Die BRICS-Gruppe ist größer und damit komplexer geworden. Das hat sich beim Gipfeltreffen in Rio de Janeiro am Sonntag und Montag gezeigt, dem ersten mit Beteiligung der sechs neuen Mitglieder. Auch Gastgeber Brasilien und dessen Präsident Luiz Inácio Lula da Silva dürfte das nicht entgangen sein. Das Forum der Schwellenländer, an dessen Gründung er 2009 selbst mitgewirkt hat, war einst die große Bühne für Lula und ein einzigartiges Netzwerk zu anderen aufstrebenden Volkswirtschaften außerhalb der westlichen Industrieländer. Auch heute ist es noch von Bedeutung für die brasilianische Außenpolitik. Doch nicht nur das internationale Szenario, sondern auch die Gruppe selbst hat sich in den vergangenen Jahren nicht zum Guten verändert, zumindest aus brasilianischer Sicht.
Zu den Gründungsmitgliedern Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika sind – vor allem auf Druck Chinas und Russlands – sechs neue Länder hinzugestoßen, die das Gleichgewicht der Gruppe verschoben haben, die Exklusivität der Gruppe mindern und damit die relative Macht Brasiliens schmälern. Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Äthiopien, Indonesien und Iran sind nun Vollmitglieder, wodurch die Demokratien innerhalb des Blocks in die Minderheit geraten sind. Mit Russland und Iran sind zwei der Mitglieder zudem in Kriege verwickelt, was die Legitimität der Gruppe schwächt und ihre Handlungsfähigkeit einschränkt.
Mehr als einen Tag sollen die Unterhändler vor dem eigentlichen Beginn des Gipfels mit der iranischen Delegation über den Wortlaut eines Paragrafen der am Sonntag unterzeichneten Abschlusserklärung verhandelt haben. Es ging um eine Verurteilung der Angriffe auf Iran sowie des Krieges in Gaza. Die BRICS-Staaten hatten sich immer für die Zweistaatenlösung zwischen Israel und Palästina ausgesprochen. Nun befindet sich ein Mitglied in ihren Reihen, das Israel nicht anerkennt. Nach dem Verhandlungsmarathon lenkte das Neumitglied zwar ein und unterzeichnete die Abschlusserklärung, die sich für „die Errichtung eines souveränen, unabhängigen und lebensfähigen Staates Palästina innerhalb der international anerkannten Grenzen von 1967“ ausspricht. Zum Punkt der Zweistaatenlösung hat Iran jedoch seine Ablehnung angemeldet, die separat in der Erklärung vermerkt werden soll.
Russland wird nicht als Aggressor benannt
In der Eröffnungsrede verlieh Lula dem Thema dann noch seine eigene Würze, indem er das Vorgehen Israels im Gazastreifen abermals als einen Völkermord bezeichnete. Absolut nichts rechtfertige die von der Hamas verübten terroristischen Aktionen, sagte Lula, aber man könne nicht gleichgültig bleiben gegenüber „Israels Völkermord in Gaza und der wahllosen Tötung unschuldiger Zivilisten und dem Einsatz von Hunger als Kriegswaffe“. Lula verurteilte überdies die „Verletzungen der territorialen Integrität“ Irans, wie Brasilien es bereits im Fall der Ukraine getan habe, und forderte die beteiligten Parteien auf, den „direkten Dialog im Hinblick auf einen Waffenstillstand und einen dauerhaften Frieden“ zu vertiefen. Außerdem machte Lula die NATO für ein neues „Wettrüsten“ verantwortlich, das die „Angst vor einer nuklearen Katastrophe“ wiedererwecke.
Russland als Aggressor beim Namen zu nennen, stand nicht in Lulas Skript und auch nicht explizit in der Abschlusserklärung. Die diesjährige Erklärung ist in diesem Punkt praktisch eine Kopie der letztjährigen, in der an die „nationalen Positionen“ in Bezug auf den „Konflikt in der Ukraine“ erinnert wird. Die Neuheit der diesjährigen Erklärung bestand in der Erwähnung der Friedensvorschläge, die von der Afrikanischen Friedensinitiative und der „Gruppe der Freunde für den Frieden“, der Brasilien und China angehören, ausgearbeitet wurden. Das Dokument kritisiert überdies die Verhängung einseitiger Sanktionen ohne Unterstützung des UN-Sicherheitsrates. „Wir bekräftigen, dass die BRICS-Mitgliedstaaten keine Sanktionen verhängen oder unterstützen, die nicht vom UN-Sicherheitsrat genehmigt wurden“, heißt es in dem Dokument.
Sollte Wladimir Putin Beifall geklatscht haben, bekam das niemand mit. Der russische Staatschef konnte nicht nach Rio reisen, da er verhaftet und an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ausgeliefert worden wäre, wo er wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine angeklagt ist. Aus anderen Gründen, die Anlass zu Spekulationen gaben, war auch sein chinesischer Amtskollege Xi Jinping nicht zum Gipfel nach Brasilien geflogen, ebenso jene Staatschefs aus Ägypten und Saudi-Arabien, weswegen der Gipfel von vielen Beobachtern als „leer“ betitelt wurde. In Abwesenheit ihrer Staatschefs erklärten China und Russland dennoch erstmals explizit „ihre Unterstützung für die Bestrebungen Brasiliens und Indiens, eine relevantere Rolle in den Vereinten Nationen, einschließlich ihres Sicherheitsrats, zu spielen“, wie in der Abschlusserklärung festgehalten ist. Mit einer Reform des Sicherheitsrates würde die „Stimme des globalen Südens“ gestärkt. Die explizite Unterstützung wird als Erfolg für die brasilianische Diplomatie gewertet.
