Stalin ist wieder da, er hat die rechte Hand in den Kittel gesteckt und lässt sich von Kindern und Arbeitern bejubeln, zu seinen Füßen liegen ein paar rote Nelken. Vor Kurzem hat die Transportdirektion der Moskauer Stadtverwaltung die Replik des vor bald 60 Jahren entfernten Ehrenreliefs „Dankbarkeit des Volkes gegenüber dem Führer und Feldherrn“ in der U-Bahn-Station Taganskaja aufstellen lassen. 90 Jahre Metro, 80 Jahre Sieg im Zweiten Weltkrieg, Anlässe fanden sich.
Unter Präsident Wladimir Putin steht Stalin als angeblich effektiver Manager und Sieger von 1945 immer höher im Kurs, neue Denkmäler für ihn entstehen wie im Vorgriff auf einen neuen Sieg, nun über die Ukraine und den Westen. Doch die Geschichte kehrt günstig wieder. In den Fünfzigerjahren waren der U-Bahn-Stalin und sein Gefolge aus Gips gemacht, wurden dann durch edle Keramik ersetzt, ehe das Ende des „Personenkults“ auch ihres brachte. Die Nachfolger von heute sind wieder aus Gips, die neue Abgrenzung vor dem Relief imitiert Bronze bloß, sie ist aus Hartplastik. Provisorisch wirkt das Ensemble so, vergänglich, falsch.
Die meisten Passanten eilen vorüber, manche bleiben stehen, fotografieren sich. Dafür haben sich hier auch zwei Chemiker verabredet, beide um die 60, Männer mit schütterem Haar in Regenjacken. Sie sind stolz auf ihren „Generalissimus“. Ohne den Sieg über Hitler wäre doch alles nichts, würde es gar keine Russen mehr geben, sagen sie.

Aber Stalins Opfer, die vielen Millionen im Gulag, die Hunderttausenden, die erschossen wurden? Die Frage regt den größeren, kräftigeren der beiden auf. Da seien doch keine Unschuldigen umgekommen, getroffen habe es Leute wie einen Hochofenbauer, der minderwertige Steine verbaut habe, dann sei der Ofen explodiert und 200 Arbeiter seien umgekommen, erzählt er.
Die Geschichte lässt ihn aufschluchzen, seine Augen werden feucht, die Stimme überschlägt sich, auch, weil er heute, unter Putin, die gleichen Probleme sieht. Sein Kollege, kleiner und gefasster, sagt, Russland sollte es auch heute bei Korruption machen „wie in China“, die Todesstrafe anwenden. Auf einmal erscheint die Sehnsuchtsfigur Stalin fast subversiv.
Der große Chemiker erzählt von seiner Tochter, die in seine Fußstapfen treten wolle, aber an ihrer Moskauer Hochschule Kurse über explosive Stoffe nicht belegen dürfe, bloß weil er, ihr Vater, in Odessa in der heutigen Ukraine geboren worden sei, die Tochter daher als Sicherheitsrisiko gelte. Es sei doch Faschismus, Leute auf Grundlage ihrer Herkunft zu diskriminieren, sagt er, ziemlich laut, aber der schwarz gekleidete Wachmann, den die Stadt zum Relief beordert hat, wischt nur weiter über sein Smartphone.
Putins teure „Spezialoperation“
Eigentlich unterstützen die beiden Kollegen die „Spezialoperation“ gegen die Ukraine, sehen sie wie in Putins Darstellung nicht als Angriffskrieg, sondern als russischen Verteidigungskampf gegen Nazi-Wiedergänger und den Westen. „Stehen wir nun auf der Seite des Lichts oder der Finsternis?“, fragt der kleine Chemiker. Für ihn ist Stalins Rückkehr hierher bloß eine „PR-Aktion“, gedacht, um eine Nachfrage im Volk zu bedienen. Was Stalin doch alles aufgebaut habe, ruft der andere. Die Forschung zum Beispiel, Leuten wie ihm sei es unter Stalin gut gegangen. „Aber ich lebe jetzt im Elend!“ Der Mann zieht die Taschen seiner Jacke nach außen, sie sind leer.
Alles kostet mehr als früher, Kartoffeln, Eier, Butter. Der teure Angriffskrieg und die Sanktionen machen sich immer stärker wirtschaftlich bemerkbar. An Stellen, die nicht direkt mit dem Krieg zu tun haben, wird schon gespart. Aber Mangel herrscht nicht, und in Moskau ist das Elend ohnehin hinter viel Glanz versteckt. Mercedes-Geländewagen fahren trotz Sanktionen durch die Straßen, auch die neuen Modelle mit abgerundeten Ecken, man kann sie zum Beispiel über Georgien oder Kirgistan beziehen, für noch mehr Geld als früher.

