Am Ende, sagt Yuval Ben-Ari, ging alles ganz schnell. Mehrere Monate hatte der Israeli seit dem Beginn des jüngsten Krieges im Süden Libanons und im Gazastreifen gedient, drei Rotationen in Folge, jede davon freiwillig. „Ich wollte mein Land verteidigen, meine Familie, meine Freunde“, sagt er über die Zeit nach dem 7. Oktober. Dann, in einer Nacht im März dieses Jahres, entschied er sich anders.
Inmitten der Trümmerberge und Ruinen von Rafah tippte der Reservist sein Entlassungsschreiben, am nächsten Morgen teilte er seinem Kommandeur mit, dass er die Einheit im Gazastreifen verlassen werde. „Ich habe mich dafür geschämt, diese Uniform zu tragen“, sagt der 42 Jahre alte Israeli, den fast sein ganzes Leben mit der Armee verbindet.
Wenige Stunden später hielt er ein Militärfahrzeug auf dem Weg zur Grenze an, sprang auf und ließ sich zurück nach Israel bringen. „Für mich gibt es keinen Weg zurück“, sagt Ben-Ari heute. „Ich habe viel gesehen, und ich hatte viel Zeit nachzudenken. Genug ist genug.“

Die Kehrtwende, von der Ben-Ari erzählt, wäre unter israelischen Reservisten lange nur schwer vorstellbar gewesen. 300.000 Männer und Frauen zog das Militär nach dem Terrorüberfall der Hamas vom 7. Oktober zum Reservedienst ein, Angaben der Armee zufolge schlugen zusätzlich Zehntausende Freiwillige auf den Militärbasen auf. Aus den USA, aus Europa, aus Asien reisten im Herbst 2023 etliche Israelis in ihre Heimat zurück, um ihr Land im Kampf gegen die Hamas in Gaza und die Hizbullah in Libanon zu unterstützen. Selbst diejenigen, die der Armee zuvor kritisch gegenübergestanden hatten, meldeten sich damals bei ihren Einheiten zurück.
Doch mehr als 20 Monate nach Beginn der Großoffensive im Gazastreifen hat sich das Bild verändert. Während abermals über einen Waffenstillstand verhandelt wird, macht sich die Kriegsmüdigkeit der israelischen Gesellschaft auch in den Streitkräften bemerkbar. Israelische Medien gehen davon aus, dass seit Anfang des Jahres mehr als 100.000 Reservisten nicht mehr zum Militärdienst erschienen sind.
Die meisten von ihnen sind ausgebrannt, leiden unter den Folgen traumatischer Erlebnisse, haben Beruf und Familie über Monate vernachlässigt. Bei einigen kommen grundsätzliche Zweifel an der Kriegsführung der Regierung hinzu, dazu die Verzweiflung darüber, dass die in den Händen der Hamas verbliebenen Geiseln noch immer nicht wieder frei sind.
Für Ben-Ari steht neben alledem ein Thema im Fokus, über das in Israel nur wenig gesprochen wird: „Das Leid in Gaza hat ein Ausmaß erreicht, für das es keine Rechtfertigung mehr gibt“, sagt er. „Ich habe lange geglaubt, dass dieser Krieg richtig ist. Aber er ist ein Verbrechen.“
Ben-Ari sitzt in einem Café in der Tel Aviver Innenstadt und schüttelt nachdenklich den Kopf. Monatelang habe er nach dem Schock des 7. Oktober darum gekämpft, als Reservist in die Armee zurückzukehren, erzählt er. Trotz einer Verletzung am Fuß, trotz der Warnungen seines Arztes. Als er schließlich mit einer Kampfeinheit in den Süden Libanons gehen durfte, sei er glücklich gewesen. „Es hat sich vertraut angefühlt, wieder eine Waffe in der Hand zu halten“, sagt er mit einem bitteren Lächeln und deutet mit den Armen den Griff um ein Gewehr an. Die ersten sechs Wochen seien gut verlaufen, die Erfolge im Kampf gegen die Hizbullah hätten ihm Aufwind gegeben. „Vor meinem ersten Einsatz in Gaza war ich hoch motiviert“, sagt Ben-Ari. Doch dann kam sein Bild ins Wanken.
