Warum die Hamas eine Abwicklung der GHF fordert

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„Wir waren nur auf der Suche nach etwas Essen, um zu überleben, und wir kehrten verwundet zurück – mit dem leblosen Körper meines Sohnes.“ So fasste Adel Abu Schanab zusammen, was geschah, als er zu einem der Verteilzentren für Lebensmittel im Gazastreifen zu gelangen versuchte. Der Bericht des 51 Jahre alten Palästinensers wurde vom „Palästinensischen Zentrum für Menschenrechte“ aufgenommen. Demnach ging Abu Schanab am 14. Juni mit seinen drei Söhnen und weiteren Verwandten zu dem Verteilzentrum, das die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) in der Nähe des Netzarim-Korridors in der Mitte des Küstenstreifens errichtet hatte.

Er war schon zuvor dort gewesen. Seit Kriegsbeginn hatte Abu Schanab sich und seine Familie in Nuseirat mithilfe internationaler Organisationen über Wasser gehalten. Nachdem deren Versorgung im Frühsommer dieses Jahres aufgrund der israelischen Blockade ausfiel, nahm er notgedrungen das Angebot der GHF in Anspruch. An jenem Samstag war die Gruppe gegen Mitternacht aufgebrochen und etwa zwei Kilometer nach Norden marschiert. Sie hatte Netzarim fast erreicht, als sie aus mehreren Richtungen beschossen wurde. Erst von Truppen, dann von einem Hubschrauber.

Abu Schanab, der verwundet wurde, versuchte seine Blutungen mit Fetzen seiner Kleidung zu stillen, als er sah, dass sein 24 Jahre alter Sohn Wissam regungslos am Boden lag. „Er war von Splittern in den Rücken getroffen worden und war tot.“ Da die anderen verwundet waren, mussten sie die Leiche vorerst zurücklassen. Später kehrten zwei von ihnen zurück und brachten Wissams toten Körper nach Hause.

„Das Land des Todes“

Solche und ähnliche Berichte gibt es immer wieder, seit Israel das neue Verteilsystem für Lebensmittel eingerichtet hat. Nicht jeder lässt sich überprüfen, aber viele Geschichten ähneln einander, und die Zahl der Opfer geht inzwischen in die Hunderte. Laut Angaben der – teils von der Hamas kontrollierten – Gesundheitsbehörden in Gaza wurden seit Ende Mai mehr als 750 Menschen in der Nähe der GHF-Zentren erschossen, und es gab mehr als 5000 Verwundete.

Ein Palästinenser nennt diese Zentren „das Land des Todes“, eine andere spricht mit einem englischen Wortspiel anstatt von „humanitären“ von „Erniedrigungszonen“. Denn diejenigen, die es bis zur Ausgabe der Lebensmittelpakete schaffen, berichten von Chaos, Gedränge und von harscher Behandlung durch das private Sicherheitspersonal. Die Bewaffneten „versuchen, uns unsere Menschlichkeit zu nehmen und uns zu Wesen zu machen, die niedriger stehen als Tiere; ohne Ordnung, ohne Moral, ohne alles“, schrieb ein Palästinenser Anfang Juni in sozialen Medien. Die Hilfesuchenden seien „Skelette von Hungrigen, die um jeden Krümel kämpfen, an den sie gelangen können, selbst wenn er aus der Hand ihres Mörders kommt“.

Ist das Ende dieses Systems jetzt in Sicht, keine zwei Monate nachdem es eingeführt wurde? Die Hamas will, dass die GHF abgewickelt wird. Seit Sonntag verhandeln Vertreter der islamistischen Organisation und israelische Emissäre in Qatar indirekt miteinander. Es geht um den amerikanischen Entwurf für ein neues Gazaabkommen. Die Hamas fordert in mehreren Punkten Änderungen und Klarstellungen. Einer davon sind die Hilfslieferungen.

Die Hamas verlangt, dass nur die UN und andere etablierte Organisationen Hilfsgüter in den Gazastreifen bringen und dort verteilen. So war es, bevor die GHF ins Spiel kam. Die israelische Seite hatte zuvor über Monate behauptet, dass die Hamas einen großen Teil der Hilfslieferungen abzweige. Die Hilfsorganisationen wiesen das zurück – und die Armee selbst soll den UN bestätigt haben, dass es bei Transporten durch deren Agenturen keinen solchen Missbrauch gebe.

„Militarisierung humanitärer Hilfe“

Das Argument, dass die Hilfsgüter vornehmlich der Hamas zugutekämen, nannte die israelische Regierung auch als Grund, als sie Anfang März die Versorgung des Gazastreifens komplett blockierte. Zwei Monate später präsentierte sie aufgrund von zunehmendem internationalem Druck die GHF als Lösung für das Problem. Auch wenn die zu Jahresbeginn gegründete Organisation in der Schweiz als Stiftung registriert ist, handelt es sich um eine amerikanisch-israelische Initiative. Allein sie, hieß es, sollte die Versorgung mit Lebensmitteln übernehmen – mit einem neuen Konzept: Die Hilfsgüter sollten nicht mehr im Gazastreifen verteilt werden – sondern die Menschen sollten sie sich abholen. Vier riesige Verteilzentren versprach die GHF zu eröffnen, für die Versorgung von jeweils 300.000 Menschen – und später weitere.