In den Straßen herrscht sommerliche Heiterkeit, die Kriegssymbole, die Buchstaben Z, O und V, sind kaum zu sehen, selbst schwarz-orangefarbene Georgsbänder selten. Im Gespräch fragt mancher Russe, wie lange „das“ wohl noch gehen werde, spricht dann doch lieber vom Urlaub, der in die Türkei führt oder in eine unbekannte Gegend Russlands. Der Krieg scheint weit weg, wird weggeschoben.
In einem Café im schicken Patriarchenteiche-Viertel wird die Fusion zweier Modemarken gefeiert, exzentrisch gekleidete Gäste steigen aus Limousinen, begrüßen einander mit Küsschen, trinken Weißwein, generieren dann Social-Media-Content mit den Kameras ihrer Smartphones.
Aktiv sind auch Ärmere. Vor dem Bolschoi-Theater machen ältere Frauen, die ein junger Mann mit Rufen anleitet, zu lauter Schlagermusik Gymnastik, mit einem Programm der Stadt, das „Moskauer Langlebigkeit“ heißt. Auf dem Manegeplatz am Kreml sind ein künstlicher Wasserfall, Wasserbecken mit Schildkröte und echte Bäume aufgebaut, die Leute fotografieren wie besessen. Daneben fordern ein paar Leute mit Fahnen der putintreuen Nationalen Befreiungsbewegung und Stalin-Konterfei, dem Präsidenten „Sondervollmachten“ zu geben, dann werde alles gut; aber das macht die Gruppe seit vielen Jahren, nur chinesische Touristen interessieren sich für sie.
Im nahen Park Sarjadje, den im vergangenen Jahrzehnt New Yorker Landschaftsarchitekten entworfen haben, gibt es zwar im Keller des Medienzentrums eine Ausstellung, die „den neuen Himmel und das neue Land“ feiert, die besetzten Gebiete in der Süd- und Ostukraine. Sie zeigt zu sphärischer Musik Büsten des Annexionsvordenkers Alexandr Dugin und dessen 2022 bei einem Bombenattentat getöteter Tochter. Auch ein Ölbild von Soldaten als „Atlanten“ ist zu sehen, die das zivile Leben auf einer Straße tragen wie der Atlas der griechischen Mythologie das Himmelsgewölbe.
Ein anderes Bild zeigt einen von Putins Invasoren mit Gewehr im Anschlag, dem ein Weltkriegsrotarmist über die Schulter schaut. „Guck mal, Mama, ein Held von früher und einer von heute“, erklärt ein Junge seiner Mutter. Doch die beiden sind fast allein hier, obwohl die Ausstellung gerade kostenlos besucht werden kann, während sich für eine um die fünf Euro teure Show mit Luftaufnahmen von Moskau im Stockwerk darüber Schlangen bilden: Unterhaltung sticht Eroberung.
Stand-up-Comedians im Park
Zum Lachen kann man abends in den Gorki-Park gehen. In einem Restaurant treten Stand-up-Comedians auf, dazu bestellt man sich Cocktails, Tee oder Bier, Caesar-Salat mit Huhn oder Garnelen. Noch vor gut fünf Jahren wurden bei einer ähnlichen Show sogar Witze über Putin erzählt, obwohl schon damals manche Komiker Probleme bekamen und Russland verlassen mussten. Jetzt, im Krieg, drohen noch mehr Bußgelder, Auftrittsverbote, Strafverfahren. Die Comedians haben sich an die Zensur angepasst. Das Publikum – Banker, Lifestyle-Influencer, ein Fluglotse mit seiner Frau – lacht auch über Scherze, die alles Politische umschiffen: über Tücken der Vaterschaft, Küssen mit Zahnspange, Verdauungsprobleme im Bali-Urlaub.
Nur ein fülliger junger Mann witzelt über Hass auf fitte, entspannte Surfer, die er „Misulina ausliefern“ werde: Jelena Misulina von der „Liga für sicheres Internet“, die sich auf Kinderschutz und „traditionelle Werte“ beruft, um Strafverfahren anzustoßen. Seit Kurzem ist die Chefdenunziantin mit einem platinblonden Sänger in schwarzer Lederkluft mit Russland-Binde am Arm liiert, der sich Shaman nennt und in Hits wie „Ich bin Russe“ trotzige Vaterlandsliebe predigt; der Putin-Pop-Superstar soll Russland im September bei einer Kreml-Konkurrenzveranstaltung zum Eurovision Song Contest vertreten. Kreml-Liebe in Zeiten des Krieges.