„Es war völlig wahrlos“
Der junge Israeli kramt sein Handy hervor und scrollt durch die Fotogalerie. Sandfarbene Trümmerberge sind dort zu sehen, eingestürzte Häuser, menschenleere Schotterpisten. „In den israelischen Medien konnte man lange nur wenige Bilder aus Gaza finden. Als ich diese Zerstörung mit eigenen Augen sah, war ich vollkommen geschockt“, erzählt er über seine Zeit im Netzarim-Korridor. Mehrere Wochen lang half er, das von Israel kontrollierte Gebiet im Zentrum des Küstenstreifens zu überwachen und die wenigen noch stehenden Gebäude abzureißen. „Es war völlig wahllos“, sagt er und imitiert mit barschem Ton die Befehle der Kommandeure: „Macht dies kaputt, macht das kaputt.“ Eine Begründung dafür habe es nur selten gegeben.
Um seine Erlebnisse zu verarbeiten, begann Ben-Ari, Tagebuch zu schreiben. Die Zeitung „Haaretz“ veröffentlichte später Auszüge daraus. „Diese Woche habe ich ein Flüchtlingslager per Drohne überwacht“, steht da zum Beispiel. „Hier backt ein Mann Pitas. Neben ihm schläft ein Mann auf einer Matratze. Wie kann ein Mensch inmitten eines solchen Grauens aufwachen und die Kraft finden, aufzustehen, Nahrung zu finden und zu versuchen zu überleben? Welche Zukunft bietet ihm die Welt? Hitze, Fliegen, Gestank, schmutziges Wasser. Ein weiterer Tag vergeht.“
Bei Ben-Aris zweitem Einsatz, diesmal im Philadelphi-Korridor, waren seine Zweifel bereits größer geworden. Gerade hatte Netanjahu zum wiederholten Mal ein Waffenstillstandsabkommen mit der Hamas platzen lassen, die Berichte über Kriegsverbrechen der Armee häuften sich. Dann gingen die Bilder der 15 Sanitäter um die Welt, die nahe Rafah von israelischen Soldaten erschossen wurden. „Was zur Hölle machen wir hier eigentlich?“, habe er sich gefragt.
Doch bei seinen Kameraden sei er damit auf wenig Verständnis gestoßen. Die Stimmung in der Truppe gegenüber den Palästinensern sei zunehmend radikaler geworden, erzählt Ben-Ari. Um Regeln hätten sich die meist jungen, von monatelangen Kämpfen ausgezehrten Männer kaum noch geschert. Parolenartig habe er den Satz „Es gibt unschuldige Palästinenser in Gaza“ wiederholt – wissen wollte davon keiner etwas. Ben-Ari streift sich mit der Hand über den kahlgeschorenen Kopf. „Die Armee ist zu einer Miliz geworden“, sagt er dann. „Krieg ist ein dreckiges Geschäft. Er macht die Menschen kaputt.“
Eine Demonstration gegen Netanjahu
Als Netanjahu im März dieses Jahres verkündete, eine weitere Großoffensive zu starten und ganz Rafah einzunehmen, platzte dem Israeli der Kragen. „Es gab strategisch überhaupt keine Rechtfertigung mehr dafür“, sagt er. „Netanjahu ging es nur noch um seinen eigenen Machterhalt.“ Es ist ein Thema, das Ben-Ari in Rage versetzt. „Völliger Wahnsinn“ sei es, dass der Ministerpräsident sich ernsthaft hinter den Plan Donald Trumps stelle, die Bevölkerung Gazas in andere Länder umzusiedeln. Ähnlich stehe es um die Äußerungen von Netanjahus rechtsreligiösen Koalitionspartnern, die etwa fordern, die palästinensische Bevölkerung auszuhungern. „Ich habe lange ein Problem mit Begriffen wie ethnischer Säuberung oder Genozid gehabt“, sagt Ben-Ari. „Aber mittlerweile spricht die Regierung ihre Pläne ja völlig unverhohlen selbst aus.“
