğlu. Zudem wurde ein Verfahren zur Aufhebung der Immunität eines Izmirer Abgeordneten eingeleitet.
Izmir ist so etwas wie das symbolische Zentrum der Partei. Erdoğan selbst hatte zuvor angekündigt, dass die Ermittlungen nach fünf Festnahmewellen in Istanbul auf andere Provinzen ausgeweitet würden. „Es ist nicht nur Istanbul“, sagte er vergangene Woche. „Leider ist die Situation auch in anderen Provinzen schlecht.“ Angesichts der hohen Zahl an Festnahmen sprach Özel von einer „Wahrnehmungsoperation“. Der Präsident spricht über die Oppositionspartei inzwischen so, als handle es sich um eine Mafiaorganisation.
Am Dienstag versammelten sich abermals Zehntausende Menschen vor dem Istanbuler Rathaus, um daran zu erinnern, dass İmamoğlu seit hundert Tagen in Haft ist. Während der Kundgebung wurden 34 Personen festgenommen. 15 von ihnen sitzen inzwischen in Haft.