Überall locken Plakate, sich als Soldat zu verpflichten. „Der Sieg wird unser sein“, steht da oder „Es gibt einen solchen Beruf: die Heimat schützen“. Weil das allein nicht reicht, werden auch die Summen plakatiert, die man damit verdienen kann, in Moskau mittlerweile im ersten Jahr nach Vertragsabschluss mit Prämien, Sold und Zulagen demnach fast 60.000 Euro, ein Vermögen für die meisten Russen.
Während in der Hauptstadt die Prämien gestiegen sind, fallen sie in anderen Regionen. Für Bewohner mancher von ihnen rechnet es sich gar, eigens nach Moskau zu reisen und in die Jablotschkow-Straße nördlich des Zentrums zu kommen, zum „Einheitsauswahlpunkt“ der Armee für Moskau.
An der nächstgelegenen U-Bahn-Station warten Männer in Uniform, um den Interessierten den Weg zu weisen, unter einem der Werbeplakate für den Kriegsdienst dröhnt Eminems Rap aus einem Lautsprecher, amerikanisch zwar, aber weiß und wütend wie Putin als Rächer der Gekränkten. Ein paar hundert Meter weiter verkauft jemand den angehenden Soldaten von einem Klapptisch tarnfarbene Rucksäcke und leichte Kampfstiefel, denn schwere sind nicht mehr zeitgemäß, man muss rennen und springen können, wenn Drohnen kommen.
Im Rekrutierungszentrum füllen Neulinge Formulare aus
In eine rechtswissenschaftliche Hochschule strömen angehende Juristen mit Kaffeebechern in der Hand, dann passiert man ein Militärgebäude mit einem Denkmal für Panzerfahrer davor, dann ist man am Rekrutierungszentrum angekommen. Im vergangenen Jahr sollen sich hier zeitweise lange Schlangen gebildet haben, jetzt ist der Zustrom schmal, aber stetig. Frauen begleiten ihre Männer, Mütter ihre Söhne, sie stehen dicht beisammen und haben Taschen und Rucksäcke mitgebracht, es wird viel geraucht.
Soldaten bewachen das Gebäude, Polizisten patrouillieren, Kameras sind überall; hier jemanden anzusprechen, könnte für einen westlichen Journalisten gefährlich werden. Wer kommt und sich verpflichtet, hofft auf Einkünfte, Aufstieg, Ansehen und darauf, dass sich das Berufsrisiko nicht verwirklicht; wenn doch, soll es die Familie besser haben, dank Prämien, die für eine Einzimmerwohnung in einem Moskauer Neubauwohnturm reichen oder für eine größere in der Provinz.
Drinnen füllen die Neulinge die Formulare aus, dann holen Reisebusse sie ab, bringen sie zu ihren Einheiten. Auf eineinhalb Millionen Mann will Putin seine Streitkräfte vergrößern; man könne „ewig kämpfen“, soll Putins Delegationsleiter Wladimir Medinskij bei den Verhandlungen in Istanbul den Ukrainern gesagt haben. Medinskij ist zugleich Putins Mann für viele der neuen Denkmäler, die Russlands Geschichte als große Siegesserie schildern, von den Zaren über Stalin zu Putin.
Fürsprecher der Opfer sollen verschwinden, allen voran die Menschenrechtsschützer von Memorial. Für sie hängen die Toten von einst und die von heute zusammen. Schon Ende 2021 hat der Staat ihren Dachverband und ihr Rechtsschutzzentrum aufgelöst und später Memorial die Räumlichkeiten im Zentrum von Moskau weggenommen. Jetzt muss Jan Ratschinskij, der Vorsitzende des Dachverbands von Memorial, im Sitz von dessen Moskauer Ableger empfangen, im Lesesaal, wo Nachschlagewerke über die Opfer des Staatsterrors bis an die Decke reichen.
66 Jahre alt ist der Mathematiker und seit den Anfängen der Bewegung in den Achtzigerjahren dabei. Ernst und etwas düster wirkt er, erweist sich aber als hartnäckiger, hoffnungsvoller Optimist. Als Ratschinskij im Herbst 2022 für Memorial in Oslo den Friedensnobelpreis entgegennahm, den sich die Organisation mit Menschenrechtlern aus der Ukraine und Belarus teilte, kritisierte er Putins „verrückten und verbrecherischen Eroberungskrieg gegen die Ukraine“.

