Jede Abkürzung zum Erfolg ist ihnen recht – im Studium, im Beruf, in der Liebe. Die Gründer von Cluely provozieren und gehen damit viral. Das Silicon Valley liebt sie schon jetzt.

Mit ihrem provokanten Marketing wollen die Gründer von Cluely das Schummeln in jeder Beziehung normalisieren. Auch bei der Partnersuche soll der Nutzer der App ungeniert auf versteckte Hilfe zugreifen.
Chungin «Roy» Lee ist verärgert. Es ist Anfang Jahr, der 21-Jährige studiert Computerwissenschaften an der elitären Columbia University und träumt von einem Job bei Big Tech. Wer bei Apple, Google oder Amazon arbeiten will, braucht meist zuerst ein Praktikum. Um eines zu ergattern, muss Lee eine Hürde überwinden: das gefürchtete «technical interview».
Bei diesem Test müssen Bewerber in einem Videoanruf schwierige Programmieraufgaben lösen. Lee steckt 600 Stunden in die Vorbereitung, wie er sagt. Aber er findet die Testfragen unnötig kompliziert und realitätsfern. Im Job würde er bestimmt ganz andere Fähigkeiten brauchen.
Dann kommt Lee eine Idee. Er erfindet Interview Coder, eine Art KI-gestützten Spickzettel, mit dem er sich bei Amazon durch das «technical interview» schummelt. Die App macht einen Screenshot der gestellten Aufgaben und liefert die Antworten in Echtzeit. Dabei bleibt sie für Lees Gegenüber unsichtbar, obwohl er seinen Bildschirm teilt. Der Amazon-Ingenieur fällt darauf herein und bietet Lee ein Praktikum an.
Doch Lee lehnt das Angebot ab, wie er später auf Tiktok behauptet. Er habe nur zeigen wollen, wie absurd das Bewerbungsverfahren sei. Lee hat den Test live aufgezeichnet und veröffentlicht bald darauf das Video auf Youtube. Seine Uni leitet sofort ein Disziplinarverfahren gegen ihn ein. Lee wird für ein Jahr vom Studium ausgeschlossen.
I just got kicked out of Columbia for taking a stand against Leetcode interviews.
Here’s the whole story (long thread): pic.twitter.com/Q7LPWjwyA7
— Roy (@im_roy_lee) March 27, 2025
Gemeinsam mit seinem Kommilitonen und Mitentwickler Neel Shanmugam beschliesst Lee, das Studium ganz abzubrechen und den Interview Coder zum Produkt zu machen. Ihr Ziel: «das viralste Startup der Welt» zu schaffen. Den Verweis aus seiner Uni schlachtet Lee auf X aus. Der Post dort erreicht allein Millionen von Ansichten. Auch das Video des Amazon-Tests wird innerhalb weniger Tage rund 100 000-mal aufgerufen und dann von Youtube gelöscht. Lee prahlt auch auf Instagram und Tiktok damit, wie er mit seinem KI-Flüsterer die Interviewer anderer Firmen überlistet habe. Die «New York Times» interviewt ihn. Im Netz feiern ihn viele als Helden, der die Tech-Giganten blossstelle. Andere verachten ihn als Schwindler.
Vergleiche mit Taschenrechnern und Rechtschreibhilfen
Auf der Basis von Interview Coder gründen Lee und Shanmugam im April das Startup Cluely. Und auch das Werbevideo zum Launch wird millionenfach angeschaut. Darin lügt Lee mithilfe der App bei einem Date über sein Alter und sein Kunstwissen. Die App hilft zwar noch nicht bei Live-Gesprächen, aber die Ambitionen der Gründer werden im Video klar.
Eines Tages soll man mit Cluely auch beim romantischen Rendez-vous schummeln können.
Das Versprechen von Cluely klingt so einfach wie unmoralisch: schummeln bei allem. «Wenn alle schummeln, schummelt niemand», heisst es im Manifest auf der Website der Firma. Die Zukunft werde nicht Anstrengung, sondern Hebelwirkung belohnen. «Wenn es einen schnelleren Weg zum Sieg gibt, werden wir ihn gehen.»
Wer ehrlich ist, hat schon verloren, liest man da zwischen den Zeilen. Die Cluely-Macher vergleichen ihre App mit Taschenrechnern oder Rechtschreibkorrekturen. Auch diese seien zunächst als unredliche Hilfsmittel hingestellt worden. Mit der Zeit habe man sich aber daran gewöhnt.
Der Cluely-CEO Chungin «Roy» Lee (Mitte) und sein Mitgründer Neel Shanmugam (links) brachen das Studium ab, um eine App zu entwickeln, die «schummeln bei allem» möglich machen soll.
Anders als Chatbots, die für einen Aufsätze schreiben und Hausaufgaben erledigen, bietet Cluely Unterstützung in Echtzeit. Die App sieht und hört, was der Nutzer wahrnimmt, und flüstert ihm dann wie ein Geist die richtigen Antworten zu.