Es ist dunkel geworden in Tel Aviv, die Straßen um das Café haben sich mit zahlreichen Israelis gefüllt. In den Händen tragen sie Flaggen und Protestplakate gegen Benjamin Netanjahu, auf den T-Shirts prangen Fotos der in Gaza verbliebenen Geiseln. Ben-Ari mischt sich unter die Demonstranten, doch sein Blick ist skeptisch. Es sei gut, dass mittlerweile so viele Menschen den Krieg offen ablehnen, findet er. Das Leid der Palästinenser im Gazastreifen spiele bei alledem aber noch immer kaum eine Rolle. Den Druck, der mit den wöchentlichen Protesten auf die Regierung ausgeübt werde, hält er ohnehin für begrenzt. „Netanjahu ist das doch völlig egal“, sagt Ben-Ari. „Wahrscheinlich müssen ihm wirklich erst die Kämpfer ausgehen, damit er diesen Krieg beendet.“
Auch ein Angehöriger der Luftwaffe hat genug
Die Einschätzung des Israelis teilen nicht nur viele derjenigen, die in den vergangenen Monaten am Boden gekämpft haben. Auch in der Luftwaffe scheint sich langsam Skepsis auszubreiten. Etwa 1000 ehemalige und aktive Reservisten der „Speerspitze“ der israelischen Armee unterzeichneten im April dieses Jahres einen offenen Brief gegen den Krieg in Gaza. Einer von ihnen war Amit, der eigentlich anders heißt.
Der 59 Jahre alte Israeli sitzt auf einem Sofa in seiner Wohnung in Ramat Aviv, einem Vorort von Tel Aviv, und blickt zerknirscht aus dem Fenster. Gerade hat er seinen Sohn verabschiedet, der an diesem Abend nach einer mehrwöchigen Pause zurück auf seine Militärbasis fahren wird. Wie so oft kam es beim Abschied zum Streit. „Sie machen einen gefährlichen Job“, sagt Amit über die Einheit seines Sohnes, die für die Entschärfung von explosivem Material zuständig ist. Immer wieder sterben israelische Soldaten bei dieser Arbeit, erst vor wenigen Wochen wurden vier junge Männer in Rafah getötet, weil sie auf eine Sprengfalle traten. Doch Amits Unbehagen rührt nicht nur von der Sorge um seinen Sohn her. „Es ist falsch, diesen Krieg weiter zu unterstützen“, sagt auch er. „Der Einzige, dem wir damit jetzt noch helfen, ist Benjamin Netanjahu.“
Dass er seinen Sohn, selbst ein scharfer Kritiker des Ministerpräsidenten, davon nicht überzeugen konnte, macht Amit zu schaffen. Theoretisch drohen Verweigerern empfindliche Strafen bis hin zur Verhaftung, in vielen Fällen drücken die zuständigen Kommandeure jedoch ein Auge zu. Beobachter sehen darin den Versuch der Regierung, das wachsende Problem herunterzuspielen und größere Aufmerksamkeit zu vermeiden. Amit vermutet aber ohnehin andere Beweggründe hinter der Entscheidung seines Sohnes: „Als Teil einer Armeeeinheit fühlt man sich verantwortlich für sein Team“, sagt er. „Es ist nicht leicht, zu Hause zu sitzen, während die eigenen Freunde ihr Leben riskieren.“ Das Militär sei für die meisten Israelis ein fester Bestandteil der eigenen Identität, die Kameraden seien fast wie Familienmitglieder. Amit atmet langsam aus, dann schweift sein Blick zurück zum Fenster. „Er will sie nicht im Stich lassen“, sagt er dann. „Wer könnte ihm das verübeln.“
„Ich habe meinen Beruf geliebt“