Anlässlich der Rückkehr des Stalin-Denkmals in die U-Bahn-Station Taganskaja erinnerte Ratschinskij auf Facebook (das in Russland nur über VPN-Umweg zugänglich ist) daran, dass dem Terror auch mehr als 750 Erbauer und Mitarbeiter der Moskauer Metro zum Opfer gefallen und mehr als 140 von ihnen erschossen worden seien. An sie werde in der U-Bahn bis heute nicht erinnert, dafür nun „ihr Mörder in voller Größe dargestellt“.
Kurz darauf, am 23. Mai, wurde Ratschinskij persönlich zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Das hat unter anderem zur Folge, dass er jetzt nicht wie geplant die Wohnung seiner gestorbenen Eltern verkauft, um mehr Geld für Reisen zu haben, da der Erlös auf ein Staatssonderkonto käme. Dies ist nur eine von vielen Maßnahmen gegen die „Agenten“, doch vor allem ist der Status eine Art Warnschuss, die Androhung von Schlimmerem.
Viele von Ratschinskijs Mitstreitern sind mittlerweile im Exil, einige in Deutschland wie Oleg Orlow vom Rechtsschutzzentrum, der in Lagerhaft war, aber im großen Häftlingsaustausch vom 1. August 2024 freigekommen ist. Ratschinskij will in Russland bleiben. „Ich habe von Anfang an gesagt, dass das mein Land ist“, sagt er. „Hier sind meine Arbeit, mein Leben, die Gräber meiner Eltern. Wenn es jemandem unangenehm ist, hier mit mir zu leben, soll er doch gehen.“
Onlinepetition gegen das Stalin-Denkmal
Ratschinskij sieht die Geschichte aufseiten Memorials. Wenn er über die beschlagnahmten und jetzt leer stehenden Räume seines Dachverbands spricht, geht er davon aus, eines Tages dorthin zurückzukehren. Mitsamt dem in Jahrzehnten entstandenen Archiv, das die Sowjetrepression dokumentiert, ein Sammelsurium des Leids. Es sei jetzt auf verschiedene Orte verteilt und „in Sicherheit“, mehr sage man nicht, erklärt Ratschinskij. Aber für Recherchen bleibe das Archiv zugänglich, online, denn es sei zu mehr als 80 Prozent digitalisiert. Anfragen kämen immer mehr, „die Leute müssen wissen, was mit ihren Vorfahren geschehen ist“, sagt Ratschinskij.
Hoffnung gibt ihm auch, dass Tausende Leute mit ihm zusammen eine Onlinepetition unterschrieben haben, das Stalin-Denkmal aus der Moskauer U-Bahn wieder zu entfernen. Und, dass „keine Pilgerströme“ dorthin kommen, sich dort nicht Blumen türmen wie kürzlich wieder zum Geburtstag des Oppositionellen Alexej Nawalnyj auf dessen Grab im Südosten Moskaus. Daran könne man sehen, „was lebendig ist und was schon tot“, sagt Ratschinskij über Putins Machtsystem und erinnert an den Aufstand der Wagner-Miliz im Juni 2023. „Ist da irgendjemand für den Schutz der amtierenden Machthaber aufgestanden? Alle saßen nur da und schauten zu.“
Selbst die horrenden Haftstrafen für Kriegsgegner machen dem Memorial-Mann Mut. „Wenn die Staatsmacht anfängt, Menschen wegen Aussagen zu verurteilen, bedeutet es, dass sie keine Zukunft hat.“ Auch im russischen Volk gebe es „ein natürliches Streben nach Freiheit“, das ist Ratschinskij wichtig. Bloß seien in 70 Jahren Sowjetherrschaft die Fähigkeiten zur Selbstorganisation vernichtet, die zum Widerstand verringert worden.
„Marginale Pseudopatrioten“ riefen auch jetzt immer wieder dazu auf, Stalin vor Memorial zu schützen, sagt Ratschinskij. Aber das werde man überstehen, so seien die Zeiten, „zu wünschen ist, nicht für lange“. Ihn erinnert Putins Herrschaft an seine Jugend, an die Verkrustung unter Leonid Breschnew in den Siebziger- und Achtzigerjahren, mit Stabilität, Stillstand, gesellschaftlicher Apathie. Alles schien damals auf ewig so weiterzugehen, bis es doch zu Ende ging. „Russland ist ein Land, in dem Unerwartetes geschieht“, sagt Ratschinskij. „Dass Gorbatschow kommt, hat auch niemand vorhergesehen.“