Die Schummel-App passt zur Mentalität des Silicon Valley
Zwei kluge Entwickler, die ihr Studium an einer Elitehochschule aufgeben, um mit einer provokanten Idee ein Startup zu gründen: Das erinnert an Bill Gates, Mark Zuckerberg und Sam Altman. Das Schummel-Startup passt zum inoffiziellen Motto des Silicon Valley, «Ask forgiveness, not permission», das sich auch Uber oder Airbnb schon auf die Fahne geschrieben haben.
Alle grossen Tech-Firmen hätten ihm Jobangebote gemacht, behauptet Lee im Podcast «Hard Fork», weil sie jemanden mit seinem Mindset gerne in ihren Teams wollten.
Die Empörung, die den Cluely-Gründern online entgegenweht, ist gewollt – «rage bait» ist Teil ihres Kalküls, Wut wird zum Lockmittel. Mit ihren provokanten Statements schaffen Lee und Shanmugam etwas, das nur wenigen Startups gelingt: Aufmerksamkeit zu generieren und aus der Masse an Jungfirmen, insbesondere solchen mit KI-Bezug, herauszuragen. Das beeindruckt Investoren derart, dass das Startup gemäss «Techcrunch» nun mit 120 Millionen Dollar bewertet wird.
Bei ihnen gebe es nur zwei Positionen, sagte Lee jüngst im Podcast «Sourcery»: Influencer und Ingenieure. «Entweder baust du bei uns das Produkt, oder du sorgst dafür, dass es viral geht.» Jeder Nicht-Ingenieur im Team habe mindestens 100 000 Follower in einem sozialen Netzwerk. Statt Millionen für Meta- und Google-Werbung auszugeben, setze man «einen Haufen 18- bis 21-jähriger hirnverbrannter Teenager ein, die genau wissen, was für Zeug viral geht». Cluely beschäftigt angeblich 50 Praktikanten, gemäss der Website zahlt man den Ingenieuren unter ihnen 200 Dollar Stundenlohn.
Der Top-Investor des Silicon Valley gibt 15 Millionen Dollar
Diese Aufmerksamkeit beginnt sich nun auszuzahlen: Immer mehr Kunden geben die 20 Dollar monatlich für Cluelys Premium-Angebot aus; die KI-Chatbots von Google und Open AI kosten genauso viel. Mit den derzeitigen Abonnentenzahlen erwartet Cluely einen Umsatz von 7 Millionen Dollar für das laufende Jahr – verblüffend viel für ein so junges Startup.
Das macht auch Investoren hellhörig. Mit Andreessen Horowitz hat gerade einer der renommiertesten Risikokapitalgeber der USA 15 Millionen Dollar in Cluely investiert. Die Erwartung sei, heisst es vonseiten der Investoren, dass das Startup dank seiner Bekanntheit nun auch die besten Mitarbeiter anziehe, die wiederum immer neue und bessere KI-Produkte entwickelten.
Seitdem Geldgeber eingestiegen sind, hat sich der Tonfall etwas gemässigt: «Alles, was du brauchst, bevor du danach fragst. Es fühlt sich wie schummeln an», heisst es nun auf der Webseite. Man umgarnt nun gezielt Firmenkunden: Cluely sei ideal für Verkaufsgespräche am Telefon, im Kundendienst und bei digitalen Mitarbeiterschulungen.
Startups versuchen nun, die Schummel-App doch zu enttarnen
Kritiker bemängeln, dass Cluely nichts Innovatives enthalte. Die App sei bloss eine Hülle, hinter der die Chatbots etablierter KI-Anbieter die echte Arbeit verrichteten. Der Analyst Chriss Ross von der Marktforschungsfirma Gartner sagte jüngst, dass es beeindruckend sei, wenn man mit einem Hype auf sich aufmerksam machen könne, «aber es kommt der Punkt, an dem man liefern muss». Es gebe viele Beispiele von Firmen, die einmal ein gutes Narrativ gehabt, aber dann kein Produkt geliefert hätten.
Die Cluely-Fans loben hingegen die Benutzeroberfläche, die den KI-Assistenten flexibel und unaufdringlich in die Arbeitsumgebung am Bildschirm einbinde. Für Lee selbst sind die Tricks, dank denen die App unsichtbar für Dritte bleibe, die grösste technische Leistung.
Ob Cluely beim Schwindeln wirklich verborgen bleibt, könnte sich bald zeigen: Mehrere Softwarefirmen haben Produkte lanciert, die die Schummel-App aufspüren sollen. Der Gründer Lee tut sie alle als zwecklos ab. Cluely werde schon bald in Hardware eingebaut sein, behauptet er – in smarten Brillen, in Halsketten mit eingebautem Mikrofon oder gar in Gehirnimplantaten. Spätestens dann könne man Cluely sicher nicht mehr entlarven.