Der Reformgeist ist eingeschlafen
Die Reformen der internationalen Institutionen stehen am Ursprung der BRICS-Gruppe, die ein Jahr nach der Finanzkrise von 2008 gegründet wurde. Der gemeinsame Nenner war damals, dass die Schwellenländer insbesondere in den Finanzinstitutionen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) unzureichend vertreten seien und diese einer Reform unterzogen werden müssten. Die Zusammenarbeit zwischen den Ländern der Gruppe hat sich seither in vielen Bereichen vertieft. Doch der Reformgeist ist etwas eingeschlafen. Unterdessen haben die BRICS-Staaten in Gestalt der „Neuen Entwicklungsbank“ (NDB) mit Sitz in Schanghai ihre eigene Finanzinstitution gegründet, die im Vergleich zu IWF und Weltbank jedoch noch ein Kleinkind ist.
Für Aufsehen – vor allem in Washington – sorgt weniger das Gewicht, sondern mehr die Strategie der NDB, Finanzierungen zunehmend in den jeweiligen Lokalwährungen der Länder zu vergeben. Auch die Verwendung von lokalen Währungen bei Transaktionen innerhalb der BRICS-Gruppe ist ein Thema, wenngleich ein heikles. Im vergangenen Jahr drohte US-Präsident Donald Trump damit, Zölle gegen die BRICS-Länder zu verhängen, sollten sie Mechanismen entwickeln, um die Verwendung des US-Dollars zu verhindern. Vor allem Russland, aber auch Iran sind daran interessiert, da die Sanktionen ihren Zugang zum internationalen Finanzsystem beeinträchtigen. Putin, der per Videoschaltung an der geschlossenen Sitzung teilnahm, verteidigte die Verwendung nationaler Währungen und ein unabhängiges Zahlungssystem innerhalb der BRICS-Staaten. Das unipolare System der internationalen Beziehungen, das den Interessen der sogenannten „goldenen Milliarde“ diente, gehöre der Vergangenheit an, sagte er.
Auf mehr Verständnis über den „globalen Süden“ hinaus dürfte die von den BRICS-Staaten geäußerte Kritik an Trumps Zollkrieg stoßen, wenngleich Brasilien und Indien auch in diesem Punkt auf eine vorsichtige Sprache bedacht waren. Die Zunahme handelsbeschränkender Maßnahmen drohe, den Welthandel weiter zu reduzieren, heißt es in der Erklärung. Die Kritik richtet sich sowohl gegen „wahllose Erhöhungen von Zöllen“ wie auch gegen Formen von „Protektionismus unter dem Deckmantel von Umweltzielen“. In der Erklärung wird die Stärkung der Welthandelsorganisation als Institution für die Beilegung internationaler Handelsstreitigkeiten verteidigt.
Ein neues Thema, das Eingang in die Diskussionen der BRICS-Gruppe gefunden hat, ist die Regulierung der Künstlichen Intelligenz. So fordern die Mitgliedstaaten in ihrer Erklärung einen globalen Ordnungsrahmen für KI, die „potenzielle Risiken mindern und die Bedürfnisse aller Länder, einschließlich des globalen Südens, erfüllen muss“, heißt es. Auch diese Position steht im Widerspruch zur US-Regierung sowie zu amerikanischen Technologiekonzernen, die sich gegen die Regulierung von KI aussprechen.
Gerade bei Themen wie dem Klimaschutz oder der Gesundheit, die an diesem Montag behandelt werden, könnten die BRICS-Länder, die fast die Hälfte der gesamten Weltbevölkerung und einen wachsenden Anteil des weltweiten Bruttoinlandprodukts repräsentieren, einen wichtigen Beitrag für die Welt leisten oder gar eine federführende Rolle spielen und damit das von der Trump-Regierung hinterlassene Vakuum teilweise ausfüllen. Doch die Erweiterung der Gruppe hat es nicht einfacher gemacht. Die Abschlusserklärung des BRICS-Gipfels spiegelt die unterschiedlichen Interessen wider, die die Mitgliedstaaten in dieser Gruppe verfolgen, und macht deutlich, wie schwierig es ist, in einem expandierenden multilateralen Forum Fortschritte zu erzielen.
Was für die einen eine Plattform der Kooperation für globale Themen ist, ist für andere ein Netzwerk für Handelsbeziehungen, ein Machtinstrument oder lediglich der einzige Ausweg aus der internationalen Isolation. Viele Beobachter erachten die latente oder bisweilen offene antiwestliche Rhetorik, die von einigen Mitgliedern geschürt wird, als kontraproduktiv für die Legitimität der BRICS-Gruppe, da sie jenen recht gibt, die sie lediglich als Gegenspieler des Westens sehen.