Schon bevor die GHF ihre Arbeit aufnahm, wurde Kritik laut. Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen kritisierten zum einen, dass junge, alte, schwache und verletzte Menschen Kilometer marschieren sollten, um Hilfe zu erhalten. Selbst im besten Fall könnten zudem nicht alle der etwa 2,3 Millionen Menschen versorgt werden. Zum anderen sprach sie von einer „Militarisierung humanitärer Hilfe“. Denn für Logistik und Sicherheit in ihren Verteilzentren bedient die GHF sich privater Sicherheitsfirmen – mit anderen Worten: Söldnern. Praktisch alle Hilfsorganisationen kündigten an, sich nicht an dem System zu beteiligen.

Schon am zweiten Tag, dem 27. Mai, wurden Palästinenser, die zu einem der Verteilzentren nahe Rafah kamen, von Soldaten beschossen – es gab mehr als 60 Tote. Zwei Tage zuvor war der geschäftsführende Direktor der GHF, Jake Wood, zurückgetreten. Laut der Begründung, die der frühere amerikanische Marinesoldat nannte, war ihm klargeworden, dass es unmöglich sein werde, die „humanitären Grundsätze der Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit“ einzuhalten.

Ausgelastete Krankenhäuser

Seither ist die GHF nicht aus den negativen Schlagzeilen gekommen. Ihre vier Verteilzentren liegen in Gebieten, für die die Armee „Evakuierungsanordnungen“ erteilt hat – Zivilisten dürfen sich dort normalerweise nicht aufhalten. Drei sind im Süden des Gazastreifens, um die Stadt Rafah – dort, wo die israelische Regierung die Bevölkerung des Gazastreifens konzentrieren will, wie Verteidigungsminister Israel Katz am Montag ankündigte. Die Zentren sind in der Regel weiträumig mit Stacheldraht abgesperrt. Für die äußere Sicherung sind israelische Soldaten zuständig, für den Innenbereich GHF-Sicherheitspersonal. Tausende kommen regelmäßig dorthin, um innerhalb der kurzen, oft kurzfristig verkündeten Öffnungszeiten Lebensmittel zu ergattern. Die GHF zeichnet das als Erfolgsgeschichte: Mehr als 66 Millionen Mahlzeiten habe man seit Ende Mai verteilt, teilte sie am Dienstag mit.

Allerdings eröffnen Soldaten zahlreichen Berichten zufolge immer wieder das Feuer auf Menschen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) teilte am Samstag mit, ihr Krankenhaus in Rafah sei seit Ende Mai praktisch täglich zu mehr als hundert Prozent ausgelastet, weil es von Patienten mit Schusswunden überwältigt werde. 2200 derart Verwundete habe man seit dem 27. Mai behandelt, mehr als 200 seien gestorben. Innerhalb eines Monats habe es mehr massenhafte Vorfälle von Schusswaffenverwundungen gegeben als im gesamten Jahr zuvor, schrieb das IKRK. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen kommentierte kürzlich, die Palästinenser würden „zu der Wahl gezwungen, entweder zu verhungern oder für minimale Vorräte ihr Leben zu riskieren“. Das System der GHF sei ein „als humanitäre Hilfe getarntes Massaker“.

Die Armee gibt mit Blick auf die Toten und Verwundeten in der Regel an, es habe Bedrohungen gegeben. Bislang ist ein Fall von einem offenen Angriff auf ein GHF-Zentrum bekanntgeworden: Am Samstag wurden zwei Granaten auf GHF-Sicherheitsbedienstete geworfen, zwei Amerikaner wurden verwundet. Die Hamas wies den Vorwurf zurück, hinter dem Angriff zu stecken. Einige Tage zuvor hatte die Zeitung „Haaretz“ israelische Soldaten zitiert, die von Befehlen berichteten, auf harmlose unbewaffnete Gruppen zu feuern, um sie fernzuhalten. Die Armee und die Regierung wiesen den Bericht vehement zurück. Ein Armeesprecher beschuldigte die Hamas, sie übertreibe die Zahlen der Toten, sagte zugleich aber, die GHF-Zentren seien eine „komplexe Herausforderung“ und man werde „aus jedem Vorfall Lehren ziehen“.

Die GHF wiederum wies einen Bericht der Nachrichtenagentur AP aus der vergangenen Woche zurück. Darin waren Videos enthalten, die laut Angaben von AP von zwei GHF-Sicherheitsbediensteten stammen. Zu sehen ist, wie in Richtung von Palästinensern geschossen wird, die sich in einem engen mit Zäunen abgesperrten Korridor befanden. Auf einem Video sind Männer zu hören, die einander auf Englisch anfeuern. Die GHF teilte anschließend mit, es werde nicht mit scharfer Munition auf Zivilisten in den Verteilzentren geschossen. Auch diese Angabe lässt sich nicht unabhängig beurteilen, da die GHF Journalisten keinen Zugang zu den Verteilzentren gewährt – so wie das israelische Militär seit Kriegsbeginn keine Journalisten unabhängig im Gazastreifen arbeiten lässt.