Das Verständnis für den Entschluss seines Sohnes hat auch mit Amits eigener Geschichte zu tun. „Ich habe meinen Beruf geliebt“, sagt er und blättert durch ein Bilderalbum, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Dann zeigt er auf ein altes Foto, das ihn als jungen, uniformierten Mann in einem Kampfflugzeug zeigt. Stolz lächelt der damalige Luftwaffenpilot darauf in die Kamera, neben sich seine kleine Tochter, die zu Besuch auf die Militärbasis gekommen war. „Ich war immer bereit dazu, mein Land gegen die Feinde Israels zu verteidigen“, sagt er. „Es gibt Kriege, die geführt werden müssen. Aber das, was jetzt in Gaza passiert, hat damit nichts mehr zu tun.“
Auch Amit hatte das nach dem 7. Oktober noch anders gesehen. Nach dem brutalen Terrorüberfall der Hamas meldete er sich zum Reservedienst, obwohl er aufgrund seines Alters nicht mehr als Pilot fliegen durfte. Gefragt waren seine Fähigkeiten trotzdem. 290 Tage war er seit Kriegsbeginn im Einsatz, übernahm die Koordinierung zwischen den Truppen am Boden und der Luftwaffe, gab das Kommando für einzelne Bombenangriffe. „Es war richtig, die Verantwortlichen für den 7. Oktober umzubringen“, sagt er bestimmt. „Meine Vorstellung, was mit diesen Terroristen passieren muss, hat keine Grenzen.“
Doch mittlerweile sei die Lage eine andere. Die Kommandostruktur der Hamas sei längst ausgeschaltet, militärisch gebe es für die Armee keine Ziele mehr zu erreichen. „Alles, was wir jetzt noch tun, bringt allein unsere eigenen Leute in Gefahr“, sagt Amit. „Wir haben schon jetzt viel zu viele verloren. Das alles muss aufhören.“
Mit den „eigenen Leuten“ meint Amit nicht nur die mehr als 800 israelischen Soldaten, die seit Kriegsbeginn im Gazastreifen und in Libanon getötet wurden. Vor allem spielt er damit auf die israelischen Geiseln an, die bis heute nicht aus dem Gazastreifen zurückgekehrt sind. Netanjahus Beteuerungen, nur militärischer Druck auf die Hamas könne zur Befreiung der Verschleppten führen, hält er für eine Lüge. „Das Gegenteil ist der Fall“, sagt Amit. Die Lage in Gaza sei so unübersichtlich geworden, dass die Armee das Leben der Geiseln durch ihre Einsätze nur noch weiter gefährde.
Auch Amit spricht über das Leid der Palästinenser, wenn auch betont an nachgeordneter Stelle. „Kollateralschäden sind Teil eines Krieges, so furchtbar das ist“, sagt er. Die Zehntausenden Zivilisten, die seit dem 7. Oktober durch israelische Angriffe getötet wurden, hält aber auch er für zu viele. „Ein Kind ist ein Kind ist ein Kind“, murmelt er leise. Dann kommt er auf einen Vorfall im Gazastreifen zu sprechen, der ihn noch immer beschäftigt.
„Ich wollte gerade den Befehl für einen Luftschlag geben“, erzählt der schmale Mann über einen Einsatz aus dem vergangenen Jahr. Per Drohne habe er das Gebiet um einen Zielort überwacht, an dem sich ein gesuchtes Hamas-Mitglied aufgehalten habe. Dann aber seien plötzlich zwei spielende palästinensische Jungs mit einem Fußball um die Ecke gebogen. „Offiziell hätte der Angriff trotzdem stattfinden dürfen“, erklärt er und verweist auf die Vorgaben der Armee, die je nach Zielperson genau vorgeben, wie viele zivile Opfer für eine Tötung in Kauf genommen werden dürfen.
In dem beschrieben Fall hätte die Ranghöhe des gesuchten Terroristen den „Kollateralschaden“ gerade noch gerechtfertigt. Amit aber entschied sich anders. „Ich beschloss, die Kinder doppelt zu zählen und so einen Abbruch der Aktion herbeizuführen“, sagt er. Dann macht er eine längere Pause, bevor er weiterspricht. „Ich hoffe, dass nicht alles schlecht war, was ich getan habe. Aber mein Einsatz für diese Regierung ist zu Ende.“